Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

3. Sonntag nach Trinitatis, 12. Juni 2005
Predigt über Lukas 15, 1-10, verfasst von Anders Gadegaard (Dänemark)
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Man diskutiert zur Zeit recht oft, auf welche Werte wir unsere Gesellschaft und unsere Kultur bauen. Was besitzen wir, das etwas Besonderes für uns ist, besonders kostbar, etwas, worauf wir nicht verzichten wollen, wenn wir fremden Impulsen begegnen? Oft verweist man dann auf das Christentum in unserer protestantischen lutherischen Ausgabe und fragt wieder: Gibt es hier Werte, die unser Land, unsere Kultur in besonderem Maße charakterisieren?

Die Antwort ist einfach: Ja, es gibt sie – und heute haben wir mit den zwei wunderbaren Gleichnissen zu tun mit dem vielleicht wesentlichsten Wert überhaupt: dem unendlichen Wert des einzelnen Menschen. (Nebenbei bemerkt: Ich will keineswegs behaupten, dass wir als Christen das Patent auf diesen Wert besäßen, aber er drückt sich in Jesu Leben und Lehre klarer aus als irgendwo sonst.)

- Was ist ein Mensch? Wann entsteht ein Mensch? Eine Diskussion mit weitreichenden Folgen. Zwei Zellen begegnen sich und werden zu eíner Zelle – vielleicht das sublimste Liebeserlebnis zwischen Mann und Frau – oder vielleicht aus der Untat eines Gewaltverbrechers – oder aus einem Experiment in einem Laboratorium?? Was ist ein Mensch? Ein Geschöpf, das aus Liebe, aus Gewalt oder aus wissenschaftlicher Forschung entstanden ist? Sind wir mehr als die Kaulquappen, die die Gräben füllen und millionenfach sterben, wenn die Sonne das Wasser verdampfen lässt? – Kann man deshalb so viel von unserem Menschenmaterial, wie wir nur wollen, erforschen, aufbewahren, verwenden – oder gilt hier ein anderer Maßstab, weil der Mensch kein Material ist, sondern ein Ziel für alle unseren ethischen Überlegungen?

In diesem Zusammenhang sollen wir die Erzählungen des heutigen Tages hören. Gott der Herr ist wie die Hausfrau, die mit klopfendem Herzen und zitternden Händen umhergeht, um nach der verlorenen Münze vom Haushaltsgeld zu suchen, die weggekommen ist; sie sucht und sucht und sucht, bis sie sie findet – und da bricht sie in großen Jubel aus, ruft die Nachbarn herbei und lädt zu einem spontanen Fest ein. – So sehr kümmert sich Gott der Herr um jedes einzelne Menschenkind zu allen Zeiten! Ein schwindelnder, unfassbarer Gedanke! Der reine Wahnsinn, die größte Naivität, wenn man bedenkt, wie das Leben in der Welt ist, wo es viel eher so aussieht, als ginge es darum, Menschen loszuwerden. Wie nie zuvor wird heute in die Kriegsmaschinerie investiert – und dann soll das alles ja auch in der Welt der Wirlichkeit getestet werden. Während das Einzige, das bald gar nichts mehr kostet in der Welt, ein Mensch ist. Und sein Wert wird bald danach bestimmt.

Deshalb sollen wir auf diesen grundlegenden christlichen Wert festgelegt werden: den Glauben an den göttlichen Wert des einzelnen Menschen. Das ist der Glaube Jesu. Und deshalb ist es auch in seinem Geist, alles zu tun, um einen jeden Menschen zu beschützen und bewahren, ungeachtet wie krank, wie alt, wie klein, wie arm, wie schwach er sein mag. Ungeachtet seiner Hautfarbe, seines Geschlechts, seiner Begabung. – In diesem Zusammenhang sind die Menschenrechte zu sehen als eine der entscheidenden Bemühungen unserer Zeit, einer Ethik zu folgen in Übereinstimmung mit der christlichen. – Jedesmal, wenn ein gefährdeter Mensch auf Mitgefühl trifft und Hilfe empfängt, freut Gott sich. Und jedesmal wenn ein Mensch etwas auf Kosten Anderer erreicht, durch Sünde und Betrug, nur im Gedanken an die eigenen Interessen, leidet Gott darunter und wird er zornig. Wer Schwarzarbeit leistet, um zugleich sein Arbeitslosengeld zu bekommen, lebt davon, Andere zu betrügen. Ebenso wie derjenige, der die Verantwortung für die öffentliche Sozialhilfe hat, dem nicht hinreichend zu Hilfe kommt, der die Hilfe am meisten nötig hätte.

Noch einmal: Ist es nicht hoffnungslos naiv, so vom Wert, der Würde und der Verantwortung des einzelnen Menschen zu reden, wenn wir sehen, wie das Leben in der Welt ist? Bedeutet das nicht, dass man sich selbst in die Gefahr begibt, hoffnungslos hinters Licht geführt und betrogen zu werden, wenn wir uns die Wirklichkeit ansehen, von der wir doch ein Teil sein sollen? – Das kannst du sagen, und viele werden das sagen. Aber die Frage ist doch, ob du dich damit nicht dem viel hoffnungsloseren Wahnsinn auslieferst, dass die Welt und die Wirklichkeit nur so ist, wie sie sich unmittelbar darstellen: Hart, kynisch, ungerecht.

Aber Jesus, Jesus war nicht auf das aus, was die Augen sehen und was der Verstand einem sagt. Er entlarvte die Unfruchtbarkeit in der Weisheit der Welt – und ging hinauf in die Berge, um allein zu sein. Und dort, in der Stille und Einsamkeit, sprach er mit seinem Gott. Und aus der Tiefe hörte er die Stimme des Ewigen: Denk daran: genauso sehr, wie eine arme Frau nach einer verlorenen Drachme sucht und sucht – und jubelt, wenn sie sie findet, genauso freut sich mein Herz über jede einzige kleine Menschenseele, die geschaffen worden ist. – Und Jesus ging wieder hinab und erzählte das Gleichnis – und machte Gottes Wort zu Wirklichkeit, verborgen für das Auge, aber sichtbar für das Herz.

Viele sagten: Hoffnungslos naiv, jeden Menschen als unendlich wertvoll zu betrachten angesichts der Welt, wie sie ist. Während für andere Menschen diejenige Stimme, die die beiden Gleichnisse von der leidenschaftlichen Liebe Gottes zu jedem einzelnen kleinen Menschen erzählte, das wahre Fundament der Hoffnung und des Lebensmutes ist. Denn so gibt es eine Hoffnung für uns alle. Hoffnung, geliebt zu sein, gefunden und auf den rechten Weg geleitet zu werden. Geleitet zu werden und Frieden geschenkt zu bekommen. Gnade zu erlangen. So verlockend und verheißungsvoll und bereichernd ist diese Stimme des Widerspruchs in der Welt, dass sie nie etwas gehört haben, das vergleichbar wäre – und dass sie jetzt nicht mehr leben können, ohne daran als an die Wahrheit über das Menschenleben zu glauben. Deshalb streben sie – wir! – hier in die Kirche, in die Gemeinschaft der Glaubenden, um zu hören, dass, während man dort draußen mit Menschen als Mittel und Material rechnet, der Herr der Welt, der Lebenspender, einen jeden Menschen – und d.h. auch dich und mich – als ein Ziel an sich betrachtet. Ein heiliges, unverletzliches Ziel.

Will man etwas Klares darüber sagen, was christlicher Glaube bedeutet, dann kann man mit anderen Worten sehr gut genau an dieser Stelle beginnen, nämlich mit diesen beiden kleinen Erzählungen. Jesus erzählte sie in einem bestimmten Zusammenhang. Es machten sich aber alle Zöllner und Sünder an Jesus heran, um ihn zu hören. Darüber entrüsteten sich die Pharisäer und Schriftgelehrten und sagten: „Dieser Mann nimmt Sünder auf und isst mit ihnen.“

Hier erhalten wir einen Eindruck davon, wer es war, der sich von der Verkündigung Jesu beeindrucken ließ und sich an ihn hielt: Alle Zöllner und Sünder – d.h. diejenigen, die dadurch reich wurden, dass sie für die römische Besatzungsmacht unter der sowieso schon ausgesaugten jüdischen Bevölkerung Steuern eintrieben und deshalb mit Recht von der Bevölkerung gehasst wurden. Und dann alle diejenigen, die Sünder waren, d.h. öffentlich zu Gesetzesbrechern im Verhältnis zum Gesetz Gottes erklärt waren und mit denen rechtgläubige Juden aus diesem Grunde keinen Umgang pflegen durften. Also alle diejenigen, mit denen niemand von der „guten Gesellschaft“ Umgang pflegen wollte. Aber Jesus erklärt hier, warum er genau bei denen seinen Platz hat, mit denen die Vornehmen, die Angesehenen nichts zu tun haben wollen.

Wenn einer von euch hundert Schafe hat und eines davon verliert, lässt er nicht die neunundneunzig in der Wüste zurück und geht dem verlorenen Schaf nach, bis er es findet? – Wohlgemerkt, Jesus ficht nicht das Recht der jüdischen Priester an, sich selbst als diejenigen zu verstehen, die bereits zu der Schar gehörten, zu den Gerechten, zu denen, die Gott wohlgefällig leben. Sondern er schildert einfach Gottes Liebe und Fürsorge all denen gegenüber, die aus irgendeinem Grunde nicht zu der Schar gehören – und er richtet damit natürlich auch einen Angriff auf die Verwaltung des Wortes Gottes durch die religiösen Führer, da sie nicht auf dieselbe Weise bereit sind, die, die draußen stehen, aufzusuchen, sondern im Gegenteil sich ausschließlich an die halten, die wie sie selbst ind. Ihre Eigenen.

Das ist doch einfach. Gott ist vor allem darauf aus, zu denen hinzufinden, die sich „draußen“ befinden. D.h. außerhalb der Liebe, Achtung, des Verständnisses anderer, d.h. zu allen Verzweifelten, allen Einsamen, allen Leidenden und Angsterfüllten. Ungeachtet, wie weit draußen in der Wüste sich ein Mensch befindet, Gott sucht nach ihm, bis er ihn findet, und bringt ihn zurück in sein Reich der Liebe. – So ist der Gott, an den wir glauben. Das zeigte er uns mit den Worten und Taten seines Sohnes. Wie wir gehört haben: Er nahm alle Zöllner und Sünder an. Über der Frau, die ihrer Unzucht wegen gesteinigt werden sollte, hielt er seine beschützende Hand. Den lächerlichen unsympathischen Landesverräter Zachäus besuchte er. Die Aussätzigen, die gezwungen waren, als Landstreicher außerhalb der Dörfer zu leben, heilte er. Die Dorfkinder, die den Leuten im Wege waren, nahm er zu sich und segnete er. Den Räuber, der am Kreuz hang und sterben sollte, nahm er mit sich ins Paradies. – So ist der Gott, an den wir glauben: er sucht einen jeden auf und nimmt sich seiner an, der verlassen ist oder irre gegangen ist in den öden Weiten seines Gemüts.

So provozierend ist diese ganz und gar kostenlose Liebe und Fürsorge von Seiten Gottes, dass sogar Evangelisten sich schwer damit tun können, zu begreifen, wie reich und tief und umfassend sie sind. Nach jeder der beiden kleinen Erzählungen lässt Lukas Jesus sagen: So groß wird die Freude im Himmel sein über einen einzigen Sünder, der umkehrt, größer als über neunundneunzig Gerechte, die nicht umzukehren brauchen. – Ja, aber es gab doch niemanden, der umkehrte! Es war ja einzig und allein die unermüdliche Suche des Hirten und der Witwe, die schließlich dazu führte, dass das Schaf oder die Münze gefunden wurde. Das Schaf tat gar nichts! Es befand sich in der Wüste, war verloren, wurde aber gefunden und wieder nach Hause getragen. So total ist Gottes Liebe und Fürsorge – und genauso total ist die Freude bei Gott, wenn es gelingt, uns, die Verlorenen zu finden. Es ist und bleibt schwer für uns, dass wir uns an diesen Gedanken gewöhnen, für uns, die wir uns am liebsten um das, was wir entgegennehmen, verdient machen wollen, damit wir wissen, womit wir zu rechnen haben. –

– Ja, aber habe ich denn überhaupt nichts zu leisten? Geschieht das alles ganz von selbst? – Wird Gott wirklich mit seiner Liebe und Gnade an uns festhalten, ungeachtet ob wir dazu beitragen oder nicht? Ist das Verhältnis zwischen Gott und Menschen wie zwischen einer Katzenmutter und ihren Jungen: wenn sie sich von Schlafplatz und Milchschale weg verirren, dann findet die Mutter sie, greift sie am Nacken und trägt sie nach Hause, ungeachtet was die Jungen tun mögen. Oder ist das Verhältnis nicht eher wie das zwischen einer Affenmutter und ihrem kleinen Kind: die Mutter trägt das Kind überall bei sich, füttert und beschützt es; das setzt aber voraus, dass sich das Affenkind selbst an der Mutter festklammert?

Wenn wir die Erzählung von dem verirrten Schaf ganz wörtlich nehmen, ist kein Zweifel möglich: Das Schaf wird auf die Schultern des Hirten gelegt und braucht sich um nichts mehr zu kümmern. Der Hirte hält das Schaf selbst fest, von dem Schaf wird nichts verlangt. Mit anderen Worten: es ist das Bild von der Katze und ihren Jungen, das hier passt. Die Gnade ist gratis, völlig gratis, nichts wird von dir verlangt! Genau deshalb taufen wir die Kinder, wenn sie noch ganz klein sind: Ein jeder kann verstehen, dass es ganz unangemessen wäre, wenn man etwas von einem Säugling verlangen würde, ehe man ihn taufte. Nein, Gottes Fürsorge für uns ist uns im Voraus gegeben. Von hier ist der unendliche Wert eines jeden Menschen für Gott gegeben.

Danach aber wird, weil wir von vornherein von der Liebe Gottes umfasst sind, von uns verlangt, dass wir dann auch in Übereinstimmung mit diesem gratis Geschenk leben. Gehe hin und sündige nicht mehr!, sagt Jesus immer wieder, nachdem er einen Menschen geheilt oder auf andere Weise von dem befreit hat, was ihn darin hinderte zu leben. An dieser Stelle kommt die „Umkehr“ zur Sprache. Indem wir von diesem Glauben ergriffen werden, sollen wir umkehren und seinen Wegen folgen. – Das Problem ist dann nur, dass all das Gute und Erfreuliche und Hoffnungsvolle, von dem wir sehr wohl wissen, dass es das gibt und dass wir selbst bei anderen und uns selbst dazu beitragen können – dass es nur so kurz dauert, ehe Leiden, Besorgnis, Fehler und Versagen wieder Macht über uns gewinnen. – Aber eben dann erkennt man, dass man selbst dem verirrten Schaf in der Einöde gleicht, das gefunden und wieder zu seiner Herde, zurück auf den rechten Weg gebracht werden muss. Immer wieder. Dass man nicht im Stande ist, selbst für seine Sicherheit zu sorgen, selbst zurechtzukommen – weil doch niemand von uns mehr als allenfalls in kurzen Augenblicken so lebt, wie er leben sollte.

So lasst es uns erkennen, lasst uns erkennen, dass wir alle auf einmal unendlich geliebt sind und unendlich wertvoll und alle zugleich noch sehr weit davon entfernt sind, etwas zu sein, was an Vollkommenheit erinnern könnte. Dass wir eben deshalb Gottes Annahme, seine Vergebung und Gnade nötig haben. Lasst das die Grundlage unseres Leben sein. Dann werden wir befreit sein von dem Gericht, dem Gericht über uns selbst und dem Gericht, das wir über andere halten.

Hat man auf diese Weise damit begonnen, seine Illusionen über sich selbst in Frage zu stellen, wird man demütig. Demütig und dankbar dafür, was einem dennoch geschenkt ist. Und damit auch stolz. Stolz darauf, das köstlichste Geschenk zu bekommen: die Liebe Gottes. Mit all dem im Rücken wäre es wohl möglich, dass man auch mild und nachsichtig, offen und zugänglich für andere ist.

Das also wird von uns verlangt: der Wille, die eigene Unzulänglichkeit einzusehen. Der Bedarf, in Liebe aufgesucht und gefunden und getragen zu werden. In dieser Einsicht sind wir alle gleichgestellt. Für manchen mag sich das von selbst ergeben – für andere mag es eine schwere Erkenntnis sein. Die Erkenntnis des Glaubens. In ihr öffnen wir uns, um das zu empfangen, wovon wir leben: Fürsorge, Mitgefühl, Liebe. Sie entspringt letzten Endes, ungeachtet wie sie uns dargereicht wird: durch Andere, in unserem Innern verborgen, sie entspringt der ewigen Quelle der Liebe: der Fürsorge Gottes für einen jeden von uns. Amen.

Dompropst Anders Gadegaard
Fiolstræde 8,1
DK-1171 København K
Tel.: ++ 45 – 33 14 85 65
E-mail: abg@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier

 


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