Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Rogate, 1. Mai 2005
Predigt über Lukas 11, 5-13, verfasst von Hellmut Mönnich
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde,

dieser Sonntag hat den alten lateinischen Namen „Rogate“. „Betet “heißt das auf Deutsch.
Heute ist aber nicht nur der Sonntag mit dem Namen Rogate sondern auch der 1. Mai, der „Tag der Arbeit“.

Worüber sollten Christen und sollten wir heute hier im Gottesdienst mit Hilfe der Bibel nachdenken? Selbstverständlich über das Beten? Oder über das Thema Arbeit – und damit auch über die Fragen und Probleme, die wir in Deutschland bei mehr als 5 Millionen Arbeit suchenden Menschen mit dem Stichwort Arbeit verbinden? Was kann angesichts der Arbeitslosigkeit für alle die Menschen getan werden, die unter ihrer Arbeitslosigkeit und den oft gravierenden Folgen leiden: wirtschaftlichen Folgen, begrenzten Möglichkeiten auch für die Familien, psychischen Folgen für manchen Betroffenen und sogar noch für die Kinder?

Oder sollen wir jetzt beides verbinden und über das Thema „Bete und arbeite“ nachdenken – den schon alten christlichen und dann benediktinischen Leitspruch „ora et labora“?

Ich möchte mich auf das Thema Beten und den dazu vorgeschlagenen Predigttext begrenzen – und weiß doch zugleich, wie nötig es ist, auch mit Hilfe biblischer Aussagen die heutige Arbeits- und Wirtschaftswelt zu bedenken und dabei besonders all die Menschen in den Blick zu nehmen, die nicht zu den Gewinnern sondern oft genug zu den Verlierern unserer heutigen globalen Wirtschaft zählen – bei uns und in vielen Ländern unserer Welt. Schon das Thema Beten kann man in einem einzigen Gottesdienst kaum genügend bedenken, deshalb die Beschränkung. -

Im vorgeschlagenen Predigttext geht es um’s Beten, genauer um das Bitten im Gebet. Die Mitte des Predigttextes, die entscheidende Aussage, hat Martin Luthers so übersetzt:

„Bittet, so wird euch gegeben;
suchet, so werdet ihr finden;
klopfet an, so wird euch aufgetan.“

Ich selbst verbinde mit diesen Zeilen ein Erlebnis, das ich zwar schon vor Jahren hatte bei einem Besuch in einer Klinik, das mir aber heute wieder vor Augen steht, als wäre erst kürzlich gewesen:

Ich hatte das Zwei-Bett-Zimmer im Krankenhaus betreten und während ich die Tür schloss sah ich, dass das eine Bett leer war. Die Frau, die ich besuchen wollte, lag im Bett am Fenster. Durchdringend sah sie mich an. Sie hat geweint, schoss es mir durch den Kopf. Wir kannten uns. „Helfen Sie mir!“ sagte sie. Nach meiner Erinnerung sprach sie dann weiter in kurzen, wie herausgestoßenen Sätzen: „Beten Sie für mich! Er ist zurückgekommen. Und ich hatte gemeint, der Krebs sei besiegt. Meine Tochter ist doch noch so jung. Ich darf doch nicht schon sterben. Ich will noch leben. Ich habe schon so viel gebetet. Beten Sie für mich. Bitte. Bitten Sie, dass ich leben darf.“

Ich habe die Frau damals immer wieder besucht. Als ich eines Tages wieder geklopft hatte und ins Zimmer kam, war ihr Bett leer. Die Ärzte hatten nicht mehr helfen können.

Hilft Bitten im Gebet?

Noch eine ganze Zeit lang hat mich damals nicht losgelassen, was ich erlebt hatte mit dieser Frau und ihrer Bitte weiterleben zu dürfen. -

Heute, am Sonntag mit dem Namen „Betet“ und der Aufforderung Jesu zu bitten, steht mir das alles wieder vor Augen, und auch die Frage ist wieder da: Hilft Bitten im Gebet? Und überhaupt: was ist das mit dem Beten?

Damals fiel mir schließlich die Geschichte von Jesus im Garten Gethsemane ein. Hatte Jesus da nicht gebetet: „Abba“– das heißt in seiner Muttersprache Aramäisch „Vater“, genau eigentlich „Papa“ –„Abba,alles ist dir möglich; nimm diesen Kelch von mir“ (Mk 14,36)? und musste dann doch sterben - den furchtbaren Tod der Kreuzigung?

Und jetzt lesen wir im Predigttext die so einfach klingende Aufforderung Jesu und die Zusage „Bittet, so wird euch gegeben“ (Lk 11,9)! Kann man das einfach hören und glauben? –

Ich habe dieser Tage noch einmal die Bibel in die Hand genommen um zu sehen, wie Jesus selbst gebetet hat. Denn seine Aufforderung, betend zu bitten und sein eigenes Beten und Bitten gehören doch ohne Zweifel eng zusammen. Beim Aufschlagen wurde mir dann aber schnell klar: zuerst muss ich im Alten Testament nachsehen, der hebräischen Bibel Jesu, um herauszufinden, wie die Menschen damals betend mit Gott gesprochen haben. Denn sicherlich hat Jesus als Jude die hebräische Bibel und nicht zuletzt darin die Psalmgebete gekannt und er hat ja auch gebetet mit Worten aus den Psalmen.

„Herr“ lese ich im 139. Psalm - an dieser Stelle steht in der hebräischen Bibel der Name Gottes, Jahwe, - „Herr, du erforschst mich und kennst mich... . Ich gehe oder liege, so bist du um mich“. Und wenige Zeilen weiter: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.“ Und dann diejenigen Zeilen dieses Psalms, die mich seit langem begleiten und die mir besonders wichtig sind:

„Führe ich gen Himmel, so bist du da;
bettete ich mich bei den Toten, siehe
so bist du auch da.
Nähme ich Flügel der Morgenröte
und bliebe am äußersten Meer,
so würde auch dort deine Hand mich führen
und deine Rechte mich halten.
Spräche ich: Finsternis möge mich decken
und Nacht statt Licht um mich sein -,
so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir,
und die Nacht leuchtete wie der Tag.“

Martin Luther hat das so übersetzt. Was für ein tiefes Vertrauen des Betenden hat hier Sprache gefunden! Erinnert dieses Vertrauen nicht an das fast kindliche Vertrauen Jesu, wenn er im Gebet Gott „Abba“, „Papa“ nennt?

„Bewahre mich, Gott, denn ich traue auf dich“ finde ich an anderer Stelle. Glauben – wird mir wieder deutlich – bedeutet hier in der Bibel vertrauen, auf Gott vertrauen. Im Vertrauen auf Gott spricht der Beter, betet er zu Gott.

„Gott, höre meine Worte, merke auf“ lese ich. Und dann: „Gott, warum stehst du so fern, verbirgst dich?“ Und:“ Wie lange willst du mich so ganz vergessen?“

Offenbar haben die Menschen damals nicht nur voller Vertrauen zu Gott - dem doch Unsichtbaren! - gesprochen, sondern auch seine Ferne erfahren!

Im 22. Psalm heißt es: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Mit diesen Psalmworten schrie doch Jesus sterbend am Kreuz zu Gott. Wo war Gott, wo war seine eingreifende Hilfe jetzt?

Der Evangelist Lukas überliefert, was Jesus am Kreuz als letztes betend sagte: „In deine Hände befehle ich meinen Geist“. Das sind Worte aus dem 31. Psalm. Wie viele Psalmen mag Jesus auswendig gekannt haben? Vor allem aber: was ist da in Jesus vorgegangen, dass er nach der Bitte im Garten Gethsemane schließlich ruhig sagen konnte: „Steht auf, lasst uns gehen!“ - und am Ende nach dem Schrei am Kreuz „In deine Hände befehle ich meinen Geist“?

Wir wissen nicht, was damals im Garten Gethsemane und dann vor seinen letzten Worten am Kreuz in Jesus vorgegangen ist. Was in den Evangelien einzig dargestellt wird, ist das veränderte Verhalten Jesu. Was immer in ihm im Garten Gethsemane vorgegangen sein mag: Jesus selbst will es jetzt so und nicht anders. Offenbar hat er dem Willen Gottes zugestimmt, war einverstanden, war sich einig mit Gott. Der Evangelist Markus aber auch Lukas stellt uns hier Gott nicht als lieben und gütigen Vater vor Augen, der weiß, was für sein Kind gut sein wird – in den Evangelien wird einzig bezeugt, wie sich im Verlauf des Betens Jesus verändert hat. Im Verlauf des Betens, im und mit dem Beten ist etwas in Jesus geschehen. Seine Bitte wurde nicht erfüllt. Aber – er stimmte Gott zu, stimmte mit Gott überein. -

Das Kapitel im Lukasevangelium, dem der Predigttext entnommen ist, beginnt mit einer Bitte aus dem Kreise der Jünger: „Herr, lehre uns beten“. Als Antwort sprach Jesus ihnen das Vaterunser vor:

„Vater! Dein Name werde geheiligt.
Dein Reich komme.
Unser tägliches Brot gib uns Tag für Tag
und vergib uns unsere Sünden;
denn auch wir vergeben allen, die an uns schuldig werden.
Und führe uns nicht in Versuchung.“

Uns soll jetzt nicht die ungewohnte, lukanische Form des Vaterunsers interessieren sondern nur das erste Wort: „Vater“, genauer „Papa“ , wie wir uns das eben deutlich gemacht haben. Papa – mit dieser Anrede wusste er offenbar Gott ganz nahe bei sich, wie einen lieben Vater am Tisch sitzend. „Papa“, „Du“, Du bei mir, ich ganz nah bei dir. So sprach Jesus mit Gott. Voll Vertrauen. Gott - wie auf Armlänge nahe.

Genau so hat er später mit Gott im Garten Gethsemane gesprochen und ihn gebeten – aber die Bitte blieb unerfüllt. Unverständlich hart stehen nebeneinander: Jesu Bitte in einem Moment, in dem es um Leben oder Tod ging, und er voller Vertrauen Gott bat, – und Gottes Schweigen.

„Verbirg dich nicht vor meinem Flehen“ finde ich im Psalm 55. Und in Psalm 89: „...Wie lange willst du dich so verbergen?“

Jesu Bitte wurde nicht erfüllt.

Schon in der hebräischen Bibel, im Alten Testament, erlebten Menschen, die Gott vertrauten und auf ihn bauten, dass ihr Bitten ungehört blieb, dass Gott verborgen war.

Ging es nicht eben so Ungezählten in unserer Zeit - z.B. in Auschwitz - , die Gott als schweigend, als abwesend erfuhren? Keine Hilfe. Millionenfaches, entsetzliches Sterben dort und an vielen, vielen anderen Orten.

Das Schweigen Gottes damals und das Schweigen Gottes heute im kaum beschreibbar Entsetzlichen des vergangenen Jahrhunderts, ja überhaupt in den vergangenen Jahrhunderten bis in unsere Gegenwart - führt es nicht zu der Frage, ob Glauben und ob Beten überhaupt sinnvoll ist? Gibt es darauf eine einfache, überzeugende Antwort?

Ich selbst kann nur meine eigene Antwort versuchen: So, wie ich glaube, dass Gott - der oft so rätselhafte - Jesus damals nicht im Tod hat versinken lassen, sondern ihn zum Leben hob – so glaube ich, dass der Tod der Millionen Menschen damals für sie nicht das Letzte war. Und das glaube ich auch für die Schwerkranke damals im Krankenhaus, die doch sterben musste. Ich glaube an den Gott des Lebens. Aber ich weiß auch: <historisch> ist nur sein Schweigen festzustellen – und die Antwort unseres Glaubens kann nicht jeden überzeugen. Ich will mich trotzdem von Jesus einladen lassen zum Sprechen mit Gott, zum Beten – auch zum Bitten im Gebet und will das Antworten Gott, unserem Vater, überlassen.

Wenn ich über Beten im Sinn Jesu spreche wird mir klar: Es gibt auch Beten und Gebete, die sich geradezu verbieten. Ich meine damit Gebete, die z.B. im letzten Krieg in Gottesdiensten gebetet wurden, um Gott für die Interessen des eigenen Volkes und Landes in Anspruch zu nehmen – Gebete, die oft genug auf Propagandalügen, auf Unwissen fußten.

Übrigens ist auch so ein Bittgebet bedenklich, das ein Schüler oder eine Schülerin betet und Gott etwa bittet, der Lehrer möge seinen Notenkalender verlieren, damit die eigenen mangelhaften Leistungen verborgen bleiben. Wie schnell wird Gott missbraucht - von unmöglichen Gebeten Einzelner bis zu verordneten Gebeten in Kirchen. Und Gott wird missbraucht - von Terroristen bis hin zu weltweit angelegten Strategien politisch Mächtiger. -

Unser Orientierungspunkt beim Beten soll vielmehr das Jesus kennzeichnende, tiefe Vertrauen auf Gott, den Unsichtbaren, sein.

Aus diesem Vertrauen heraus formt und erzählt Jesus in unserem Predigttext die Parabel vom in der Nacht geweckten Freund. Hin- und hergerissen zwischen der Freundschaft und seinem Wunsch, mit der Familie in Ruhe weiter schlafen zu können, muss er sich entscheiden. Unverschämt drängt der bittende Freund in der Nacht. Hier bricht das Erzählte ab. Jetzt ist es der erzählende Jesus, der erklärend fortfährt: Der Schläfer wird aufstehen – sagt er – und geben, was nötig ist. Aber nicht auf Grund der Freundschaft zwischen ihnen, sondern auf Grund der Unverschämtheit des Bittenden. Damit bricht die kleine Geschichte endgültig ab. Keine Bemerkung dazu, was aus der Geschichte zu lernen ist, wozu sie erzählt ist. Das müssen die ersten Hörer damals selbst und wir nun heute beantworten. Offenbar will Jesus sagen: Wir, die wir mit Gott verbunden sind, können gar nicht „unverschämt“ genug bitten. Und Gott vertrauen.

Indem Lukas aber dann die Aufforderung Jesu anfügt: „Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan“, beantwortet er die offene Frage mit Jesu eigenen Worten. Und verstärkt die Antwort dann noch mit einer weiteren, verdeutlichenden Erzählung Jesu: Wo ist unter euch ein Vater, der seinem Sohn, wenn der ihn um einen Fisch bittet, eine Schlange biete?“ usw. Die Zuhörer damals stellen sich den Familientisch vor, an dem der Vater seiner Familie das Essen austeilt. Und den Hörern damals und uns heute wird die Antwort deutlich: Kein guter Vater wird auf die Bitten abartig reagieren. Im Gegenteil! Und wir verstehen Jesus richtig: Die Liebe Gottes zu denen, die zu ihm gehören, ist noch viel gewisser als die Liebe des irdischen Vaters. In diesem Wissen dürfen wir bitten. Ja! -

Mir selbst ist an diesen überlieferten Geschichten Jesu zum Bitten im Gebet noch etwas klar geworden: Ich verstehe Gott viel weniger, als mancher Theologe in der Vergangenheit zu sagen wusste. Ich will mich aber einladen lassen von Jesus selbst, trotz meiner Fragen und meiner Zweifel Gott zu vertauen, zu ihm zu sprechen, auch: ihn zu bitten. Trotz allem. „Dennoch bleibe ich stets an dir; denn du hältst mich bei meiner rechten Hand“ fällt mir ein Psalmbeter ein. Haben die Menschen nicht damals schon überzeugende Gründe gehabt zu zweifeln? Und konnten trotzdem sagen: „Dennoch“?

Von Dietrich Bonhoeffer gibt es den Hinweis: „Gott erfüllt nicht alle unsere Wünsche aber seine Verheißungen“.

Ich bin mit meinen Gedanken und Fragen zum Beten und Bitten noch lange nicht fertig. Ich will hier aber laut fragen, ob wir nicht viel häufiger Gott um seinen göttlichen Geist bitten sollten, dass er unser Denken und Tun steuere, auch unser Reden – einschließlich unserem Beten und Bitten?

Und dann gilt: Wir können, wir dürfen mit Gott betend sprechen, bitten, - voller Vertauen, mit aller Intensität, einfach – wie Jesus selbst.

Amen

(Hinweisen möchte ich auf die Arbeitshilfe <„bete und arbeite“ – Rogate: Tag der Arbeit > des kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt, Arbeitsgemeinschaft in der EKD. Telefon: 07164 902 100. www.kda-ekd.de)

Hellmut Mönnich, P.i.R.
Ewaldstr.97
37075 Göttingen
hi.moennich@freenet.de


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