Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Exaudi, 8. Mai 2005
Predigt über Johannes 7, 37-39, verfasst von Stefan Knobloch
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


„Die Lebensgeister wecken“

Wieder einmal, so scheint es, setzt der heutige Evangelientext bei uns zu viel voraus. Er startet, jedenfalls für viele von uns, mit einer Unbekannten. Und wohin soll es führen, wenn ein Gedankengang mit einer Unbekannten beginnt? Dann verliert man von Anfang an den Faden und bleibt an der Frage hängen: Was war da eben? Wovon war da eben die Rede? Vom letzten Tag eines Festes? Welchen Festes? Oder man läßt es ganz sein und nimmt eine vorübergehende Auszeit. In der Tat, die Texte des Evangeliums setzen bei uns in der Regel bezüglich jüdischer Kalenderfeste und überhaupt bezüglich der Topographie des Heiligen Landes zu viel voraus. Und so kann es sein, daß wir manches verpassen, was nicht bis an unser Ohr dringt.

Dabei können wir das im ersten Moment Fremde, unverstanden Gebliebene relativ leicht unserem Wahrnehmungshorizont einordnen. Denn auch in unserem Kulturraum feiern wir in den Wochen des Spätsommers und nach der Ernte in der Regel Volksfeste, Wein- und Winzerfeste, gibt es Herbstausstellungen, und in München – wenn es nicht so weit wäre – lockt gar das Oktoberfest. Diese Feste haben zugegebenermaßen einen rein säkularen Charakter. Das war in der damals durch und durch religiös geprägten, auf den Tempel in Jerusalem zentrierten jüdischen Welt anders. Dort beging man nach der Ernte das sogenannte Laubhüttenfest, ein auf den Tempel in Jerusalem und auf Jahwe ausgerichtetes Dankfest, mit dem man zugleich die Bitte um Gedeihen und Wohlergehen für das kommende Jahr verband. Warum es „Laubhüttenfest“ genannt wurde, ist umstritten. Dazu gibt es verschiedene Erklärungen, die für uns nicht weiter von Bedeutung sind.

Von Bedeutung aber ist – vor dem Hintergrund unseres Evangelientextes – ein bestimmter gleichbleibender Ritus, der zum Laubhüttenfest gehörte. Es war üblich, daß man Wasser aus der Schiloach-Quelle schöpfte und in feierlicher Prozession zum Tempelplatz brachte, wo man es am Brandopferaltar in eine Schale goß. Es war ein Ritus, in welchem man um Regen für das kommende Jahr bat. Wasser spielte also am Laubhüttenfest eine entscheidende Rolle. Aber nicht nur das. Man vergnügte sich auch und trank, nicht anders als bei unseren Volkfesten auch.

Wenn wir uns diesen Hintergrund vor Augen halten, fangen wir an, die Sätze des Evangeliums zu verstehen. Am letzten Tag des siebentägigen Festes ist Jesus – wie schon Tage vorher – auf dem Tempelplatz und gibt dem Wasserritus und der Tatsache, daß die Menschen in diesen Tagen gern einen über den Durst tranken, eine ganz neue Bedeutung: „Wer Durst hat, der komme zu mir! Und es trinke, wer an mich glaubt.“ Ohne den Zusammenhang mit den Gepflogenheiten des Laubhüttenfestes hätte wohl kein Mensch auch nur im Ansatz verstehen können, was Jesus da sagte. Wahrscheinlich hätte man sich um seinen Geisteszustand Sorgen gemacht und die Tempelpolizei alarmiert. So aber sollte es den Angesprochenen nicht allzu schwer fallen, die Sätze Jesu nicht in einem banal wörtlichen, sondern in einem übertragenen Sinn zu verstehen: Wer Durst hat, komme zu mir.

Dieser Satz war um so leichter zu verstehen – wenngleich es sicher nicht leicht war, ihm bis in die letzte Tiefe zu folgen -, als der Wasserritus des Laubhüttenfestes nicht nur auf den Regen und das Wachstum auf den Feldern anspielte, sondern immer auch schon als Symbol für die Spendung des Heiligen Geistes verstanden wurde. Der Ritus hatte immer schon eine geistlich-spirituelle Dimension, die sich allenfalls für die verdunkelte, die beim weltlichen Vergnügen dieses Festes zu sehr über den Durst getrunken hatten. Die geistliche Dimension des Wasserritus hatte eine lange Tradition. Sie muß im kollektiven Bewußtsein der Menschen tief verankert gewesen sein. Darauf deutet das Wort aus Jesaja: „Ihr werdet Wasser schöpfen voll Freude aus den Quellen des Heils“ (Jes 12,3). Vom Heil ist hier die Rede, nicht bloß von guter Ernte. Wobei die Bereiche „reales Leben“ und „Heil“ für die Menschen damals nicht so weit auseinanderlagen, wie sie für unser Bewußtsein zumeist auseinanderliegen. Überhaupt war das Wasser als Heilsgabe Jahwes an sein Volk gewissermaßen in dessen genetisches Programm eingeschrieben. Sie hätten damals in der Wüste kollektiv nicht überlebt, wenn Mose nicht auf das Geheiß Jahwes aus dem Felsen am Horeb das rettende Wasser geschlagen hätte, für Mensch und Vieh (vgl. Ex 17,6).

Auf diese Szene spielt Paulus im ersten Korintherbrief an, wenn er in Erinnerung ruft: „Alle tranken den gleichen gottgeschenkten Trank; denn sie tranken aus dem lebenspendenden Felsen, der mit ihnen zog“ (1 Kor 10,4). Und Paulus liefert noch ein klare Deutung mit, die unmittelbar an unseren Evangelientext heranführt: „Und dieser Fels war Christus“ (1 Kor 10,4).

Sofern die von Jesus Angesprochenen auch nur etwas von ihrer kollektiven religiösen Identität in sich hatten, mußten sie verstehen, wovon Jesus sprach, was er ihnen gewissermaßen zumutete. Die wahren Lebensströme des Geistes seien über ihn zu beziehen. An die komme heran, wer an ihn glaube. Und sie konnten sich an die Verheißung Joels erinnert fühlen, der von Jahwe gesagt hatte: „Ich werde meinen Geist ausgießen über alles Fleisch,“ mit einer Wirkung, die jener ganz ähnlich war, von der Jesus gesprochen hat. „Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein, eure Alten werden Träume haben, und eure jungen Männer haben Visionen. Auch über Knechte und Mägde werde ich meinen Geist ausgießen in jenen Tagen“ (Joel 3,1-2). Jesus brachte das in den Satz: „Aus seinem Inneren“ – das heißt aus dem Inneren dessen, der bei ihm seinen Durst löscht – „werden Ströme von lebendigem Wasser fließen.“ Nur stand das Ganze in der Situation auf dem Tempelplatz noch unter einem zeitlichen Vorbehalt: Erst müsse Jesus verherrlicht sein, dann werde der Geist kommen.

Wir verstehen uns längst als solche – sagen wir vorsichtiger, nicht vielleicht wir als einzelne, aber als Gemeinschaft von Glaubenden -, die vom Heiligen Geist beschenkt sind. Nur, wo bleiben die Ströme lebendigen Wassers, die aus uns fließen?

Es mag sein, daß uns das Bild des lebendigen Wassers zunächst in eine andere Richtung denken läßt als die, die hier eigentlich gemeint ist. Es könnte sein, daß wir zunächst an die Wasserknappheit und Wassernot in vielen Ländern der Erde denken. An Länder, deren bewohnte Fläche vor Dürre verdurstet, wo Menschen – zumeist Frauen und Kinder - täglich weite Wege auf sich nehmen, um an trinkbares Wasser zu kommen und zu schöpfen. Und oft genug ist es verunreinigtes Wasser, von dem sie krank werden und das ihre Gesundheit gefährdet. Strömendes, lebendiges Wasser – bei uns kommt das in Kläranlagen wiederaufbereitete Wasser aus der Wasserleitung, kalt und warm, ganz nach Belieben. Der ungleiche Zugang zum lebendigen Wasser als der Grundlage des Lebens, er macht uns auf die weltethische Verpflichtung aufmerksam, mit dem kostbaren Naß behutsam und solidarisch umzugehen und dafür Sorge zu tragen, daß alle Menschen Wasser zum Leben haben. Unsere Wasserqualität, die Wasserqualität unserer Flüsse hat sich in den letzten Jahrzehnten gottlob erheblich verbessert, die Rückstände der chemischen Industrie gelangen nicht mehr unbehandelt in den Wasserkreislauf. Wir können in unseren Flüssen wieder schwimmen. Nur, tragen wir hinreichend Sorge, daß die sogenannten Schwellenländer in der Aufholphase ihrer Industrialisierung nicht all die Sünden der Umwelt- und Wasserbelastung wiederholen, die wir gewissermaßen hinter uns haben?

Jenseits dieser Problematik spricht Jesus davon, daß „aus uns“, von seinem Geist beseelt, Ströme lebendigen Wassers fließen werden? Wie haben wir uns das vorzustellen? Natürlich ist das eine Metapher, ein Bild. Aber was will es sagen? Auf welche Möglichkeiten möchte es uns aufmerksam machen? Auf Möglichkeiten, die letztlich „aus uns“ kommen?

Nicht wirklich, sondern aus uns dann, wenn wir an Jesus glauben und uns von seinem Geist durchdringen lassen.

Hier möchte ich – um eine Antwort zu finden – an ein relativ bekanntes Gleichnis Jesu erinnern, an das Gleichnis von den Talenten (vgl. Mt 25,14-30). Dort ist von drei Dienern die Rede, die von ihrem Herrn, bevor er auf Reisen geht, Geld übereignet bekommen. Fünf Talente der erste, ein zweiter zwei Talente, ein dritter ein Talent. Der springende Punkt des Gleichnisses liegt darin, daß der erste und zweite ihre Talente eingebracht haben, der dritte aber aus Angst, er könne das Talent verlieren und stehe dann beschämt vor seinem Herrn, aus seinem Talent nichts machte. Auf uns bezogen: Ströme lebendigen Wassers beginnen dann aus uns zu fließen, wenn wir – nach Gottes Willen – lernen, uns zu entwickeln und uns anzunehmen, wie wir sind, mit unseren Stärken und Schwächen; wenn wir also entschieden und bewußt – und das ist etwas anderes als „selbstbewußt“ – den Lebensraum betreten, den uns Gott mit unserem Leben eröffnet hat.

Das mag sehr nach „Selbstverwirklichung“ aussehen, die doch niemals im Sinn der Absichten Gottes mit uns sein könne. Hier kommt es eben auf den feinen Unterschied an. Es ist etwas ganz anderes, ob jemand aus lauter Selbstsorge und aus der Sorge, nur ja nicht zu kurz zu kommen, um sich kreist, geradezu auf der Basis des Mißtrauens ins Leben. Oder ob jemand in sein Leben hineinwächst und die Räume seines Lebens betritt in der Überzeugung, von Gott selbst in dieses Leben berufen und im Leben gewollt zu sein. Aus dem Vertrauen, daß mein Leben einen stabilen Grund hat, noch bevor ich ihm irgendeine Stabilität verleihen kann, sei es privater, beruflicher, finanzieller, gesellschaftlicher oder kultureller Art, aus diesem Vertrauen zu leben und in diesem „Selbstvertrauen“ anderen zu begegnen, das bedeutet im Grunde, aus sich Ströme lebendigen Wassers fließen zu lassen.

Um es nur anzudeuten: Das müßte dann die Art und Weise verändern, wie Lebenspartner miteinander umgehen; wie Eltern mit ihren Kindern, gerade auch mit ihren pubertierenden Heranwachsenden umgehen, wenn diese die pubertäre Schranke der Abschottung aufbauen; wie mit der Generation der Alten umgegangen wird, die dann nicht nach ökonomischen Rentabilitätsaspekten eingestuft werden darf.

Unsere Phantasie, der Blick auf unser eigenes Leben ist gefragt, wo wir und aus welchen Gründen wir den Fluß lebendigen Wassers verhindern, wo wir uns verweigern. „Habt keine Angst,“ möchte man hier Worte des neugewählten Papstes Benedikt XVI. aufnehmen. Es ist über konfessionelle Grenzen hinweg eine Aufforderung an uns, als Christinnen und Christen zu leben – unter dem Bild des lebendigen Wassers, das aus uns zu strömen vermag.

Prof. Dr. Stefan Knobloch
dr.stefan.knobloch@t-online.de


(zurück zum Seitenanfang)