Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Miserikordias Domini, 10. April 2005
Predigt über Johannes 10, 1-16, verfasst von Niels Henrik Arendt (Dänemark)
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Die Juden wünschten sich einen König, einen richtigen König, einen wahren König. Ja, einige versuchten, Jesus zum König zu krönen. Gleichzeitig aber hatten sie einige sehr bittere Erinnerungen an Könige: Könige, die versagt hatten, wenn es wirklich darauf ankam, die sie ausgenutzt hatten und keine Verantwortung für sie fühlten. In einer ihrer alten Schriften hatte der Prophet Hesekiel die Erbärmlichkeit der Könige und Führer geschildert: "Ihr eßt das Fett und kleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Gemästete, aber die Schafe wollt ihr nicht weiden. Das Schwache stärkt ihr nicht, und das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück; das Starke aber tretet Ihr nieder mit Gewalt" (Hes. 34,3-4). Dann wechselt er das Bild, nun werden die Könige und Führer dargestellt als die stärksten Tiere in der Herde, die Leittiere, und er schildert, wie sie für sich selbst gesorgt haben und ihre besten Weiden für sich, während sie die zertrampelten Wiesen und das faule Wasser denen überlassen haben die sie führen sollten, da "ihr mit Seite und Schulter drängt und die Schwachen von euch stießet mit euren Hörnern, bis ihr sie alle hinausgetrieben hattet" (Hes. 34, 21). Woran der Prophet denkt, ist dies, wie das Volk ins Exil getrieben wurde und als Folge der Bequemlichkeit und Gleichgültigkeit und des Verrats der Könige litt, wenn sich die Bedrohungen auftürmten.

Auf diese Erfahrungen, daß man von denen im Stich gelassen wird, auf die man vertraut hat, spielt Jesus an in seiner Rede von dem guten Hirten an. Aber für Jesus geht es dabei nicht nur um das Verhältnis zwischen König und Volk. Für ihn ist jeder Mensch der Wächter seines Bruders, und deshalb ist seine kurze Beschreibung des Tagelöhners, der sich nicht wirklich den Schafen verbunden fühlt, eine eindringliche Kritik menschlichen Versagens. Jeder von uns hat im alltäglichen Leben das Schicksal anderer Menschen in seiner Hand, mehr oder weniger, ganz oder teilweise. Aber jeden Tag gibt es etwas im Leben des anderen Menschen, sein Wohlergehen, sein Glück, das von mir abhängt.

Menschen können einander auf das Grausamste im Stich lassen. Das wird in den Worten Jesu zum Ausdruck gebracht. Sie enthalten ein Bild von Jesus als dem guten Hirten. Aber dieses Bild steht vor dem Hintergrund des alltäglichen Hirten, des Tagelöhners, der sich den Schafen nicht wirklich verbunden weiß, sondern sie nur bewacht und beschützt, solange es ihm nichts kostet. Ein in seiner Kürze sehr scharfes Porträt. Ihr tragt eine Erinnerung in euch, daß ihr von denen im Stich gelassen wurdet, die euch behüten sollten, sagt er seinen Zuhörern. Aber wie haben andere Menschen euch erlebt? Habt Ihr euch nicht zurückgezogen, wenn ihr saht, daß Unglück über einen anderen Menschen hereinbrach? Wenn der Wolf ein Loch im Zaun fand - habt ihr euch dann in dieses Loch gestellt?

Mit guten Gründen soll man vor falschen Hirten auf der Hut sein: Pastoren, Politiker, Volksführer, bei denen es keine Deckung gibt für die Worte, die sie im Munde führen. Wie die Geschichte der Juden, so hat auch unsere Geschichte und unsere Zeit viele Beispiele dafür, daß sich Leute als Führer aufgespielt haben, z.B. indem sie sich als Fürsprecher einer bestimmten Sache oder Gruppe aufführten - aber sie wollten damit nicht stehen und fallen, sie waren vielmehr eifrig bemüht, sich selbst in Sicherheit zu bringen am Rande, wenn es plötzlich etwas kosten könnte, sich einer Sache angenommen zu haben. Die Flucht vor der Verantwortung ist eine Erbärmlichkeit, die einen großen Teil unseres öffentlichen Lebens prägt.

Aber der Stachel in diesem Bilde Jesu vom Tagelöhner richtet sich gegen jeden von uns in unserem Umgang mit dem Mitmenschen. Wir lassen einander im Stich - nicht immer, aber allzu oft. Unglück isoliert Menschen: wir kehren denen den Rücken zu, die es getroffen hat, mit Ellenbogen und Schultern schieben wir all die weg, deren Schwachheit wir nicht sehen mögen. Wir versuchen, uns mit Hilfe von Geld aus der Verantwortung zu stehlen, oder wir lassen uns kaufen, ein wenig Rücksicht zu nehmen, aber allzu viele bleiben allein, wenn der Zaum um ihr Leben plötzlich zusammenbricht und ihre Ehe kaputtgeht, der Ehepartner stirbt, sie ernstlich krank werden oder von wirtschaftlichem Ruin betroffen sind.

Was kennzeichnet den guten Hirten? Im Bild Jesu ist es der Wille, das Schicksal zu teilen, sich zu opfern, mit denen zu leiden, für die man Verantwortung trägt.

In dem Roman des Griechen Kazantzakis Griechische Passion treten lauter Hirten auf. Die Handlung spielt sich ab in einem kleinen mazedonischen Dorf, das an der Grenze zur Türkei liegt. Der formale Herrscher im Dorf ist der Türkische Aga, aber er schert sich wenig um das Dorf, wenn er nur in Ruhe mit seinen Saufbrüdern feiern kann und wenn die verdammten griechischen Bauern ansonsten einigermaßen Ruhe halten. Der eigentliche Führer im Dorf ist der Priester, Grigoris, ein großer, wohlgenährter und selbstzufriedener Mensch, prall wie ein Stier, kein böser Mensch, aber ziemlich beschränkt. Er hütet eifrig seine Herde, nimmt sich der Fragen des Dorfes an und sorgt vor allem dafür, daß sich nichts ändert. Sein Bruder ist Lehrer im Dorf, auch er ist einer der Hirten" im Dorf, er ist ein Idealist, will gerne Frieden schaffen, aber er ist nicht stark genug, sich gegen den Bruder durchzusetzen. Nun geschieht dies, daß eine Gruppe von Flüchtlingen in das Dorf kommt. Sie sind von den Türken aus ihrem eigenen Dorf vertrieben worden, sind ausgehungert und bitten um Essen und Unterkunft, und darum, unbewirtschafteten Boden urbar machen zu dürfen. Aber der Priester Grigoris weist sie ab - nicht weil man ihnen nicht sehr gut Platz geben könnte, sondern weil sie die Machtbalance im Dorf stören würden. Die Flüchtlinge gehen nun zu dem naheliegenden Berg Sarakina, wo sie frierend und hungern ihr Leben fristen, weil sie hoffen, daß man sich ihrer früher oder später erbarmen wird. Und es gibt wirklich Leute im Dorf, die ihnen ihr Herz zuwenden, vor allem der Hirte Manolios, der eigentlich vom Priester Grigoris dazu ausersehen war, die Rolle des Christus im jährlichen Passionsspiel zu übernehmen. Manolios wird zum Fürsprecher der Fremden, versucht, das Gewissen des Dorfes zu wecken, während Grigoris und die wohlhabenden Bauern alles tun, was in ihrer Macht steht, um den Widerwillen der Bevölkerung gegen die Fremden zu schüren. Es kommt zu einer Auseinandersetzung, als die Leute von Sarakina nicht mehr auf Barmherzigkeit warten können. Der Lehrer, der die Streitenden versöhnen will, wird getötet, ein Haus wird in Brand gesteckt. Die Unruhestifter setzen sich jedoch nicht durch, nun sollen sie bestraft werden. Aber der Hirte Manolios geht zu dem Aga und nimmt die Schuld auf sich für die Unruhe und den Mord. Der Aga wird wütend und liefert ihn den Dorfbewohnern aus. Und mit dem Segen des Priesters Grigoris lassen sie ihrem angestauten Haß und schlechtem Gewissen freien Lauf und töten Manolios - in der Kirche.

Manolios ist Hirte. Er ist es im doppelten Sinne. Sein Auftreten entlarvt alle die schlechten Hirten, die Tagelöhner, die nur an sich selbst denken. Er läßt sie nicht im Stich, wenn ihr Leben und Schicksal in seinen Händen liegt. Das, was eigentlich nur eine Rolle war, wird sein Schicksal - sein Tod. Und damit weist er zurück auf den, der gesagt hat: "Ich bin der gute Hirte, der gute Hirte läßt sein Leben für seine Schafe". Was Jesus damit meint, ist nicht schwer zu verstehen: Er läßt keinen Menschen im Stich, dessen Leben und Schicksal von ihm abhängt. Was auch einen Menschen bedroht, was auch geschieht, welches Unglück auch über ihn hereinbricht, er läßt ihn nicht im Stich.

Und das ist die Botschaft an uns, die wir einander im Stich lassen: Er wird uns nicht im Stich lassen. Der Schmerz, die Trauer, die Krankheit, der Tod werden wir nie nur allein tragen müssen. Wie der wahre König ruht er nicht, bis er sein Volk gerettet hat. So ist er unser Retter. So ist er auch, wie es Petrus sagt, unser Vorbild, "daß ihr sollt nachfolgen seinen Fußstapfen" ( 1. Petr. 2,21), wie die Schafe denen des Hirten folgen. Amen.

Bischof Niels Henrik Arendt
Ribe Landevej 37
DK-6100 Haderslev
Tel.: ++ 45 - 74 52 20 25
e-mail: nha@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Eberhard Harbsmeier

 


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