Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Osternacht, 27. März 2005
Predigt über Jesaja 26, 13-18, verfasst von Bernd Giehl
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"(13) Herr unser Gott, es herrschen wohl andere Herren über uns als du, aber wir gedenken doch allein deiner und deines Namens. (14) Tote werden nicht lebendig, Schatten stehen nicht auf; denn du hast sie heimgesucht und vertilgt und jedes Gedenken an sie zunichte gemacht. (15) Du Herr, mehrest das Volk, du mehrest das Volk, beweisest deine Herrlichkeit und machst weit die Grenzen des Landes. (16) Herr, wenn Trübsal da ist, so suchen wir dich; wenn du uns züchtigst, sind wir in Angst und Bedrängnis. (17) Gleich wie eine Schwangere, wenn sie bald gebären soll, sich ängstigt und schreit in ihren Schmerzen, so geht's uns auch, Herr, vor deinem Angesicht. (18) Wir sind auch schwanger, und uns ist bange, und wenn wir gebären, so ist's Wind. Wir können dem Land nicht helfen, und Bewohner des Erdkreises können nicht geboren werden. (19) Aber deine Toten werden leben, deine Leichname werden auferstehen. Wachet und rühmet, die ihr liegt unter der Erde. Denn ein Tau der Lichter ist dein Tau, und die Erde wird die Toten herausgeben."

Ankommen zwischen Nacht und Tag. Aufstehen in der tiefen Dunkelheit, wenn die anderen noch schlafen. Sich auf den Weg in die dunkle Kirche machen. Seltsam ist dieser Weg und wenn man es nicht genau wüsste, würde man denken, man wisse nicht, wo er hinführe. Ein Weg zwischen Nacht und Tag, zwischen Hoffnungslosigkeit und Hoffnung. Dunkel ist die Kirche, kaum dass man sieht, wo man hintritt. Man muss sich vorsehen, damit man nicht fällt.

Ankommen zwischen Nacht und Tag. Noch hat die Dämmerung nicht eingesetzt. Womöglich fallen uns Stunden ein, in denen wir schlaflos im Bett lagen und grübelten. Nicht ohne Grund spricht man ja von der Dunkelheit der Seele. In der Nacht scheinen alle Probleme, die einem tagsüber als lösbar erscheinen, doppelt schwer zu wiegen.

Und doch wissen wir, es ist keine Nacht wie jede andere. Es ist eine ganz besondere Nacht. Es ist die Nacht, in der Jesus von den Toten auferstand. Es ist die Nacht, in der tiefste Trauer sich in jubelnde Freude verwandelt.

*

Allerdings: Noch wissen die Frauen, die sich da in aller Frühe aufmachen, um den Leichnam Jesu zu salben, nichts von irgend so etwas wie "Auferstehung". Wenn sie ein bisschen mehr Abstand hätten, dann könnten sie ihre Gefühle vielleicht mit den Worten des Propheten ausdrücken. "Herr unser Gott, es herrschen wohl andere Herren über uns als du, aber wir gedenken doch allein deiner und deines Namens. Tote werden nicht lebendig, Schatten stehen nicht auf…" Resignation schwingt in diesen Worten, ein wehmütiges Erinnern an die Zeit, als Gott wirklich noch "Herr" war, als er noch mächtig schien, als er noch in der Lage war, Israel und seinen Bewohnern zu helfen.

Man kann sich einrichten in dieser Wehmut. "In stillem Gedenken" möchte ich manchmal über solche Phasen des Lebens setzen. Womöglich werden ja auch die Frauen, die da zum Grab pilgern, sich einrichten mit ihren Erinnerungen. Die Träume sind begraben; vielleicht wird man sich später mit einem wehmütigen Lächeln an sie erinnern. Das Leben geht weiter.

Das Seltsame ist: Es ist ja wahr. So banal dieser Satz auch klingt, so sehr man sich in der tiefen Schwärze der Trauer auch gegen ihn wehrt: Das Leben geht weiter. Und wenn es am Boden kriecht, langsam wie eine Schnecke. Und wenn du dich verkriechst in deinem Bunker aus Beton und Bitterkeit, wenn die Stunden vorbei kriechen wie die Sonne an diesen endlosen Mittagen und Nachmittagen im Hochsommer am Strand; es geht weiter. Immer. Notfalls auch ohne dich.

*

Fragt sich natürlich: Sind sie denn überhaupt schon so weit? Um etwas was außerhalb von einem selbst wahrzunehmen, dazu muss man sich ja überhaupt erst einmal an den Schmerz gewöhnt haben. Aber da wo die Frauen jetzt sind, am Anfang des Trauerprozesses, da nimmt man noch von nichts anderem Notiz als vom Schmerz. Der Leere, die in einem ist. Womöglich auch dem Zorn. Auf Gott, auf das Leben; wer auch immer einem das genommen hat, was man am meisten liebte.

Der Schmerz allerdings, der in unserem Predigttext ausgedrückt wird, der ist ein anderer. Tiefe Verzweiflung ist darin, aber auch eine paradoxe Hoffnung. "Gleich wie eine Schwangere, wenn sie bald gebären soll, sich ängstigt und schreit in ihren Schmerzen, so geht's uns auch, Herr, vor deinem Angesicht. Wir sind auch schwanger und uns ist bange, und wenn wir gebären, so ist's Wind."

Irgendetwas, so denkt man, muss da passieren. Irgendeine Wendung muss jetzt eintreten. Sei es zum Besseren oder zum Schlimmeren. "Tote werden nicht lebendig, Schatten stehen nicht auf", so hieß es zu Beginn. Das entspricht unserer Erfahrung. Die Toten kommen nicht wieder, und wenn sie es doch täten: Wie würden wir erschrecken. Aber dann heißt es wie ein Echo, wie eine Antwort: "Aber deine Toten werden leben, deine Leichname werden auferstehen."

Paradoxer geht es wirklich nicht mehr.

*

Gleich werden die Frauen am Grab sein. Nur einen Moment wird es noch dauern, dann werden sie sehen, dass der Stein weggewälzt ist. Ratlos werden sie davor stehen und nicht wissen, wie ihnen geschieht. Wie kann das sein?

In dieser Situation braucht es einen Engel. Einen Boten Gottes. Es braucht einen Engel, der das, was da geschehen ist, erklärt. "Fürchtet euch nicht", sagt der Engel. Es ist der Gruß, den auch Jesus öfters gebraucht hat. "Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden, er ist nicht hier." Siehe da, die Stätte, wo sie ihn hingelegt haben."

Was dann kommt, habe ich lange nicht verstanden. Die Frauen fliehen vom leeren Grab, "denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen", so heißt es in der ältesten Auferstehungserzählung bei Markus.

Wenn einem so viel Gutes widerfährt… Schon seltsam, diese ersten Zeuginnen der Auferstehung.

*

So langsam wird es nun hell. Im Grunde kann ich mir keine schönere Annäherung an die Botschaft von Ostern vorstellen, als diesen Gottesdienst, der vor Tagesanbruch beginnt. Zuerst einmal gilt es, das Dunkle auszuhalten. Ostern ist kein Augenblick, Ostern ist viel eher ein Weg. Und dieser Weg beginnt im Dunkeln. Im Dunkel der Nacht dieser Frauen, die sich da auf den Weg machen, um Abschied zu nehmen von Jesus. Und ebenso im Dunkel unserer eigenen Nächte.

Wobei ich gleich hinzufügen will: Dieses Dunkel ist schwer auszuhalten. Viel lieber fliehen wir davor. Hinsehen auf das, was uns das Leben schwer macht, hinzusehen, so wie die Frauen hinsehen, das gelingt uns nur schwer.

Aber dann kommt von außen ein Licht ins Dunkel. Die Osterkerze wird herein getragen. Als Symbol dafür, dass uns auch in tiefer Dunkelheit ein Licht aufgehen kann. Als Symbol dafür, dass es einmal Ostern geworden ist und es immer wieder Ostern werden kann. "Christus ist auferstanden", begrüßt der Liturg die Gemeinde. "Er ist wahrhaftig auferstanden", antwortet die Gemeinde. Dann zünden wir alle unsere kleinen Kerzen an der großen Osterkerze an. Wenn das geschehen ist wird es schon viel heller.

Bald wird die Sonne aufgehen. Aber einen Moment lang können wir die Dämmerung noch genießen.

*

Eigentlich wäre das jetzt der Punkt, um aufzuhören. Es ist hell geworden. Die Schatten der Nacht sind verschwunden. Aber da ist immer noch der Stachel dieses Textes. "Tote werden nicht lebendig, Schatten stehen nicht auf… Aber deine Toten werden leben, deine Leichname werden auferstehen." Das ist eine der größten Spannungen, die ich aus Bibeltexten kenne. Paradoxer geht es wohl kaum noch. Warum so paradox? Warum an Ostern? Irgendetwas müssen sich die, die diesen Text für die Osternacht ausgewählt haben, dabei doch gedacht haben. An Ostern würden wir diese Spannung gern wegwischen. Gern würden wir nur von den hellen und bunten Seiten des Lebens reden. Vom Frühling, der jetzt endlich kommt, von den Farben, die wir so lang vermisst haben. An Ostern würden wir gern nur jubeln und nichts als jubeln.

Bis auf den Bericht des Markus von der Auferstehung, wo die Frauen erschrocken vom Grab fliehen und diesen Text, der von seiner paradoxen Spannung lebt, sind alle anderen Ostertexte, die ich kenne, nur in hellen und leuchtenden Farben gemalt.

Kann man, soll man an Ostern noch an den Karfreitag denken?

Aber da sind ja nicht nur die Bilder dieses Textes. Da ist ja noch etwas anderes. Erinnern wir uns noch einmal: Dieser Gottesdienst begann im Dunkeln. Das hat seinen guten Sinn. Wer Auferstehung erleben will, wer nicht nur über sie hören will wie über ein Gerücht aus fernen Tagen, der muss auch etwas von Sterben und Tod wissen. Wer nichts weiß vom Leiden, von Trauer und Tod, der kann Ostern bestenfalls als Fest des Osterhasen und der bunten Eier feiern.

Insofern möchte ich diesen Text fast einzigartig nennen. Ausgespannt ist er zwischen großer Traurigkeit und jubelnder Freude. Und das Merkwürdige ist: Das entspricht ja auch unserem Glauben. Erinnern wir uns an das, was Paulus vom Abendmahl sagt: "Sooft ihr von diesem Brot esst, verkündigt ihr des Herrn Tod, bis er kommt." Nicht von Christi Auferstehung spricht Paulus, sondern von seinem Tod. Jedes Mal, wenn ich dieses Wort bei einer Abendmahlsfeier zitiere, fällt es mir wieder auf. Jesu Tod und Jesu Auferstehung, sie gehören zusammen. Die Auferstehung ist nicht ohne das Kreuz zu haben. Wäre es anders, dann müssten wir die Kreuze aus den Kirchen nehmen und stattdessen überall ein Bild des Auferstandenen platzieren.

Ich erinnere mich an einen Familiengottesdienst, über den ich einmal gelesen habe. "Das verwandelte Kreuz" hieß der, und es handelte sich um einen Gottesdienst zu Ostern. In diesem Gottesdienst wird ein großes schwarzes Holzkreuz, das wohl auch sonst in der Kirche steht, von den Besucherinnen und Besuchern des Gottesdienstes mit Blumen geschmückt. Der Verfasser des Gottesdienstes sieht darin das Symbol eines knospenden Baums, eines Lebensbaums also. Man kann das sicher so sehen. Für mein Gefühl bleibt da aber immer noch das Kreuz sichtbar.

Und ebendies scheint mir auch legitim. Christus ist auferstanden, aber uns steht die Auferstehung noch bevor. "Mitten wir im Leben sind/ von dem Tod umfangen" so heißt das in einem Kirchenlied. Das gilt auch noch nach Ostern. Christus ist auferweckt worden, er ist uns vorangegangen und wir folgen ihm. Sein Weg ist auch der unsere. Aber unsere Nachfolge steht im Zeichen von Kreuz und Auferstehung. Dass Jesus auferstanden ist, bedeutet nur, dass auch wir auf die Auferstehung hoffen können; nicht aber, dass wir selbst schon auferstanden sind. Wir sind uns des Ziels gewiss, aber wir sind noch nicht am Ziel. Wäre es anders, dann wäre es unbegreiflich, dass Christen auch schwere Zeiten erleben, dass auch sie immer wieder angefochten sind durch eigenes und fremdes Leid. Weil es aber immer wieder Stunden des Zweifels, der Anfechtung, des Leids gibt, darum feiern wir nicht einmal Ostern sondern immer wieder neu.

Es gibt ein Bild von Thomas Zacharias, "Emmaus" heißt es, das beschreibt diesen Weg mit den Mitteln der Kunst. Unten sind zwei oder vielleicht auch drei Gestalten zu erkennen – wie viele es sind, das ist schwer zu entscheiden – die stehen in einem schwarzen Feld. Über ihnen ist ein großes dunkelgrünes Feld zu erkennen. Am oberen Bildrand wird das Feld orange. Die Farbe Orange steht bei Zacharias für die Hoffnung.

Aber bevor sie in das orangefarbene Feld kommen, müssen sie erst einmal das schwarze Feld verlassen. Und dann auf dem schmalen Weg durch das dunkelgrüne Feld ziehen. Das wird sicher eine Weile dauern. Allerdings ist auch auf dem schmalen Weg durch das grüne, immer wieder von schwarzen Linien durchzogene Feld, eine orangefarbene Spur zu erkennen.

Von Ostern her fällt Hoffnung auf unseren Weg, so deute ich dieses Bild. Das Wissen, dass Gott Jesus Christus von den Toten auferweckt hat, verändert unser Leben. Es gibt ihm einen weiten Horizont. Auch da wo es dunkel ist und schwer. Es wird nicht dunkel bleiben, sagt uns Ostern, sondern wir gehen dem großen Licht entgegen.

Pfr. Bernd Giehl
Kirchspiel 34
65205 Wiesbaden
Tel. (06122) 935055
bernd.giehl@t-online.de


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