Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

1. Sonntag nach Trinitatis, 29. Mai 2005
Predigt über Lukas 16,19-31, verfasst von Niels Henrik Arendt (Dänemark)
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(Text der dänischen Perikopenordnung)

Es gibt so viele Menschen, für die wir nur einen verächtlichen Seitenblick haben, wenn wir auf unserer Türschwelle an ihnen vorübergehen. Wir verdienten eigentlich, dass Gott sich damit begnügte, uns Brosamen zuzuwerfen – stattdessen aber hat er uns in reichem Maße, ja, alles, was er hatte, gegeben, er hat uns mit guten Gaben gesättigt, er hat unsere dürstenden Seelen erquickt.

Wenn man eine gute Geschichte hört und sie richtig hört, versteht man sie in sich selbst, d.h. man tritt in die Geschichte ein, ja, man identifiziert sich vielleicht geradezu mit einer der in ihr auftretenden Personen. Am angenehmsten ist es, wenn man sich in den ”Helden” der Geschichte hineinversetzen kann. Aber das will nicht immer gelingen. So ist es mit der Erzählung vom reichen Mann und Lazarus – wir müssen mit uns selbst in sie hineingehen, um sie zu verstehen. Und diese Geschichte ist von der Sorte, bei der es nicht gelingen will, in die richtige Rolle hineinzuschlüpfen. Wir müssen uns ungewöhnlich stark drehen und wenden, wenn wir uns selbst in die Gestalt des Lazarus hineindrehen wollen, wohingegen sich die meisten von uns sicher ohne Schwierigkeiten die Rolle des reichen Mannes anziehen können.

Die Erzählung spielt sich eigentlich auf mehreren Ebenen ab. Aber gleichgültig, auf welcher Ebene wir sie hören, sie ist keine besonders angenehme Geschichte – für uns. Wenn wir sie ganz buchstäblich als eine Geschichte von Reichtum und Armut verstehen, kann jedermann hören, wie sich die Geschichte gegen die Gleichgültigkeitet der Reichen den Armen gegenüber richtet. Schon auf dieser Ebene berührt die Geschichte uns, ja, sie trifft uns wie ein Volltreffer. Denn einige von uns mögen zwar den Armen ein Weniges von unserem Reichtum zukommen lassen, aber das sind eben, akkurat wie im Gleichnis, Brosamen, die vom Tisch der Reichen fallen. So viel, dass sie die Armen so einigermaßen am Leben erhalten können – und nicht mehr. Es kann leicht trivial klingen, wenn man von der Kluft zwischen Reich und Arm in dieser Welt spricht – oder in unserer eigenen Gesellschaft; denn was können wir dagegen tun? Aber in Wirklichkeit ist es erschütternd, dass man es so lange und so oft hat sagen können, dass es einfach zu einer Trivialität geworden ist. Die Armen haben wir immer noch bei uns, und es sind noch immer Brosamen, mit denen wir sie abzuspeisen versuchen.

Natürlich kann es geschehen, dass man mit der Anklage der Erzählung auf dieser Ebene ins Reine kommt. Man ist ja wohl ein sozial engagierter Mensch, und die Reichen, das sind nicht wir, das sind Andere. Gelegentlich wird die Geschichte auf eine Art und Weise vorgetragen, die klar zeigt, dass der Erzähler selbst sich nicht besonders betroffen fühlt – es sind eben die Anderen, die auf der Anklagebank der Erzählung zu sitzen haben. Aber da setzt das Gleichnis mit einem tieferen Stoß ein. Und um den kommt nicht so leicht herum.

Ich möchte glauben, dass sich die Menschen, denen Jesus die Geschichte erzählte, zunächst nicht besonders betroffen gefühlt haben. Es waren Pharisäer, und sie konnte man nicht sozialer Verantwortungslosigkeit oder Gleichgültigkeit armen Menschen gegenüber zeihen. Sie kamen selbst aus den breiten (d.h. armen) Schichten der Bevölkerung, und sie waren ziemlich kritisch gegenüber den Wohlhabenden; sie hätten ihrerseits ohne weiteres ein ähnliches Beispiel anführen können. Aber gegen Ende zeigt Jesus, dass er auch an eine ganz andere Art von Reichtum denkt, wenn er von denjenigen spricht, die Moses und die Propheten haben, die aber dennoch ihre Nächsten nicht sehen können. Die Pharisäer legten großen Wert darauf, dass sie Moses und die Propheten hatten, in dem Maße, dass sie nur Verachtung hatten für die, die nicht dasselbe innerliche und reiche Verhältnis zum mosaischen Gesetz hatten. Sie fühlten in Wirklichkeit, sie besäßen eine Art Alleinanspruch auf die Religion – und Jesus erwiese den geistig Langsamen und moralisch Schlaffen unverdiente Ehre. Ihr seid wie der reiche Mann mit eurem üppigen geistigen Leben, sagt Jesus dann mit seiner Geschichte. Jetzt aber kommt das Reich Gottes zu all denen, für die ihr nur einen verächtlichen Seitenblick hattet: jetzt werden sie zu Gott gerufen. Welchen Vorzug habt ihr an eurer Monopolisierung von Moses und den Propheten? Auf diese Weise traf die Geschichte noch einmal, und zwar jetzt auch die, die zunächst geglaubt hatten, sie seien davongekommen, weil sie materiellen Reichtum nicht besonders hoch veranschlagten. Und dieser Stoß trifft auch uns. Denn zwar ist der religiöse Dünkel nicht mehr so verbreitet, das Gefühl, dass man kraft seines eigenen Glaubens weitaus höher rangiere als die anderen. Aber der Dünkel ganz allgemein lebt und gedeiht: gegenüber denen, die nicht mit der Zeit gehen, gegenüber den Naiven, gegenüber denen, die das Leben nicht meistern. Es gibt so viele Menschen, für die wir nur verächtliche Seitenblicke haben, wenn wir an ihnen vorbeigehen. Die Geschichte hinter der Geschichte trifft also auch uns.

Aber nun ist da in dem Gleichnis noch eine Geschichte verborgen. Das ist Jesu eigene Geschichte. So ist das mit allen seinen Gleichnissen, hinter ihnen liegt seine eigene Geschichte. Es heißt über die Brüder des reichen Mannes, es würde ihnen gleichgültig sein, wenn jemand von den Toten zu ihnen käme. Hier kommt Jesu eigene Geschichte in das Gleichnis. Die Frage an uns, die sich aufdrängt, heißt: hat es für uns etwas bedeutet, dass da einer von den Toten zu uns gekommen ist – Jesus Christus? Leben wir nicht genauso, wie wir immer gelebt haben? D.h. in einem Glauben daran, dass wir selbst das Leben zu meistern haben? Und wenn wir es nicht meistern, werden wir von tiefer Niedergeschlagenheit ergriffen. Wir verachten diejenigen, die das Dasein nicht meistern können, und wir sind recht unzufrieden mit uns selbst, wenn wir es auch nicht können. Aber das ist dasselbe, wie wenn man lebt, als käme alles auf uns an. Das heißt, zu leben, als wäre nicht einer von den Toten zu uns gekommen. Wenn wir uns gegenüber dem Tod nicht trösten lassen wollen oder wenn wir selbstzufrieden (oder verschreckt) so tun, als gäbe es ihn gar nicht, dann ist das ein Zeichen dafür, dass Vater Abraham in dem Gleichnis Recht hat: obwohl einer von den Toten zu ihnen käme, würden sie sich nicht überzeugen lassen.

Aber obwohl Abraham Recht hat und wir uns nicht wirklich haben verändern lassen – obwohl das Gleichnis ohne Lösung endet und wir damit enden, dass wir noch immer wie der reiche Mann und seine Brüder mit all unserem Reichtum dasitzen, aber ohne auch nur einen einzigen Tropfen, um unsere dürstenden Seelen damit zu erquicken, so endet Jesu eigene Geschichte an dieser Stelle nicht. Sie hätte damit schließen können, dass Gott sagte: wenn denn einer von den Toten zu ihnen käme, würden sie weiterhin genauso kalt bleiben. Aber jetzt geht die Geschichte weiter. Jetzt erhebt Lazarus sich dennoch vom Schoß Vater Abrahams. Und wir sehen, dass er die Züge Jesu trägt. Er kommt dennoch zu uns von den Toten, obwohl es scheinen könnte, als wäre es nicht der Mühe wert, wo wir doch vorzogen, von unserem eigenen Reichtum zu leben. Gott tat es dennoch. Für ihn war es der Mühe wert, ohne Rücksicht auf Zweifel und Unglaube bei den Menschen. Er sandte Christus zu uns von den Toten. Es ist zwar wahr, dass das in unserem Leben nicht mehr so sehr sichtbar ist. Die Auferstehungsfreude gibt es darin nur als Funken, der wieder verschwindet, und wir kehren zurück zu dem alten Leben, wo wir uns an unser Eigenes halten.

Deshalb müssen wir immer wieder hierher kommen, um von neuem dem Auferstandenen zu begegnen. Jeden Sonntag muss er die Reise über den tiefen Abgrund wieder zu uns tun, die wir schon am Montag wieder anfangen, auf unser Eigenes mit Wohlbehagen zu starren. Immer wieder muss er den Schritt über die Kluft tun, um unsere dürstenden Seelen zu erquicken. Wieder und wieder wird unser Hochmut und unsere Verzweiflung von uns genommen. In Dünkel wie in Mutlosigkeit bilden wir uns ein, alles sei beim alten, nichts sei verändert, wir hätten für uns selbst zu sorgen, ob wir es können oder nicht, und was Evangelium und Kirche betreffe, so mache das in unserem Leben nicht besonders viel aus. Deshalb können wir, solange wir leben, nicht damit fertig werden, zu hören, dass gerade das den großen Unterschied ausmacht. Einer ist von den Toten auferstanden. Und einst wird der Morgen erwachen, an dem die Wärme des Lebens endlich auch bei uns unseren Zweifel besiegen wird an ihm, der zu uns kam von den Toten, und unseren Glauben an uns selbst und an unsere Kälte den anderen gegenüber besiegen wird. Amen.

Bischof Niels Henrik Arendt
Ribe Landevej 37
DK-6100 Haderslev
Tel.: 74 52 20 25
E-mail: nha@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier

 


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