Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

4. Sonntag nach Trinitatis, 19. Juni 2005
Predigt über Genesis 50, 15-21, verfasst von Monika Waldeck
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Wenn Eltern sterben, dann ist es oft aus mit dem Frieden unter den Kindern.

Dann beginnt der Streit ums Erbe, sei es groß oder klein, dann wird gekämpft mit Klauen und Zähnen und wenn gar nichts mehr geht, sieht man sich vor Gericht wieder.

Manchmal erscheint eine solche Entwicklung für die Beteiligten verblüffend, denn jeder schien seinen Platz im Leben gefunden zu haben.
Vorher konnte man sich nicht vorstellen, welche Verletzungen aus der Kindheit wieder aufbrechen würden, welche alten Geschichten sich plötzlich wiederbeleben und an Größe gewinnen könnten.
Da geht es um Schuld und Zurückweisung, um Neid und Eifersucht, um Hass- und Rachegefühle.
Und nicht selten entzweien sich Familien nach dem Tod der Eltern über Erbstreitigkeiten für immer.
Vielleicht kennen Sie solche Situationen aus dem Bekanntenkreis oder der eigenen Familie.

In unserem Bibeltext heute entfaltet sich eine Szene, in der eben diese Angst vor den Folgen des Todes des Vaters thematisiert wird.
Manche von Ihnen werden die in der Bibel über viele Kapitel erzählte spannende Familiengeschichte von Jakob und seinen Söhnen im Gedächtnis haben.

Jakob hatte 12 Söhne, einer davon, Josef, Kind seiner Lieblingsfrau Rahel, war sein Lieblingssohn.
Aus Eifersucht darüber warfen ihn seine Brüder in einen Brunnen und verkauften ihn in die Sklaverei nach Ägypten, wo ihn ein hoher Hofbeamter des Pharao erwarb.
Am ägyptischen Hof machte Josef mit Gottes Hilfe einen steilen Aufstieg zum Hausverwalter, wurde dann jedoch aufgrund der Machenschaften der verliebten Frau des Hofbeamten ins Gefängnis geworfen.
Wieder war Gott mit ihm, denn er konnte zwei beunruhigende Träume des Pharao deuten, wonach 7 fette und 7 magere Jahre über Ägypten kommen würden.
Mit diesem Wissen traf der Pharao Vorsorge und baute riesige Kornspeicher, die in den Dürrejahren Hungersnöte vom Volk abwendeten und den umliegenden Völkern ermöglichten, in Ägypten Getreide zu bekommen.
Auch Jakob schickte seine Söhne nach Ägypten, Korn zu kaufen, denn in Israel wütete der Hunger. Josef erkannte seine Brüder und versuchte herauszubekommen, ob sie immer noch die Egoisten seien, für die er sie früher gehalten hatte.
Er ließ Benjamin, den jüngsten Bruder als Dieb verhaften und erklärte, ihn als Sklaven halten zu wollen.
Nun kam der entscheidende Augenblick: die Brüder baten darum, an Benjamins Stelle als Sklaven genommen zu werden, da sie wußten, dass der Jüngste ihrem Vater am meisten am Herzen lag. Da freute sich Josef und lud alle ein, in Ägypten zu leben.
Nachdem aber der Vater Jakob gestorben war, wuchs in den Brüdern erneut Angst vor Josefs Rache:

(Gen 50, 15-21 lesen)

"Na also", denken Sie vielleicht: "diese Erzählung geht gut aus, so sollte es unter vernünftigen Menschen sein".
Unser Gerechtigkeitsempfinden ist zufriedengestellt.

Aus dem Abstand heraus, im Rückblick auf einen Lebensabschnitt kann man manchmal sehen, was zum Frieden nötig ist, Versöhnung, Aufeinanderzugehen, Vergebung der alten Schuld aus Kindertagen.
So ist es auch bei Josef, der in seiner Familiengeschichte Gottes Lenkung erkennt.
"Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen."

Aber wie ist es, wenn wir selbst betroffen sind, Sie oder ich, wenn wir mitten drin stecken in einem Schuldkonflikt, in einem Streit in der Familie z.B., wenn das Gefühl vorherrscht, ich komme zu kurz, ich werde übersehen, mir geschieht Unrecht?

Schauen wir noch mal auf unsere Erzählung.
Seit unseren Kindergottesdiensttagen wird uns Josef als gut und edelmütig geschildert, die Geschwister dagegen als egoistisch und eifersüchtig.
Und tatsächlich war es hinterhältig und gemein, den ungeliebten Bruder aus Neid und Eifersucht in den Brunnen zu werfen und seinem Schicksal in der Sklaverei zu überlassen. Ihn loszuwerden, weil der Vater ihn mehr liebte als sie. Eine schwere Schuld haben die Söhne auf sich geladen.
Nicht zu Unrecht befürchten sie eine späte Rache des Bruders nach dem Tod des Vaters.

Dennoch: sie mussten früher wohl oft zurückstehen hinter dem bevorzugten Kind, das schöne Geschenke bekam, während sie hart arbeiteten.
Das sich vorstellte, wie Eltern und Brüder sich vor ihm beugten und verneigten. Ein Kind, das sich für grandios hielt.
Es sind schlimme Kränkungen der Geschwister, die sich hier widerspiegeln.

Das führt mich zu der Frage nach der Rolle Jakobs, des Vaters in diesem Familiendrama.
Zwar prägen Eltern ja gern den Satz, dass sie alle ihre Kinder immer gleich behandeln würden, aber die unter Ihnen, die mit Geschwistern groß geworden sind, wissen, dass das eine Illusion ist.
Immerhin drückt sich darin das Bemühen von Eltern aus, ihren Kindern gerecht werden zu wollen.

Aber hier, in unserer Geschichte?
Was ist das für ein Vater, der ein Kind so bevorzugt, die anderen so zurücksetzt, dass sie über Mord und Vertreibung des Bruders nachdenken und schließlich ihren Plan in die Realität umsetzen?

Einseitige Schuld scheint es hier nicht zu geben.
Hilft uns das in unseren Familiengeschichten?

Mitten im Ehestreit, im Konflikt um das Sorgerecht für die Kinder, in der Auseinandersetzung um das Erbe der Eltern will und kann man oft nur die eigene Seite sehen, die Angst, zu kurz zu kommen, die feindseligen Gefühle gegenüber den vermeintlich bevorzugten Familienmitgliedern beherrschen einen.
Es sind tiefe, archaische Gefühle, die sich da Bahn brechen.

Und sie sind nicht nur negativ.
Mit ihnen machen wir schon als Säuglinge unsere ersten Erfahrungen von Individuation, z.B. im Schreien des Kindes, wenn die Mutter das Zimmer verlässt.
Mit ihrer Hilfe bilden wir unser Ich in der Pubertät, denn sie helfen, von den Eltern wegzugehen und auf eigenen Füßen zu stehen.
Sie ermöglichen uns im Erwachsenenleben, uns für unsere Rechte einzusetzen und unsere Grenzen zu spüren.
Allerdings: Aggressionen können negativ und zerstörerisch werden.

Dann braucht es Hilfe von außen, um einen Weg zur Vergebung zu finden, eine Lösung zu erreichen.
Die biblische Geschichte lehrt uns, dass wir dabei auf Gottes Hilfe rechnen können.

Wie war das bei Josef?
Arrogant und verwöhnt schien er in jungen Jahren gewesen zu sein.
Aber dann saß er im tiefen Brunnen. Im Dunkeln, auf sich selbst zurückgeworfen, alleingelassen mit der Angst vor dem Tod.
Er erlebte Sklaverei und Demütigungen, schließlich Gefängnis in Ägypten, saß wieder im Loch. Das Leben ging nicht mehr verwöhnend mit ihm um.
So hat er gelernt, ist weitherzig geworden, weise und reif.
Er erkennt für sich, wie Gott ihn geleitet hat auf seinen Wegen.
Er möchte sich mit seiner Familie aussöhnen und tut es.

Wir haben ebenso Möglichkeiten, aus unseren „dunklen Löchern“, aus unseren inneren Gefängnissen herauszukommen.
Wenn ich nicht mehr weiterweiß, mich gefangen fühle in einem familiären Konflikt , in Gefahr gerate, nur noch meine Interessen und nicht mehr die meines Gegenübers zu sehen, kann ich mich an eine Ehe- oder Erziehungsberatung wenden oder das Gespräch mit einem Pfarrer/einer Pfarrerin suchen.
Ein Dritter ist dann nötig, um die Sackgasse verlassen zu können.

Und ich kann beten.
Allein und in Gemeinschaft.
So wie heute morgen hier in der Kirche, dem Ort, an dem mir persönlich das Beten oft leicht fällt.
Hierher kann ich meine Fragen, meine Angst, meine Sorgen, meinen Dank und meine Freude tragen.
In der Nähe zu den anderen Betern und Beterinnen erscheint mir Gott manchmal besonders nahe.
Ich erhoffe mir Antwort, möchte hineingenommen werden in das heilende Handeln Gottes, in seinen Segen.
Und ich weiß seit seinem Heilhandeln an Jesus Christus, dass er sich nicht verschließt.

So vertraue ich darauf, dass auch in meinem oder in Ihrem Leben geschehen kann, was Josef mit den Worten ausdrückt: "Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen."

Amen.

Monika Waldeck, Studentenpfarrerin
waldeck.esg-wiz@ekkw.de


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