Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Pfingstsonntag, 15. Mai 2005
Predigt über Johannes 16, 5-15, verfasst von Dietz Lange
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Liebe Gemeinde!

Jesus ist im Begriff, Abschied zu nehmen. Die Jünger werden ihn nicht mehr sehen. Traurigkeit überfällt sie, und zugleich auch Angst vor dem, was nun werden soll. Das ist die Situation, die uns dieser Abschnitt aus dem Johannesevangelium vor Augen stellt. Wir können das unmittelbar verstehen. Wir wissen ja, wie das ist, wenn ein geliebter Mensch vor dem Sterben steht und es heißt, für immer Abschied zu nehmen. Da nimmt die Gemeinsamkeit des Lebens mit ihm ein jähes Ende - jäh auch dann, wenn ein Leidensweg dieses Ende lange vorausahnen ließ. So wurde damals den Jüngern der Abschied von Jesus schwer. Sie hatten einige Jahre lang ihr Leben mit ihm geteilt. Jetzt aber wird er bald in die bloße Erinnerung verschwinden. Die wird noch eine Weile lebendig bleiben, aber dann immer blasser werden. Die folgenden Generationen werden ihn schon nur noch aus Erzählungen kennen. Die Erzählungen werden sich im Lauf der Jahrhunderte verzweigen und verändern. Sie werden auch verfälscht werden: Man wird Jesus zum Sozialrevolutionär oder zum „neuen Mann“ machen, man wird ihn zum Kirchenfürsten oder zum weltlichen Machthaber erklären, ja sogar in seinem Namen Kriege führen. Auf der anderen Seite werden Christen um ihres Glaubens willen verspottet, verfolgt, gefoltert und getötet werden, bis in die moderne Zeit hinein. Und schließlich wird man Jesus auch schlicht vergessen, wie es in unserer westlichen Kultur heute weithin geschieht. Darum fragen auch wir, die heute an ihn glauben, mit den Jüngern, wie es mit uns weitergehen soll.

Das ist der dunkle Hintergrund des christlichen Glaubens, der von Anfang an zu ihm gehört hat. Er darf aus dem lichten Bild, das gerade das Johannesevangelium von der Gestalt Jeus malt, nicht wegretuschiert werden. Jesu Auferstehung macht seinen Kreuzestod nicht ungeschehen. Und unser Glaube hat oft alle Mühe, an Jesus festzuhalten. Er gleicht nicht einem selbstgewissen Triumphzug, sondern er muss sich ständig der Angriffe von außen, der eigenen Zweifelsfragen und oft genug auch der Lebensangst erwehren.

Umso verblüffender ist die Wendung, die Jesus selbst der Szene gibt: „Ich sage euch die Wahrheit - es ist gut für euch, dass ich weggehe.“ Wie das? Wäre es nicht besser gewesen, wenn er seine Sache sicher zum Erfolg geführt hätte? Warum hat er nicht eine Dynastie ins Leben gerufen und mit ihr eine Weltherrschaft errichtet, die für alle folgenden Jahrtausende menschlicher Geschichte sichtbaren Bestand gehabt hätte? Mit klaren Gesetzen und Vorschriften natürlich, welche die Menschen nötigen, bei der Stange zu bleiben?

Die Fragen sind verführerischer, als es auf den ersten Blick den Anschein hat - verführerisch beileibe nicht nur für Menschen, die unserem Glauben distanziert oder fremd gegenüberstehen, sondern gerade auch für sehr korrekte Christen und Theologen. Die ersehnte Weltherrschaft Christi muss ja nicht politisch oder gar militärisch sein. Sie ist geistiger Art. Das steht scheinbar ganz im Einklang mit Jesu Versprechen, er werde uns den heiligen Geist, also den Geist Gottes senden, der uns in alle Wahrheit führt. Dann brauchen wir nur, so scheint es, Stellvertreter Christi auf Erden. Die verfügen zwar nicht über äußere Machtmittel, aber dafür über seinen Geist. Sie wären dann in der Lage, der Christenheit und darüber hinaus der Welt klare und eindeutige Weisungen zu geben, was man zu glauben und wie man in jeder Lebenslage zu handeln hat.

Wer jetzt meint, mit diesen Anspielungen wäre auf durchsichtige Weise ein antikatholischer protestantischer Urinstinkt bedient worden, der braucht sich nur durch einen Blick auf die Wirklichkeit eines Besseren belehren zu lassen. Einmal finden wir unendlich viel katholische Frömmigkeit, der jeglicher Machtanspruch völlig fremd ist. Vor allem aber gibt es allzu viele protestantische Wahrheitsbesitzer, die anders denkende Christen wie Dummköpfe oder gar als böswillige Falschmünzer behandeln. Das kommt in allen kirchlichen und theologischen Lagern vor, bei so genannten Laien nicht weniger als bei professionellen Kirchenleuten.

In Wahrheit kann niemand den Heiligen Geist, den Geist Gottes besitzen - kein einzelner Mensch und auch keine kirchliche Institution. Die Apostelgeschichte, aus der wir vorhin ein Stück als Epistel dieses Sonntags gehört habe, spricht davon, dass der Geist Gottes auf die versammelte Gemeinde „ausgegossen“ wird. Er wird uns Menschen zuteil, und er bewirkt etwas bei uns: Er schafft Glauben und macht unser Gewissen frei. Aber er wird nicht unser Eigentum. Vielmehr können wir uns seiner Leitung nur stets aufs Neue anvertrauen, und er führt uns oft genug in Situationen hinein, die wir uns wahrlich nicht gewünscht haben.

Johannes macht dies alles mit einem Bild deutlich. Das ist das Bild von einem Gerichtsprozess. Es ist allerdings ein merkwürdiger Prozess. Er hat zwei ganz unterschiedliche Seiten. Die eine Seite steht deutlich sichtbar vor aller Augen. Das ist der Prozess, der Jesus gemacht wird und der zu seiner Verurteilung zum Tode führt. Er ist der Grund für den Abschied, von dem der verlesene Abschnitt spricht. Hier setzt sich die irdische Macht mit dem Mittel der Justiz durch. Der römische Prokurator fürchtet einen religiös motivierten Aufstand, den Jesus anzetteln könnte, und die jüdischen Priester, die mit Pilatus kollaborieren, fürchten den Verlust ihres Einflusses beim Volk. Die Welt siegt über Christus - so sah es damals aus, und auf ganz andere Weise scheint sich das heute wieder zu bestätigen: Abwanderung des Religiösen in die Esoterik, schleichende Abschaffung des Religionsunterrichts heute in Berlin, morgen vielleicht bei uns - vieles deutet in diese Richtung.

Aber der Prozess kehrt sich um. Das Recht der Macht wird desavouiert, auf den Kopf gestellt. Der Justizmord behält nicht das letzte Wort, und die Standgerichte der Diktaturen werden als verbrecherisch entlarvt. Das freilich ist die andere, die verborgene Seite des Prozesses Jesu. Vor Augen steht, dass die Blutrichter in eine neue Robe schlüpfen und weiter Recht sprechen. Und doch überführt der Heilige Geist sie des Unrechts und der Lüge: „Der Fürst dieser Welt ist gerichtet.“ Jesus, und mit ihm der ihn leitende Gott, überwindet den Tod, ist also dem Anschein zum Trotz gerade nicht erledigt, sondern der wahre Sieger.

Der uns davon innerlich überzeugt, ist der Heilige Geist, der „Tröster“, wie Luther übersetzt - richtiger: unser „Anwalt“. Was bedeutet das? Gottes Geist tut dasselbe, was Jesus für uns tut: Er vertritt uns vor Gott. Er ist die geistige Gegenwart Jesu selbst. Der Heilige Geist ist der Geist Gottes, der Jesus durchdrungen, geleitet, durch ihn gewirkt hat und weiter wirkt, heute bei uns, in uns. Er führt uns in alle Wahrheit. Wo wir nur tasten, oft auch irre werden an der Aufgabe, die Wahrheit zu erkunden und unseren Weg zu finden, da zeigt Gott uns durch seinen Geist den Grund, auf dem wir stehen können, und den Weg, der zum Ziel unseres Lebens führt.

Das ist der Grund, auf dem die Kirche errichtet ist - und nicht eine menschliche Rechtssetzung oder ein menschliches Amt. Gottes Geist macht sich von solchen Dingen nicht abhängig, auch wenn wir ohne sie als praktische Hilfsmittel nicht auskommen. Darum gilt das Versprechen, dass er uns vertreten und leiten wird, ganz unabhängig von dem aktuellen Zustand der Kirche. Ja, es ist richtig: Das Klima wird zur Zeit kälter für die Kirche, auch wenn das nur eine westeuropäische Perspektive ist. Umso mehr kommt es darauf an, dass wir uns ganz auf Jesu Zusage verlassen. Nur so kann unser Glaube zuversichtlich sein.

Zuversicht ist das Gegenteil von Angst. Ängstlich sind wir Christen, wenn wir aus Sorge um den Verlust gesellschaftlichen Einflusses jeder Modeform von Spiritualität unbesehen Tor und Tür öffnen. Ebenso ist es ein Zeichen von Ängstlichkeit, wenn wir nur einen ganz engen Rahmen von Rechtgläubigkeit und kirchlichem Leben zulassen und nichts Neues wagen. Beide Versuchungen sind für uns als heutige Kirche riesengroß. Aber geben wir einer von ihnen nach, so verschreiben wir uns dem Fürsten der Welt - und das ist der Fürst der Lüge.

Gottes Geist befreit uns von solchen Ängsten. Natürlich ist die Sorge um die Zukunft unserer Kirche nicht verboten. Sie ist ja begründet. Aber wenn wir ihr im Vertrauen auf Gottes Geist begegnen, dann tun wir das unerschrocken. Denn Gottes Geist macht uns innerlich frei. Er schenkt uns die Freude an Gott, wie es einer meiner Lehrer einmal ausgedrückt hat. Das bedeutet konkret: Profil zeigen - ohne faule Kompromisse, aber auch ohne Engstirnigkeit.

Die Stimmen, die in diese Richtung weisen, mehren sich zur Zeit in der Kirche. Angesichts der sich zuspitzenden finanziellen Lage heißt es da, wir müssten uns auf das „Kerngeschäft“ konzentrieren. Das ist allerdings noch reichlich formal, denn es bedeutet zunächst einmal nur, dass wir nicht in allen möglichen Töpfen rühren, sondern uns vorrangig um Verkündigung und Seelsorge kümmern sollen. Entscheidend ist aber das, worum es da in der Sache geht: dass wir uns uneingeschränkt von Christi Geist der Wahrheit und der Liebe leiten lassen.

Das ist ein Wagnis. Denn es gibt keine gerichtsfesten Indizien für das, was Christi Geist genau hier und jetzt mit uns vorhat. Aber gerade das ist gut für uns! Denn dieser scheinbare Mangel ist nur die Kehrseite der großartigen Freiheit, die Gott uns schenkt. Wir brauchen nur offen für diesen Geist zu sein und können dann nach bestem Wissen und Gewissen denken, reden und handeln. Solange wir uns auf ihn verlassen und nicht unsere Ängstlichkeit zum Ratgeber machen, wird er bei Gott für uns eintreten. Lassen Sie uns deshalb heute am Pfingstfest genauso frohgemut wie Christen anderer Zeiten den Geburtstag der Kirche feiern.

Amen.

Prof. Dr. Dietz Lange
Dietzlange@aol.com


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