Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Miserikordias Domini, 10. April 2005
Predigt über Hesekiel 34,1-16.31, verfasst von Klaus Steinmetz
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Gott, dargestellt im Bild des guten Hirten – das ist das Thema dieses Sonntags, darum wird es auch in dieser Predigt gehen.

Ich weiß nicht, liebe Gemeinde, ob es bei Ihnen auch so war. Ich jedenfalls habe meine Konfirmanden ihren Konfirmationsspruch selber aussuchen lassen. Und jedes Jahr war er dabei, meist mehrfach genannt, der Spruch aus dem 23. Psalm: Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Sicher, ich mache mir nichts vor: Sehr viel mehr biblischer Sätze werden die Konfirmanden oft nicht gekannt haben. Aber das geht ja wohl nicht wenigen erwachsenen Christen, gerade evangelischen Christen, ebenso. Ein katholischer Kollege äußerte einmal, was für die Katholiken das „Ave Maria“, sei für uns Protestanten der 23. Psalm, so etwas wie eine eiserne Ration, auf die man sie ansprechen könne, wenn auch sonst vieles verschüttet sei.

Es muss Gründe geben, dass der Satz vom guten Hirten so tief verankert ist. Dieses Bild umschließt etwas, was man bis heute auf Anhieb versteht, obwohl es kaum noch Hirten gibt und obwohl ein Hirte, wenn wir ihn gelegentlich doch einmal mit seiner Herd in der Landschaft sehen, wie ein Relikt aus einer fremden Zeit wirkt. Trotzdem, dieses Bild trägt. Allein schon die Tatsache, dass ein Schäfer unter den oft mehreren hundert Tieren jedes einzelne kennt, versetzt uns in Erstaunen. Der Herr ist mein Hirte - wenn es schon nicht alltägliche Erfahrung ist, auf jeden Fall löst es den Wunsch, die Sehnsucht aus: So umsorgt, so behütet sollte unser Leben sein.

Was den guten Hirten ausmacht, klingt auch in den Sätzen an, die unser heutiger Predigttext sind. Sie stehen im 34. Kapitel des Hesekielbuches. Der Prophet sagt sie als Gottes eigene Botschaft an sein Volk weiter. Ich lese zunächst die Verse 11-16:

Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen. Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, so will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Orten, wohin sie zerstreut waren zur Zeit, als es trüb und finster war. Ich will sie aus allen Völkern herausführen und aus allen Ländern sammeln und will sie in ihr Land bringen und will sie weiden auf den Bergen Israels, in den Tälern und an allen Plätzen des Landes. Ich will sie auf die beste Weide führen, und auf de3n hohen Bergen in Israel sollen ihre Auen sein; da werden sie auf den guten Auen lagern und fette Weide haben... Ich selbst will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der Herr. Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist. – So weit zunächst die Worte des Propheten. Ja, so umsorgt, so behütet sollte unser Leben auch sein.

Zum Hirten gehört die Herde. Meist entdecken wir sie ja zuerst beim Vorbeifahren: „Guck mal da, Schafe!“ Und erst beim zweiten Blick gewahren wir dann auch irgendwo am Rand den Schäfer. Nun ist das nicht gerade eine berückende Vorstellung, zur Herde zu gehören und also ein Schaf zu sein. Ich erinnere mich, wie eine meiner Schwestern einmal vor Weihnachten aus der Schule kam und von der Verteilung der Rollen für das Krippenspiel berichtete. Enttäuscht und aufgebracht sagte sie: „Ich wollte so gerne ein Engel sein, und nun bin ich nur ein Schaf.“ Wirklich keine dankbare Rolle. Und wofür muss das Schaf nicht herhalten, wenn wir uns gegenseitig mit diesem Wort bezeichnen!

Aber merkwürdig: Obwohl ich das alles weiß, das mit der Herde und den Schafen – das Bild vom Hirten bleibt davon fast unberührt und behält seine Aussagekraft und Tragfähigkeit, die Fähigkeit, mein Vertrauen zu wecken und zu tragen. Immerhin mag es gut sein, daran zu erinnern, dass das Bild des Hirten nicht das einzige ist, das in der Bibel für Gott gebraucht wird. Daneben stehen das des Vaters, des Freundes, des Arztes, des Helfers, des Heilandes und noch viele andere. Je nachdem haben auch wir dann jeweils eine andere Rolle.

Der Hirte, das ist in der Bibel keine Idylle, wozu sie für uns, nicht zuletzt durch manchmal doch recht kitschige Darstellungen zu werden droht. Hirte, das ist auch ein Bild der Autorität, ja der Macht. Das hohe politische Amt, auch das höchste staatliche Amt wird als Hirtenamt bezeichnet, das des Königs. Und wenn hier bei Hesekiel nun Gott selber Hirte sein will (vielleicht ist das eben beim ersten Vorlesen gar nicht so deutlich zu hören gewesen: Ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen; ich selbst will meine Schafe weiden), da wird sein Hirtesein zum Maßstab, an dem alle irdischen Hirten sich messen lassen müssen, alle die Autorität beanspruchen und Macht ausüben, im Staat, in der Wirtschaft, in der Religion. Ob sie vor diesem Maßstab bestehen können?

Der Prophet Hesekiel hat die Machthaber und Verantwortlichen seine Volkes Israel vor Augen und sagt ihnen, dass sie nicht bestanden haben. Er hat die Katastrophe seines Volkes miterlebt, als es kurz nach 600 v. Chr. von den Babyloniern endgültig besiegt und die führenden Schichten in die Verbannung und Zerstreuung, in das babylonische Exil getrieben wurden. Der Prophet verkündet: Das war die Folge des Macht- und Amtsmissbrauchs der Verantwortlichen bis hinauf zum König. Hören wir seine Worte, die Verse 1-10:

Des Herrn Wort geschah zu mir: Du Menschenkind, weissage gegen die Hirten Israels, weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der Herr: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden? Aber ihr esst das Fett und kleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Gemästete, aber die Schafe wollt ihr nicht weiden. Das Schwache stärkt ihr nicht, und das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück und das Verlorene sucht ihr nicht; das Starke aber tretet ihr nieder mit Gewalt. Und meine Schafe sind zerstreut, weil sie keinen Hirten haben, und sind allen wilden Tieren zum Fraß geworden und zerstreut. Sie irren umher auf allen Bergen und auf allen hohen Hügeln und sind über das ganze Land zerstreut, und niemand ist da, der nach ihnen fragt oder auf sie achtet. Darum hört , ihr Hirten, des Herrn Wort! So wahr ich lebe, spricht Gott der Herr, weil meine Schafe zum Raub geworden sind und meine Herde zumFraß für alle wilden Tiere, weil sie keinen Hirten hatten und meine Hirten nach meiner Herde nicht fragten, sondern die Hirten sich selbst weideten, aber meine Schafe nicht weideten, darum, ihr Hirten, hört des Herrn Wort!

Also, in allem das Gegenteil dessen, was der gute Hirte tut und was ihn kennzeichnet. Diesen schlechten Hirten, aber auch dem Volk wird zugemutet, die eingetretene Katastrophe nicht als unerklärliches Verhängnis, sondern als Gericht und Strafe Gottes anzusehen. Im Blick auf ihn hätten sie wissen können und müssen, wie ihr Amt, ihre Macht richtig auszuüben gewesen wäre. Die Hirten hätten es wissen müssen, aber auch die Herde, das Volk, das womöglich nur zu bereitwillig, ja gerne sich hat verführen lassen. Wie war das denn vor 60 Jahren bei uns, als so viele, aus heutiger Sicht so unbegreiflich viele gefolgt sind bis zum bitteren Ende?!

Liebe Gemeinde, nun reizt es mich natürlich, auch in unserer politischen und wirtschaftlichen Gegenwart nachzuspüren und aufzuweisen, wo man sagen kann: Da sind Hirten, die sich selber weiden. Beispiele, wie die Großen in Politik und Wirtschaft vor allem an sich selber denken und sich selber versorgen, werden immer wieder bekannt. Das hat nicht aufgehört seit damals, auch wenn die Bedingungen politischer und wirtschaftlicher Machtausübung sich in vielem verändert haben.

Aber ich zögere. Das Geschäft, auf andere zu zeigen und sie anzuprangern, besorgen schon hinreichend viele. Und das muss wohl auch sein. Amtsmissbrauch, Korruption muss aufgedeckt werden. Aber wer einst den damaligen Bundespräsidenten Heinemann hat sagen hören: Immer wenn ich mit einem Finger auf andere zeige, zeigen mindestens drei Finger auf mich zurück, wer das im Ohr hat, wird vorsichtig. Wir sehen sehr schnell und deutlich die Fehler und das Versagen bei anderen, was wir bei uns großzügig übersehen. Es ist ja leicht, von den Großen da draußen und da oben zu reden, und nicht zu sehen, wo auch wir selbst Verantwortung für andere tragen, also Hirten sind, wenn auch in kleinerem Maßstab: Als Vorgesetzter und Arbeitgeber, aber auch schon als Kollege; als Lehrer, aber auch als Schüler; als Eltern, aber auch als Kinder; als Ehemann und Ehefrau. Überall haben wir doch Verantwortung füreinander, für andere, und es hängt mit an uns, ob ihr Leben gelingt. Denn das ist doch der Maßstab, der uns gesetzt ist, wenn es von Gott selber heißt. Er ist der Hirte. Und das bedeutet, auf den Punkt gebracht: Er ist ein Freund des Lebens. Gerade von Ostern her fällt darauf ein besonders helles Licht. Daran werden wir gemessen. Und unsere Kritik an den Großen kann erst Glaubwürdigkeit beanspruchen, wenn wir sie auch für uns selber gelten lassen.

Die Verantwortung erscheint manchmal übermenschlich. Neben dem langen Ringen des Papstes mit dem Tod haben wir alle wohl in den letzten Tagen das Sterben von Terri Shivao in den USA mit Betroffenheit verfolgt. Schlimm, dass es auch noch in den unsäglichen Konflikt zwischen ihren nächsten Angehörigen hineingezogen wurde. Die Angelegenheit war doch so schon belastend genug. Nach fünfzehn Jahren im Koma ohne Aussicht auf Besserung eine endlose künstliche Lebens-Verlängerung um jeden Preis – konnte das die Lösung sein? Andrerseits spürt man einfach den himmelweiten Unterschied, der darin liegt, ob ein Mensch für sich selbst entscheidet: Ich will nicht mehr, oder ob andere für ihn entscheiden müssen, die lebensverlängernden Apparate abzustellen. Welche Entscheidung treffen wir wirklich im Interesse des anderen und welche eher doch im eigenen Interesse?

Auch wenn es Gott sei Dank meist nicht so im wahrsten Sinne um Leben und Tod geht, wir müssen uns zuerst immer wieder vor allem selbst sagen lassen, dass auch da, wo wir zuständig und verantwortlich sind, das Miteinander und Füreinander misslingt, weil wir so leicht erst einmal an uns selber denken. Aussicht, dass wir es besser hinkriegen, besteht die? Sicher, wir müssen es immer wieder versuchen.

Aber beim Propheten Hesekiel hören wir nicht, dass darin die Hoffnung liegt. Er gibt eine andere Verheißung. Gott selbst will sich als Hirte erweisen und durchsetzen: Ich selbst will mich meiner Herde, meiner Menschen annehmen. In Jesus, so glauben wir, hat er es getan; hat er gezeigt, wie er Menschen nachgeht und sie sucht, mitten noch in ihrer Verlorenheit. Sein Leben hat er eingesetzt und verloren, und es dann doch neu gewonnen, damit es für Menschen keine letzte Verlorenheit mehr geben muss. Er will ihnen das Vertrauen, den Glauben abgewinnen, dass er sie nicht verloren gehen lässt. Die Bibel hat ein großes Wort dafür, wie dieser gute Hirte für uns da ist, uns sucht und hält und trägt. Es lautet „Barmherzigkeit“, auf lateinisch „Misericordias“, der alte Name dieses Sonntags vom guten Hirten: „Misericordias Domini“.

Und wir, die wir von dieser Barmherzigkeit des Herrn hören, ihr vertrauen und uns auf sie verlassen, wir haben die Hoffnung, dass wir selber barmherzig werden, in der Spur des guten Hirten. Ich möchte das zum Schluss mit Worten von Heinrich Böll sagen. Böll war ja in vieler Hinsicht ein scharfer Kritiker der Christen und der Kirchen. Aber er war das, weil er nur den Maßstab gelten ließ, der hier allein gelten kann und darf, den Maßstab ihres Herrn, des guten Hirten. Auf die Frage „Was halten Sie vom Christentum?“, sagt Böll:

„Ich frage mich vieles, vor allem das eine: Wie ist es möglich, dass 800 Millionen Christen diese Welt so wenig zu verändern vermögen, eine Welt des Terrors, der Unterdrückung, der Angst? – „In der Welt habt ihr Angst“, hat Christus gesagt, „seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ Ich spüre, sehe und höre so wenig davon, dass die Christen die Welt überwunden, von der Angst befreit hätten... Die Christen haben die Welt nicht überwunden, sie lassen sich auf sie ein und werden von ihr überwunden...

Doch die andere Vorstellung ist noch weit gespenstischer: wie diese Welt aussähe, hätte sich die nackte Walze einer Geschichte ohne Christus über sie hinweggeschoben...Ich überlasse es jedem einzelnen, sich den Alptraum einer heidnischen Welt vorzustellen oder eine Welt, in der Gottlosigkeit konsequent praktiziert würde: den Menschen in die Hände des Menschen fallen zu lassen...Unter Christen ist Barmherzigkeit wenigstens möglich, und hin und wieder gibt es sie: Christen; und wo einer auftritt, gerät die Welt in Erstaunen...Selbst die allerschlechteste christliche Welt würde ich der besten heidnischen vorziehen, weil es in einer christlichen Welt Raum gibt für die, denen keine heidnische Welt je Raum gab: für Krüppel und Kranke, Alte und Schwache, und mehr noch als Raum gab es für sie: Liebe für die, die der heidnischen wie der gottlosen Welt nutzlos erschienen und erscheinen...Ich glaube an Christus...Und ich empfehle es der Nachdenklichkeit und Vorstellungskraft der Zeitgenossen, sich eine Welt vorzustellen, auf der es Christus nicht gegeben hätte. Ich glaube, dass eine Welt ohne Christus selbst die Atheisten zu (Menschen) machen würde“, die auf Gott warten.

Liebe Gemeinde, wir brauchen nicht vergeblich auf ihn zu warten. Denn wir haben seine Verheißung, zu der er steht (Hes. 34,31): Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott der Herr. Amen

Klaus Steinmetz, Sup. i. R.
Hainholzweg 8, 37085 Göttingen
520000261783-0001@T-Online.de

(Nachwort: Diese Predigt war so gut wie fertig, als am vergangenen Sonnabend Abend die Nachricht vom Tode des Papstes zum alles bestimmenden Thema wurde. Papst Johannes Paul II. war wohl in unserer Zeit, über die Grenzen seiner Kirche hinaus, die Hirtenfigur schlechthin. Darauf in einer Predigt über einen Hirtentext ausführlicher einzugehen, liegt nahe. Ich habe mich dazu aber nicht mehr in der Lage gesehen.)

 


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