Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Kantate, 24. April 2005
Predigt über Matthäus 21, 14-17, verfasst von Wilhelm Hüffmeier
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Liebe Gemeinde,

wir hören so richtig das muntere Jubelgeschrei der Kinder, die die Huldigungsrufe aufnehmen, mit denen Jesus bei seinem Einzug in der Hauptstadt empfangen wurde. Wahrhaftig ein neues Lied mit überraschend neuen Sängern und Sängerinnen, gänzlich ungewohnt im Tempel damals und in den Kirchen heute. Befremdlich, sogar ein bisschen peinlich – die kindliche Spontaneität?

Wenn ich diese Geschichte von den Jerusalemer Gassenkindern im Tempel höre, muss ich immer an einen Gottesdienst denken, in dem ein etwa 10-jähriger Junge, nachdem er getauft worden war, plötzlich durch den Gang der Kirche lief und laut verkündete: "Ich bin getauft, ich bin getauft." So etwas können nur Kinder. Dass Erwachsene sich mit solcher in die Luft springenden Freude zu ihrer Taufe, zum Glauben, zu Gott bekennen, geschieht, jedenfalls in unseren Zonen, selten genug. Doch wenn es geschieht, dann ist es eben das Kind im Mann oder in der Frau, das da wieder – Gott sei Dank – zu Worte kommt. Könnte es vielleicht die Intention des Heiligen Geistes, ja, überhaupt die Aufgabe der Kirche sein, das Kind in Manne und in der Frau, eben das Kind in dir und mir, wach zu halten, zu ernähren und zur Sprache zu verhelfen? "Wenn ihr nicht werdet wie ein Kind, werdet ihr in Gottes Reich nicht hineinkommen", sagt Jesus.

In unserer Geschichte jubeln die Kinder freilich nicht über das, was an ihnen selber geschehen ist, sondern über das, was Jesus an anderen tut. Auch das ist eine unvergleichliche kindliche Fähigkeit, sich zu freuen über das, was anderen zugute kommt. So wie Kinder, jedenfalls kleine, lange selbstverständlich und vergnügt anderen Kindern von dem, was sie haben, abgeben. Stellen Sie sich vor, die Freude über das, was anderen zugute kommt, und die Bereitschaft, mit anderen das Meine zu teilen, könnte zwischen den Menschen und Völkern walten. Was für eine Familie, was für ein Staat, was für ein Europa! Oder auch nur zwischen den Kirchen. Was für eine Ökumene!

Doch auch bei Kindern meldet sich leider schon bald der Egoist. Kein Wunder, dass Gott eine enorme Kraft aufwenden muss, damit die Kinder Kinder seines Reiches bleiben und wir Erwachsenen wieder zu Gotteskindern werden und ausrufen: "Hosianna, dem Sohne Davids." Was geschah denn so Gutes? Im Text heißt es lapidar: "Es gingen zu Jesus Blinde und Lahme im Tempel und er heilte sie". Heilung – Heilung von Krankheiten, von Verletzungen, von Erinnerungen – das ist es, was die Gotteskinder vor Freude singen lässt.

Recht besehen, ist beides zusammen, das Jubelgeschrei der Kinder und die Blinden und Lahmen im Tempel, eine Umkehrung der Verhältnisse im Gotteshaus, sozusagen eine Revolution. Unsere Geschichte schließt unmittelbar an die der Tempelreinigung an. Eben hat Jesus die Geldwechsler und Händler aus den Tempelvorhallen und dem Tempelbezirk vertrieben und daran erinnert: Gottes Haus soll ein Bethaus sein. Nun zieht mit den Kindern und Blinden und Lahmen gleichsam ein neues Volk ein, eins, das nach den Bestimmungen des Alten Testaments hier eigentlich gar nicht hingehört, aber offenbar Jesu Wohlgefallen findet. Die Kranken durften sich damals im Tempel nur zeigen, wenn sie vorher gesund geworden waren. Das ist so, als gehörten nur Gott und die Gesunden, Gott und die Guten, Gott und die einwandfrei Frommen, die religiös Korrekten zusammen. Bei Jesus ist das ganz anders.

Es nimmt deshalb nicht Wunder, dass die Hohenpriester und Schriftgelehrten, als sie das mit Jesus und den Kindern und den Kranken sahen, sich entrüsteten und empörten. Haben Sie nicht Recht? Große Beter für das Bethaus waren die Kinder und die Blinden und Lahmen sicher nicht. Religiöse Praxis konnten sie nicht vorweisen. Allenfalls zeigen sie die ganze Angewiesenheit des Menschen auf Gott an. Darin sind sie eine Art Vorform der einen heiligen, allgemeinen, christlichen Kirche.

Jesus reagiert auf die Empörung in doppelter Weise. Zum einen erinnert er die Hohen Priester und Schriftgelehrten an ihre eigene religiöse Tradition, an den Psalm 8: "Aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du dir ein Lob bereitet." Zum anderen heißt es einfach: "Er ließ sie stehen und ging zur Stadt hinaus nach Betanien und blieb dort über Nacht." Das ist die unerhörte Freiheit Jesu, von der alle Kirchen sich eine Scheibe abschneiden können. Jesus stellt sich vor die Kinder. Und die, die sich über ihn empören, überlässt er zunächst einmal sich selbst.

Eine Scheidung der Geister, eine Trennung also. Doch, Gott sei Dank, wichtiger als solche Trennung ist die Einheit beider Gruppen. Diese tiefe Einheit besteht ganz einfach darin, dass der Sohn Gottes sich für beide erniedrigt hat und für beide gestorben und auferstanden ist, für die religiös Unzulänglichen wie für die religiös Korrekten.

Auch für diese Wahrheit können Kinder manchmal unsere Lehrmeister sein. Kinder, jedenfalls kleine Kinder, sind freier und barmherziger. Kinder sind keine Moralisten. Sie freuen sich über jeden, der mit ihnen zusammen sein will, ganz egal, woher er kommt und was für eine Vergangenheit er hat. Sie schreiben niemanden ab. Vielmehr entdecken sie häufig an Menschen, die wir Erwachsene nicht so mögen, Erfreuliches und Einnehmendes. So zwingen sie die Erwachsenen, neu nachzudenken. So sind die Boten dessen, der hier im Tempel alles bestimmt. Er ist, Gott sei Dank, für die einen wie für die anderen da. Auch für die religiös gänzlich Unmusikalischen. Amen.

D. Dr. Wilhelm Hüffmeier, Berlin;
e-mail: hueffmeier@kirchenkanzlei.de

 


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