Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

3. Sonntag nach Trinitatis, 12. Juni 2005
Predigt über Lukas 15, 1-7, verfasst von Bernd Vogel
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


„Es nahten sich ihm aber alle Zöllner und Sünder, um ihn zu hören.
Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.
Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach:
Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eins von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er's findet?
Und wenn er's gefunden hat, so legt er sich's auf die Schultern voller Freude.
Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war.
Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen“ (Lukas 15,1-7).

Ich komme gern zu Jesus und höre mir seine Geschichten an.
Jedenfalls diese Geschichte höre ich gerne. Ich spüre, wie ich ruhig werde während ich zuhöre. Einen Frieden spüre ich. Ein „Ja“ spricht in mir. Ich höre es „Ja“ sagen. Ich sage „Ja“ zu der Geschichte. Tiefer noch: Jemand sagt „Ja“ zu mir.

Wegen dieser Geschichten ist Jesus nicht tot zu kriegen. Weil er diese und ähnliche Geschichten erzählt hat, hat man ihm im Herzen getragen durch die Jahrhunderte. Zu seinem „Gedächtnis“ haben wir seiner Geschichten gedacht. Geheimnisvoller Zusammenhang: Indem Christen und andere IHN verehrten, ehrten sie sich auch selber gleich mit. Als Gottes Kinder. Meinetwegen als „verlorenes Schaf“. Aber als wichtig gesehen. Angesehen. So sehr, dass 99 andere „Schafe“ in der „Wüste“, in der gefährlichen und trostlosen Einöde eine Zeit lang ausharren müssen – ohne IHN – während ER mir nachgeht.

Das ist der Traum des kleinen Kindes. Vater oder Mutter lassen alles stehen und liegen und kümmern sich um mich. Das kann neurotisch werden – diese Fixiertheit auf sich selbst, dieses Kreisen um das eigene kleine Leben. Mensch, wer bist du denn in der Fülle der Schöpfung, in der Unzahl der Wesen?

Schon das kleine Kind muss darum auch die Grenze spüren. Es muss lernen – leidvoll lernen – dass es n i c h t im Zentrum des Interesses irgendeiner anderen Person steht. Jedenfalls nicht allein und nicht auf Dauer und niemals gleichbleibend stark. Sondern wenn mich jemand wert erachtet, im Mittelpunkt zu sein, dann immer wie andere auch vor mir und nach mir und neben mir. Dann immer nur für Augenblicke. Dann immer anzweifelbar. Niemals unbedingt. Immer bedingt durch andere, die auch da sind, bedingt durch Grenzen der Kraft und anderer Interessen.

Die Dramen der Liebe hängen mit diesem gebrochenen Verhältnis des Menschen zum Unbedingten zusammen. Niemals kann ich mir sicher sein, dass Mutter und Vater, dass Mann oder Frau, dass Freund oder Freundin mich wirklich unbedingt meint, vollständig und unbezweifelbar sich für mich interessiert um meiner selbst willen. Ich kann mir niemals sicher sein, dass mich jemand so vollständig liebt.

Darum habe ich vielleicht schon früh gelernt, wie ich Menschen, die mir wichtig sind, wenigstens zeitweise an mich binde. Ich habe meine Strategien. Liebe will auch erarbeitet sein, habe ich dabei erfahren. Liebe gibt es nur manchmal und nur sehr kurze erste Zauber-Zeit als Geschenk. Dann geht es schnell darum, dass zwei sich für einander als liebenswert erweisen. „Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft“ ist so eine Volksweisheit, die das bezeugt. „Beziehungsarbeit“ nennen es die Psychologen und Eheberater. Sie sagen: Ihr zwei könnt euch nicht hinsetzen und auf das Glück der ersten Augenblicke warten. Ihr müsst euch mit einander unterhalten. Ihr müsst lernen, eure Wünsche zu formulieren und euch gegenseitig zuzumuten. Ihr müsst damit umgehen können, dass ihr manchmal vielleicht eure Wünsche endlich kennt, aber noch lange nicht das bekommt, wonach ihr euch sehnt. Ihr müsst lernen, Kompromisse zu schließen und mit dem denkbar Zweitbesten zufrieden zu sein. Die Alternative wäre, dass ihr euch aufreibt im Versuch, „alles“ zu bekommen, was ihr euch wünscht. Ihr werdet euch selbst und andere damit überfordern. Ihr werdet schuldig werden an denen, die ihr lieben wollt und an euch selbst. Darum gebt euch zufrieden mit dem, was ihr erreichen könnt ohne allzu großen Schaden.“

Das ist die Wirklichkeit. Auch die romantischen Hollywood-Filme geben ihr letztlich Recht: Das große Glück ist immer nur für Augenblicke zu haben. Und niemals läuft es ohne Komplikationen. Oft muss sich jemand opfern für das Glück der anderen. Trotzdem gehen viele von uns in die Kinos, um wenigstens zwei Stunden lang die Illusion zu genießen, als gäbe es das auch für uns einmal: Das ganz große Glück, von jemandem unbedingt und ausschließlich so geliebt zu sein, dass wir mit ihm oder ihr aus dieser Wirklichkeit wie in den Himmel fahren – jenseits offener Fragen, jenseits der Wirrwarrs widersprüchlicher Wünsche und Kräfte.

„Es nahten sich ihm aber alle Zöllner und Sünder, um ihn zu hören ..“.
Warum wohl? Aus genau diesem Grund: Hat ER den „Himmel“ für uns“? fragen sie. Gibt es bei IHM einen Hinweis auf die unbedingte Liebe, die wir nur von fernem Hörensagen kennen?

Ist diese Liebe nur ein Gerücht? Eine billige Vertröstung für solche wie wir – ausgegrenzt aus dem Volk der rechtschaffenen und anständigen Bürger? Ist es „Opium für das Volk“, was er zu bieten hat – oder ist da etwas anderes, von dem wir bisher vielleicht noch nie sagen gehört haben?

Es hatte sich herumgesprochen, dass Jesus von Nazareth Menschen geheilt hatte ohne Berührungsängste. Da ging einer über feste gesellschaftliche Grenzen. Er brach auch schon einmal ihre Regeln, gar das Sabbatgebot. Er traute sich, mit Aussätzigen Gemeinschaft zu halten, mit Kollaborateuren der Römer wie den Zöllnern, mit Huren, die wiederum mit den Römern Kontakt hatten, mit kranken Menschen, die den Gesunden als von Gott gestrafte „Sünder“ galten.

Das war ungewöhnlich, ja wunderbar. Nun waren sie da, „um ihn zu hören“. Nur das. Was würde er zu ihnen sagen? Kein Geld wollten sie von ihm und keine Heilung. Nur seine Worte. Welche Erwartung! „Sie sind nicht fern vom Reich Gottes“ wird Jesus an anderer Stelle sagen. Wer so zu IHM kommt, um ihn zu hören, der gehört schon zum Reich Gottes dazu. Dessen Anfangsgründe sind ihm schon eröffnet.

Wenn ich also von IHM das Wort für mich erwarte – bin ich schon dabei. Schon gerettet. Das Wesentliche ist schon geschehen. Meine Sehnsucht ist wieder erwacht. Ich bin aufgewacht aus Gewohnheit und Dumpfsinn. Ich trete heraus aus dem Trott des Gewohnten. Bin nicht mehr wie ein Computerprogramm abspielbar, sondern ich selbst auf meinem Weg. Und so bin ich nun vor IHM. Und ER spricht. Zu uns. Zu euch. Zu mir.

Das ist den „Pharisäern und Schriftgelehrten“ damals wie heute ungeheuerlich. So einfach soll das gehen? Wir rackern uns ab, um auch nur ein Minimum vom Wort Gottes, von der Wahrheit zu verstehen. Wir studieren die Schriften über Jahrzehnte. Wir dachten 1000 Mal über die Lebensregeln nach und suchten den Willen Gottes zu ergründen. Und da kommt dieser Wanderprediger aus dem Dorf Nazareth und sagt: Wer mir gerne zuhört, der ist schon gerettet, der ist schon in der Wahrheit? Was für ein Quatsch! Volksverführung ist das. Dafür muss er büßen!

ER weiß, dass sie so denken. Er verurteilt das hier nicht. Er kennt es. Auch in ihm – stelle ich mir vor – gibt es den Zweifel. Die Stimme des Versuchers. „Sündlos“ ist Jesus nicht im Sinne von unberührbar, unverletzbar. Die Stimme der Angst ist auch in ihm. Die ihm zuflüstert: „Du bist nicht genug!“ „Du bist nicht unbedingt geliebt!“ „Darum befiehl, dass diese Steine Brot werden. Darum spring von der Zinne des Tempels. Darum mach dich zum Anführer einer bewaffneten Volksbewegung. D a n n werden sie dich lieben. Dann werden sie zu dir halten ohne Wenn und Aber. Dann wirst du endlich König sein in deinem Reich, im Frieden mit dir.“ Jesus kennt diese Stimmen in sich selber. Er kann sich vorstellen, wie sie bei den Pharisäern und Schriftgelehrten“ klingen: „Wenn dieser Mann aus Nazareth nun Recht hätte, wo kämen wir dann hin? Fällt dann nicht unser Lebensgebäude in sich zusammen? Ist dann nicht unser Glaube ungewiss? Haben wir dann nicht unsere Jahre unnütz vertan? Er darf einfach nicht Recht haben!“

Und so rechnet er hier nicht mit seinen Gegnern ab, sondern erzählt ihnen und den anderen, den „Gerechten“ und den „Sündern“ seine Geschichte vom Schaf und seinem Hirten.

In der San Callisto Katakombe in Rom, 30 Meter unter der Erdoberfläche ist mehrfach der gute Hirte abgebildet. Auf dem antiken Friedhof der ersten Christen in Rom. Der gute Hirte trägt das Schaf auf seinen Schultern. Er trägt es in diesem Leben und – das ist die Botschaft der Bilder und Skulpturen – Jesus Christus ist die unbedingte Liebe Gottes: Sie trägt dich auch über dieses Leben hinaus in das ewige Leben.

Woran menschliche Liebe letztlich immer scheitern muss, da trägt die göttliche Liebe weiter. Der Tod beendet die wunderbarste menschliche Liebe und alle mittelmäßigen Lieben. Die großen Gefühle und das treue An-einander-Festhalten trotz allen Rückschlägen und Enttäuschungen: Alles endet im Tod. Der Tod ist die erste und letzte Bedingung meiner Liebe und meines Geliebtseins.

Das kleine Kind weiß es zuerst noch nicht: Mutter und Vater können auch darum nicht unbedingt lieben, weil sie sterben müssen. Sterben müssen wie eines Tages das Kind selbst.

Jesus aber erzählt von der unbedingten Liebe Gottes. Er erzählt von der „Freude im Himmel“, die ausbricht über e i n e n von uns, der von IHM Gutes erwartet und ihn hören will. Diese Freude möchte mich erfüllen jetzt. Und dich. Auf ewig. Unbedingt.

Amen.

Bernd Vogel
Bernd.Vogel@evlka.de

 


(zurück zum Seitenanfang)