Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Exaudi, 8. Mai 2005
Predigt über Johannes 7, 37-39, verfasst von Ulrich Nembach
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Die Predigt ist bestimmt für den Gottesdienst der ev.-luth. Gemeinde St. Martin, Göttingen-Geismar. Geismar ist von seiner langen Tradition als selbständiges Dorf geprägt. Der Ort wurde erst am 1.7.1964 nach Göttingen eingemeindet.

Wir leben in diesen Zeiten

Liebe Gemeinde,
heute brauchten wir eine Zeitmaschine, um alle Daten in den Blick zu bekommen, die sich heute jähren und uns zur Erinnerung rufen:

  • Vor 60 Jahren endete der 2. Weltkrieg, an den wir heute denken.
  • Vor 100 Jahren wurde der Muttertag erfunden, den wir heute feiern.
  • Vor 177 Jahren wurde Henri Dunant geboren, der Gründer des Roten Kreuzes.
  • Morgen vor 200 Jahren starb Friedrich Schiller.
  • Dann – und nicht zuletzt – ist unser Predigttext zu nennen, ein spannender Text!

I.

Die Ereignisse können wir nicht alle heute Morgen hier in einer Predigt bedenken, bearbeiten. Ich will zwei herausgreifen, das Ende des 2. Weltkrieges und unseren Predigttext.

Der 2. Weltkrieg war hier in Geismar schon einen Monat früher zu Ende gegangen. Damals, am 8. April 1945, auch einem Sonntag, waren die Amerikaner hier und in Göttingen eingezogen. Damit endete der Luftkrieg für die Menschen hier. Es fielen keine Bomben mehr. Man brauchte keine Angst mehr zu haben. Es flogen keine Tiefflieger mehr und schossen auf alles, was sich bewegte. Ein Herr, etwas jünger als ich, erzählte mir davon. Er wohnte damals in der Lüneburger Heide. Eines Tages lief er mit seinem Freund über ein nahes Feld. Ein Tiefflieger sah die beiden kleinen Jungen und schoss auf sie.
Eine andere Begebenheit, die ich selber erlebte: Meine Großmutter starb. Wir wohnten damals südlich von Geismar und mussten sie auf einem Friedhof in ca. 2 Kilometer Entfernung begraben. Es goss in Strömen, als wir unterwegs waren, und wir waren über den Regen glücklich, weil Tiefflieger wegen des Regens nicht fliegen konnten.

Das war mit dem Einzug der Amerikaner vorbei. Was blieb, waren der Hunger und die Suche nach einem Dach, einer Unterkunft. Eine Dame aus Geismar erzählte mir, wie sie damals in Treuenhagen in einem kleinen Reihenhaus mit 14 Personen lebten. Wir lebten mit 8 Personen in 1,5 Räumen über einem Stall. Göttingen und Umgebung waren vom Bombenhagel relativ verschont geblieben und deshalb überfüllt. Wie sehr der Hunger die Menschen quälte, auch hier in Geismar, einem Dorf mit Bauern, erzählt ein Bericht auf den aufgestellten Tafeln.

Die Tafeln sind wie eine Zeitmaschine. Sie, liebe Gemeinde, gingen zwischen den Tafeln hindurch wie durch einen kleinen Wald. Auf den Tafeln sind Jahre vor und Tage nach dem Einmarsch zu sehen. Die Tafeln beginnen mit einem Volksfest 1933; spätere dokumentieren Fliegerangriffe, Brände, Zerstörungen; und die letzten werfen einen Blick auf alliierte Soldaten und Deutsche nach dem Einmarsch. Manche Bilder wurden von einem amerikanischen Aufklärer gemacht, der am 8. April gegen 16:00 Uhr Göttingen von Nord nach Süd überflogen hatte, um zu sehen, ob alles eingenommen worden war und ob es keinen Widerstand mehr gab. Dazu kommt ein schriftlicher Bericht. Sie, liebe Gemeinde, können sich das nachher beim Kirchkaffe alles genauer ansehen.

Welche Zeitspanne umfassen die 12 Jahre von 1933 bis 1945! Am Beginn, 1933 reiten auf dem Volksfest zwei Männer in Uniformen aus kaiserlicher Zeit. Am Ende prosten sich englische Soldaten vor dem Gänseliesel zu, deutsche Mädels schauen ihnen zu. Dazwischen Bomben und Hunger, der auch danach weiterging. Die Trümmer des Bombenhagels blieben. Kassel im Süden Göttingens war schon 1943 zu 78% zerstört worden. Braunschweig im Osten, die Altstadt, wurde 1944 zu 90% zerstört. Hildesheim im Norden, die Altstadt, wurde 1945 weitgehend zerstört. Göttingen blieb zu weiten Teilen verschont, aber auch hier waren die Trümmer schrecklich. Die Bilder zeigen es. Die Bomber hatten so viele Bomben an Bord, dass sie oft gar nicht alle abwerfen konnten. Deshalb warfen sie sie dann auf dem Rückflug, etwa von Kassel, bei Göttingen auf die Felder ab.

Ein neues Elend kam hinzu. Wir, meine Familie, erlebte es mittelbar und doch persönlich. Meine älteren Cousinen und ihre Mütter waren von Russen überrollt worden. Sie lebten ständig in der Furcht, in der Sorge, die nächste Nacht möglichst nicht vergewaltigt zu überstehen. Berlin, Hitler, auch die Kapitulation am 8. Mai interessierten die Menschen wenig bis gar nicht. Zunächst skeptisch und dann zunehmend geschockt waren wir, als wir Bilder aus den KZs zu sehen bekamen. Dass KZs schlimm sind, wussten wir, aber so schlimm, so grauenvoll…?! Die Filme, die heute beispielsweise das Fernsehen über Hitlers Ende zeigt, geben eine Wirklichkeit wieder, die nicht unsere war.

II.

Der Predigttext stammt auch nicht aus unserer Zeit und ist uns doch näher. Und er kann uns noch näher kommen.
Ich lese ihn vor. Es sind nur 3 Verse.

Johannes 7,37-39:
37 Aber am letzten Tag des Festes, der der höchste war, trat Jesus auf und rief: Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke!
38 Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt, von dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen.
39 Das sagte er aber von dem Geist, den die empfangen sollten, die an ihn glaubten; denn der Geist war noch nicht da; denn Jesus war noch nicht verherrlicht.

Es geht um Wasser und Geist. Wasser ist heute teuer. Viele Menschen müssen lange Wege gehen, um an Wasser zu kommen, und oft ist es dann noch dreckig oder gar verseucht. Wir hatten 1945 hier Wasser. Wasser in Jerusalem, wo Jesus auftrat, wie einige Verse zuvor erzählt wird, war knapp. Der Mensch braucht es zum Leben, zum Trinken und für den Ackerbau. Das dafür notwendige Wasser zu bekommen, war und ist in Palästina ein Problem.

Das dringend benötigte Wasser wird im Text zum Symbol, zum Symbol für den Geist. So wie der Mensch Wasser zum Leben braucht, benötigt er, d.h. benötigen wir, den Geist, Gottes Geist. Jesus verheißt den Geist – und gleich reichlich.

Wie sehr die Menschen Gottes Geist brauchen, erlebten, wussten die Menschen 1945. Der Geist der Nazis hat Grauen, Tod, Zerstörung gebracht. Eine Frau in Berlin führte ein Tagebuch vom 20. April bis 22. Juni 1945. Sie erlebte das Ende der Kämpfe und dann die Russen. Am 28. Mai, einem Montag, schrieb sie u.a.: „Ich muss nachdenken. Groß ist unsere geistige Not. Wir warten auf ein Herzenswort, das uns anspricht und zurückholt ins Leben, es hungert uns nach Speise, nach dem, was die katholische Kirche ‚Manna Seelenbrot’ nennt. Ich möchte wohl, wenn … am nächsten Sonntag … wieder Gottesdienst sein sollte, eine Kirche aufsuchen … Unsereiner, der zu keiner Kirche gehört, quält sich in der Finsternis und allein …“ (Anonyma, Eine Frau in Berlin. Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945, Frankfurt am Main 2003, S. 246).

Der Geist Gottes – so unser Predigttext – schafft Leben, lässt Menschen zu Strömen lebendigen Wassers werden. Die Kirchen, die wenigen, die über den Krieg hin erhalten geblieben waren, und all die anderen, die als Notkirchen dienten, waren nach Kriegsende überfüllt. Deshalb und wegen der weiterhin ankommenden zahllosen Flüchtlinge wurden überall Kirchen gebaut, bei uns in Geismar gleich zwei, Stephanus als evangelische und Maria Frieden als katholische, insgesamt über 10 Kirchen in Göttingen. Heute sind die Kirchen oft fast leer. Ist das lebendige Wasser fast versiegt, und wir haben es nicht einmal gemerkt?

Unser Predigttext wurde für den heutigen Sonntag ausgesucht, weil wir zurzeit zwischen Ostern und Pfingsten leben. Wir kommen von Ostern her und gehen auf Pfingsten zu. Der Text – Vers 39 – redet auch von einer Zwischenzeit vor Pfingsten. Leben wir heute nicht nur laut Kalender in einer Zwischenzeit, zwischen Ostern und Pfingsten, sondern auch real?

III.

1945, spätesten am 8. Mai 1945, heute vor 60 Jahren, zerbrach eine Welt, der Geist der Nazis. Zerbricht heute der Geist des Geldes?

Wir erleben zahlreiche Arbeitslose. Wer Arbeit hat, fürchtet, er muss fürchten, seinen Arbeitsplatz zu verlieren. Rentner haben faktisch weniger Geld in der Tasche. Die Arbeitslosen haben noch weniger, und die anderen haben Angst, demnächst weniger Geld zu haben. Ich kann die Angst, die Sorge gut verstehen. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Zum Geld und zur Sorge gehört auch dies:

Erstens: Der 8. Mai 1945 bedeutete noch ganz andere Sorgen. Einige habe ich gerade genannt. Hunger herrschte nicht nur in Deutschland, sondern auch in England, in Holland und anderswo in Europa.

Zweitens: Die Zeit danach, die Zeit des Wirtschaftswunders, die goldene Zeit, die Zeit von der heute alle schwärmen, die 60er Jahre – wie sahen sie aus?

Wiederum ein Blick auf Göttingen und seine Region! Kinder in Hardegsen beneideten ein Mädchen, weil es in den großen Ferien verreisen konnte. Das war doch etwas! Sie konnte zur Oma nach Göttingen fahren. Das Mädchen hat später studiert, hat heute selber Kinder und ist erfolgreich.

Müssen es wirklich immer Reisen in ferne Länder sein – mindestens als Schnäppchen-Angebot? Ist es wirklich so wichtig, die neuesten Klingeltöne auf dem Handy zu haben? Wir leben hier in einer schönen Landschaft.

Drittens: Was ist geschehen? Mit dem 8. Mai 1945 begann die Zeit des Umdenkens. Der Hunger wurde überwunden. Es ging weiter. Die Wirtschaft gewann im Laufe der Zeit an Fahrt. Es zog der Geist des Geldes. Die Menschen waren satt. Die Kirchen wurden leerer. Jesus rief: „Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke.“ Die Menschen hatten keinen Durst. Sie kauften sich alles, was sie brauchten, und oft noch mehr, Dinge, die sie nicht brauchten.

Ich denke, dass der 8. Mai 2005 ein erneutes Umdenken bringen muss und kann. Es geht um Jesu Wort und seinen Geist. Es geht darum, dass wir den Arbeitslosen „Wasser“ reichen. In Jerusalem, als Jesus redete, ging es um Wasser – wie heute in weiten Teilen der Welt – und nicht um Prosecco, Champagner oder dgl. Wenn wir wieder von Wasser reden, kann und wird Wasser zum Symbol, zum Zeichen für Gottes Geist.

Unser Predigttext spielt auf den Propheten Jesaja an, der sagt: „Gott wird dich sättigen in der Zeit der Dürre, und du wirst sein wie ein bewässerter Garten“ (Jes. 58,11). Wenige Verse davor formuliert Jesaja das bekannte Wort: Brich dem Hungrigen dein Brot“ (Jes. 58,7). Der barmherzige Samariter wendet Zeit und Geld auf, um seinem Nächsten zu helfen. Er maximiert nicht seinen Gewinn. Verlorene Zeit und verlorenes Geld sind Kostenfaktoren. Trotzdem nimmt er sich Zeit. Trotzdem bezahlt er aus seiner Tasche die Pflege.

Luther predigte im August 1531 in Wittenberg über unseren Predigttext (WA 33, 424-440). Er redet über den Durst ähnlich wie dieser Tage Papst Benedikt XVI. über die Wüste – die der Armut, des Hungers, des Durstes. „Es gibt die Wüste der Verlassenheit, der Einsamkeit, der zerstörten Liebe. Es gibt die Wüste des Gottesdunkels, der Entleerung der Seelen, die nicht mehr um die Würde und den Weg des Menschen wissen.“ Luther redet ähnlich unter Bezug auf unseren Text und den Glauben.

Glaube ist wie Liebe nicht beweisbar, aber beide schaffen Leben. Das Schöne an der Liebe ist, dass sie nicht beweisbar ist und dass man sie nicht kaufen kann. Genauso ist es mit dem Glauben an Jesus. Es wäre schlimm, wenn es anders wäre. Der Glaube schafft Leben. Jesus spricht von „Strömen lebendigen Wassers“.

Das Wort Jesu schafft Trost, verwandelt die Wüste meines, Ihres, unseres Lebens. Die Predigt –, Luther spricht in seiner Predigt vom „mündlichen Wort“ (WA 33,438,6ff), und er fährt fort, dass er dies selbst in Nöten und Anfechtungen erfahren habe. Darum rät er anderen mit dem Worte Christi und gibt ihnen zu trinken, so dass sie neuen Mut bekommen und gesund werden.

Ich kann dem nur hinzufügen: Darum predigen wir. Deshalb dichtete 1975 Hans-Jürgen Netz, damals ein Einundzwanzigjähriger aus Nordfriesland:

„Wo ein Mensch den andern sieht,
nicht nur sich und seine Welt,
fällt ein Tropfen von dem Regen,
der aus Wüsten Gärten macht“

(EG Niedersachsen und Bremen 604,2).

Da kann es Pfingsten werden, kann Gottes Geist kommen. Er wird kommen.

Amen

Prof. Dr. Dr. Ulrich Nembach, Göttingen
E-Mail: ulrich.nembach@theologie.uni-goettingen.de

 

 

 

 


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