Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Karfreitag, 25. März 2005
Predigt über Lukas 23, 33-49, verfasst von Ekkehard Lagoda
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33 Und als sie kamen an die Stätte, die da heißt Schädelstätte, kreuzigten sie ihn dort und die Übeltäter mit ihm, einen zur Rechten und einen zur Linken. 34 Jesus aber sprach: Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun! Und sie verteilten seine Kleider und warfen das Los darum. 35 Und das Volk stand da und sah zu. Aber die Oberen spotteten und sprachen: Er hat andern geholfen; er helfe sich selber, ist er der Christus, der Auserwählte Gottes. 36 Es verspotteten ihn auch die Soldaten, traten herzu und brachten ihm Essig 37 und sprachen: Bist du der Juden König, so hilf dir selber! 38 Es war aber über ihm auch eine Aufschrift: Dies ist der Juden König. 39 Aber einer der Übeltäter, die am Kreuz hingen, lästerte ihn und sprach: Bist du nicht der Christus? Hilf dir selbst und uns! 40 Da wies ihn der andere zurecht und sprach: Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? 41 Wir sind es zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsre Taten verdienen; dieser aber hat nichts Unrechtes getan. 42 Und er sprach: Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst! 43 Und Jesus sprach zu ihm: Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein. 44 Und es war schon um die sechste Stunde, und es kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde, 45 und die Sonne verlor ihren Schein, und der Vorhang des Tempels riß mitten entzwei. 46 Und Jesus rief laut: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände! Und als er das gesagt hatte, verschied er. 47 Als aber der Hauptmann sah, was da geschah, pries er Gott und sprach: Fürwahr, dieser ist ein frommer Mensch gewesen! 48 Und als alles Volk, das dabei war und zuschaute, sah, was da geschah, schlugen sie sich an ihre Brust und kehrten wieder um. 49 Es standen aber alle seine Bekannten von ferne, auch die Frauen, die ihm aus Galiläa nachgefolgt waren, und sahen das alles.

Liebe Gemeinde,
nun hängt er, abgeurteilt nach römischem Recht, gefoltert und gedemütigt am Kreuz zwischen zwei Straftätern. Das ist die Gerechtigkeit, die auf Erden gilt. Wer die Macht hat, setzt das Recht. Der Tod hat das Sagen. Das soll Gerechtigkeit sein?

Die Frage nach Gerechtigkeit ist keine Ansichtssache; sie entzündet sich an Unrechtserfahrungen: an einer als ungerecht empfundenen Benotung der Seminararbeit, an einer als ungerecht erlebten Examensprüfung, an einer als kränkend erfahrenen Kritik eines Mitmenschen .
Solche Unrechtserfahrungen rufen Protest hervor, rütteln auf, sensibilisieren, aktivieren mein Gerechtigkeitsempfinden. Die Erfahrung von Ungerechtigkeit ist im eigenen Erleben meist viel stärker als die von Gerechtigkeit. Denn selbst um Gerechtigkeit bemüht, erwarte ich auch gerechtes Handeln von anderen.
Doch wie kommt es zu einer solchen Ungerechtigkeit, die ein Gemeindemitglied erfährt, das sich vom Freistaat Bayern im Rahmen der üblichen Günstlingswirtschaft um sein Grundstück geprellt sieht. Weil der Wurstfabrikant zugleich Fußball- und Geschäftsfreund des Bürgermeisters und des Ministerpräsidenten ist, wird nun eine Wurstfabrik das Gelände zieren.
So ist das halt im Leben. Eine Hand wäscht die andere. Gemeinsam bringen wir es einfach weiter, auch, wenn dies - wie im beschriebenen Fall - einer ungerechten Sache dient: Aus diesem Grund sind Kooperationen nicht nur unter Menschen und im Geschäftsleben verbreitet, sondern es gibt sie auch im Tierreich. Dagegen legt sogar der in Südamerika beheimatete Faunaffe ein richtig „faires“ Verhalten an den Tag: Hat er Beute gemacht, während sein Partner leer ausging, wird geteilt. Vor allem wenn der andere beim Fang mitgeholfen hat. Eine Hand wäscht die andere. Aber die Kooperation und das faire Verhalten gilt nur – hier wie auch oft genug unter Menschen - für die Helfer und Helfershelfer, nicht für die, die unter die Räuber fielen und zur Beute wurden.

Diese Günstlingswirtschaft wird als Ungerechtigkeit erfahren, ist aber weit davon entfernt eine Frage des Überlebens zu sein. Ganz im Gegensatz zum weltweiten Freihandel um jeden Preis, in dem die Handelspolitik die Ernährungssicherheit von Millionen von Menschen nicht im Auge behält und die Menschenrechte mit Füßen tritt.

Ein Mensch, der die Ungerechtigkeit und die Ohnmacht seines Volkes erlebte und sich mit feinem Gespür gewaltfrei widersetzte war und - in gewisser Weise - ist Oscar Arnulfo Romero. Dieser Mann lebt noch heute in seinem Volk weiter, obgleich er vor 25 Jahren drei Jahre nach seiner Wahl zum Erzbischof von San Salvador von einem rechtsradikalen Killer während der Eucharistiefeier in der Kapelle des Krebshospitals der Karmeliterinnen ermordet wurde.
In einer Reihe von „Passionsfilmen“ sahen wir in unserer Gemeinde aus Anlass seines 25. Todestages den Film „Romero“.
Als ein konservativer Kandidat der herrschenden Kreise hatte sich Romero zu einem engagierten Fürsprecher der Armen verändert, der täglich gegen Ungerechtigkeit und Terror ankämpft. Als moralistischer Glaubenshirte, dem die Rettung der Einzelseele am Herzen lag, schien er anfangs kein großes Interesse an der Bewältigung sozialer Krisen in seinem Land gehabt zu haben. Aber er fand immer deutlichere Worte und lehnte die Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele ab, predigte jedoch passiven bzw. gewaltfreien Widerstand.
Er wurde zum Schweigen gebracht, weil er wirtschaftliche Ausbeutung, Rechtlosigkeit und Unterdrückung in El Salvador nicht hinnahm. Mit seinem Engagement für die Armen stellte er sich gegen das von den Herrschenden begangene Unrecht. Er sagte: „Die Kirche würde ihre Liebe zu Gott und ihre Treue zum Evangelium verraten, wenn sie aufhörte, die Stimme derer zu sein, die keine Stimme haben“, oder er rief den Soldaten in der vom Rundfunk übertragenen Predigt zu: „Kein Soldat ist verpflichtet, einem Befehl zu gehorchen, der wider das Gesetz Gottes gerichtet ist.“

Romero ist zu einem Symbol für Gerechtigkeit und Solidarität geworden. Sein Denken und Handeln macht auch heute noch Mut, Ungerechtigkeit offen anzuprangern und für die Armen, Entrechteten und Schwachen einzutreten.
Darum lebt er in seinem Volk bis heute weiter.

Das im Film beschriebene Leiden des Volkes unter den Machthabern und das Martyrium des Erzbischofs erinnerten uns sehr stark an den Bericht über die Kreuzigung Jesu nach dem Evangelisten Lukas. Dieser arbeitet fein heraus, daß Jesus ein Märtyrer ist, der sich als der Gerechte so konsequent gegen die Ungerechtigkeiten dieser Welt ausspricht, daß er dafür mit seinem Leben bezahlen musste.
In eindrücklicher Weise zeigt der Film, wie sich Romero, gespielt von Raul Julia, zu einer international bekannten moralischen Autorität entwickelt. Nach meinem Geschmack wird mir im Film die Grausamkeit des Geschehens mit den Mittel des politischen Thrillers zu deutlich vor Augen geführt. Lukas dagegen kommt in seiner Darstellung des Märtyrertodes mit anderen Mitteln aus und notiert nur sehr knapp den Kreuzigungsvollzug. Er scheint keinerlei Wert auf das „Wie“ der Kreuzigung zu legen (V. 33). Ihm geht es offenbar nicht so sehr um den Tod und den Vorgang des Sterbens.

Fast einer Bildkomposition vergleichbar gruppiert er die Menschen, mit denen Jesus kurz vor seinem Tod noch vom Kreuz her spricht.

Doch schauen wir uns diese Begegnungen Jesu mit dem Straftäter am Nebenkreuz, dem wachhabenden Hauptmann und den zuschauenden Menschen näher an, um zu sehen, was dem Evangelisten wichtig war:
Der Straftäter am Kreuz neben Jesus sieht sich wie den Kollegen zurecht verurteilt. Er empfindet seine Strafe als gerecht und erkennt in Jesus einen, der nichts Unrechtes getan hat. Er bittet Jesus:“ Gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst.“ Und Jesus spricht ihm zu: „Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“

Hier steht nicht der Tod Jesu in der Mitte, sondern die Vergebung für den Übeltäter neben ihm. Angesichts der Sinnlosigkeit stellt sich Sinn ein, wird diesem eine Lebensperspektive zuteil. Da ergreift einer das Leben, obwohl er nur noch Minuten zu leben hat. Im Angesicht des gekreuzigten Jesus ordnet er sich neu ein; mehr noch, wird er sich neu geschenkt. Da zählen Augenblicke mehr als ein ganzes Leben.
Hier wird ihm nicht eine Unsterblichkeit der Seele oder irgendetwas anderes versprochen. Ihm wird zugesprochen, daß er sein Leben nicht umsonst gelebt hat. Er hat, wenn auch sehr spät, den erkannt, der sinnvolles Leben ansagt und möglich macht. Er stirbt – aber er stirbt nicht umsonst. Verzweiflung hat bei ihm nicht das letzte Wort, sondern Friede, Friede, den er in der Begegnung mit dem sterbenden Jesus gefunden hat.

Selbst angesichts der Menschen, die sich das Recht herausnehmen, Recht zu setzen und den religiösen Autoritäten wie den politischen Machthabern, die ihn mit seinen friedensstiftenden Gedanken eliminieren möchten, geht Jesus schöpferisch um.

Schauen wir nach dem Straftäter auf den Hauptmann . Er erlebt mit, wie Jesus stirbt und wie sein Tod durch ein kosmisches Geschehen begleitet wird. „Eine Finsternis kam über das ganze Land“ und „der Vorhang im Tempel riß mitten entzwei“. Der Blick auf das Allerheiligste im Tempel wurde freigegeben.
Der Hauptmann sieht, in welcher Weise sich Jesus dem Straftäter zuwendet .
Er sieht, daß Jesus kein böses Wort für die übrig hat, die ihn ans Kreuz gebracht haben, die um ihn herstehen und ihn herausfordern, indem sie ihn verspotten. Aus der Verspottung spricht Verzweiflung, Sinnlosigkeit . Jesus, der exemplarische Gerechte, der seine Predigt der Nächsten- und Feindesliebe durchhält, Gottes Gerechtigkeit erfüllt, selbst unter schlimmem Martyrium und Spott treu und um die Gegner besorgt bleibt, jede Gewalttat gegen Henker und Autoritäten ablehnt, dieser Jesus war und ist Hoffnungsträger. Und ein Hoffnungsträger, der sich nicht selbst rettet, erscheint den Menschen unter dem Kreuz undenkbar und unerträglich. Aber sie stehen auf der Seite der Machthaber und meinen, Recht setzen zu können. Jesus schweigt zu den Frechheiten und Verspottungen und betet zu Gott: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“

Dies muß den Hauptmann so beeindruckt haben, daß er in Jesus den Zeugen für Gottes Gerechtigkeit sieht, so wie im Jesajabuch steht, daß der Gerechte den Vielen Gerechtigkeit schaffen wird (Jes 53,11; 11,4f). D er Hauptmann wird zu einem Bekenntnis bewegt und spricht preisend, bevor er den Ort verläßt: „Dieser Mensch war wirklich ein Gerechter“. Er bleibt selbst unter schlimmem Martyrium und Spott treu und um die Gegner besorgt; er lehnt jede Gewalttat gegen Henker und Autoritäten ab. Bis zu seinem Tod setzte er nicht auf Bestrafung, Rache und Vergeltung, denn Gott ist ein Gott der Liebe. Keine Aggressivität gegenüber den Gegnern, keine Beschimpfung oder Bedrohung der Henker, sondern Vergebung und Feindesliebe: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“. Die im Namen Jesu angebotene Generalamnestie. Wem wird vergeben (V.34)? Alle unter den Kreuzen Versammelten sind gemeint. Das ist sein Testament, sein Vermächtnis für uns. Der Hauptmann sieht in diesem Gerechten die Gerechtigkeit gekreuzigt.

Schauen wir drittens auf die Menschen unter dem Kreuz. Sie empfinden nicht einmal mehr den Nervenkitzel einer grausigen Schau. Auch sie werden angerührt von dem Geschehen am Kreuz. Sie schlagen sich an die Brust.
„Und als alles Volk, das dabei war und zuschaute, sah, was da geschah, schlugen sie sich an ihre Brust und kehrten wieder um(V. 48).“
Mir ist bisher die Redewendung vom “Sich an die Brust schlagen“ nicht sonderlich aufgefallen, aber sie gefällt mir. Die Menschen schlagen sich an die Brust, weil darunter das Herz sitzt. Wie schnell kann das Herz zum Sitz böser Gedanken und zur Quelle verwerflichen Tuns werden! Die Menschen reden nicht. Auch ohne Worte geben sie ein Zeichen der Reue.
Im katholischen Gottesdienst war es bis vor kurzem üblich, sich am Anfang des Gottesdienstes und beim allgemeinen Schuldbekenntnis als Zeichen der Reue mit der Faust gegen die Brust zu schlagen, nur ganz leicht natürlich.

Die Kreuzigung Jesu hat seine Wirkung nicht nur auf den Hauptmann gehabt, sondern auch auf die Menschen in der Nähe Jesu. Sie erkennen, wie in Jesus die vorurteils- und grenzenlose Liebe gekreuzigt wird und Heuchelei und Selbstgerechtigkeit die Oberhand gewinnen.
Alle Menschen in der Umgebung des Kreuzes machen jeweils eine Erfahrung durch, die ihre Haltung und Einstellung zu dem Gekreuzigten verändert. Sie denken über ihre Einstellung zum Gekreuzigten und ihre Anteile an dessen Kreuzigung nach.

So wie der Evangelist Lukas erzählt, entsteht hier keine Karfreitagstrauer.
- Der eine Straftäter erlebte Jesu Zuwendung und durfte in Frieden in Gott hinein-sterben.
- Der Hauptmann sah, was da geschah und pries Gott.
- Und die Menschen, die dabei waren und zuschauten, sahen, was da geschah.
- Auch die Frauen, die ihm aus Galiläa nachgefolgt waren, sahen das alles. Alle haben es gesehen und von niemandem wird berichtet, wie er den Tod eines Unschuldigen betrauert. Und die Trauer fällt nicht aus, weil die Menschen so herzlos sind. Sondern das Gesehene und Geschehene macht die Menschen hoffen.

In Lukas’ Bericht über die Kreuzigung Jesu lernen wir also nichts über den Tod. Wir lernen etwas für das Leben, denn das Erleiden von Gewalt und Folter ist nichts Besonderes am Geschehen um Jesus. Viele andere Menschen mussten und müssen heute in gleicher Weise leiden oder noch schlimmere Folter erdulden. Was wir an Karfreitag für das Leben lernen: Jesus ist die Barmherzigkeit Gottes. Sein konsequenter Lebensstil hat ihn ans Kreuz gebracht. Daß Jesus das bei Gott aufgehobene und bewahrte Leben bei Gott am Kreuz hingab und konsequent bei dem blieb, was er als den richtigen Weg nach dem Willen Gottes ausmachte, das ist entscheidend, nicht die Masse des geflossenen Blutes.
Der Evangelist misst eigentlich dem Leiden Jesu und seiner Kreuzigung keine Heilsbedeutung zu. Erst seine Auferweckung setzt Jesus ins Recht, erweist ihn als den Christus für uns.

Der polnische Künstler Eugeniusz Stankiewicz hat ein Werk geschaffen, das uns provoziert, auf den Plan ruft. Er zeigt eine Montage aus vier Elementen:
Auf einer mit hellem Leinen bespannten Rückwand ist ein schlichtes Holzkreuz angebracht. Links neben dem Kreuz liegt eine Christusfigur in der Haltung eines Gekreuzigten, wie wir sie gewöhnlich in der Haltung eines Gekreuzigten finden. Die Figur ist dunkel aus Metall oder Holz. Rechts neben dem Kreuz liegen ein Hammer und drei Nägel. Die Montage fordert mich als den Betrachter auf: ich solle nach Art des Bausatzprinzips mit Hilfe des Hammers und der drei Nägel den Corpus Christi selber an das Kreuz nageln.
Und schon hat das Kunstwerk seine besondere Wirkung erzielt.
Selbst ist der Mann, selbst ist die Frau.
oder: Do it yourself !

Wo lebt eigentlich heute Jesus unter uns und wo gerät er wieder ans Kreuz?
Wo werden wir selber am Tod Jesu schuldig, weil wir uns bei unseren Mitmenschen im Ton selbstgerecht vergreifen? Wo handle ich nach dem Prinzip „Auge um Auge“, vergelte und kann nicht über meinen eigenen Schatten springen.
Wo sind wir in unserem Leben so herausgefordert, daß wir aus unserer Überzeugung und unserem Glauben sagen: Bis hierher und nicht weiter!
Wir sind eingeladen bei der globalen Aktionswoche für gerechten Welthandel mitzumachen oder wenigstens genau hinzuhören, wenn in zahlreichen Veranstaltungen und Aktionen (10.-16. April 2005 in der Schweiz) über die Forderungen diskutiert wird: Schluß mit ungerechten Handelsabkommen und Privatisierungen auf Kosten der Armen. Ja zum Recht aller auf Nahrung, Wasser, Gesundheit, Bildung, eine lebenswerte Umwelt und würdige Arbeit.

Wissen wir, was wir tun? Wieviel Bewusstlosigkeit regiert uns und lässt uns teilnehmen an zahllosen Kreuzigungen?
„Nein, nein, nein: wir kreuzigen doch nicht. Die Todesstrafe ist doch ‚Gott sei Dank', zumindest in unseren Breiten, abgeschafft.“
Jesus aber sagt: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Geschwistern, das habt ihr mir getan“ (Mt. 25,40) und „Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan“ (Mt 25,46). Bürgerliche Selbstgerechtigkeit kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß Kreuzigungen noch nicht aus der Mode gekommen sind. Immer wird die Liebe ans Kreuz geschlagen. So bleibt die Frage nach der Gerechtigkeit eine große Herausforderung für das Verhalten von uns Christinnen und Christen. Die Güter dieser Erde sind weiterhin ungerecht verteilt. Wir haben das Gefühl für das rechte Maß verloren. Die ungleiche Verteilung der Lebenschancen bringt die Welt aus dem Gleichgewicht. Aber dieser Zustand ist kein bloßes Schicksal, sondern kann verändert werden.
Wann mischen wir uns endlich ein, um nicht erneut die Kreuzigung zu vollziehen?

Nehmen wir ernst, was wir bisher über die Liebe gegen die Vergeltung gehört haben, so werden wir im Persönlichen wie im weltpolitischen Maßstab feststellen, daß die Beantwortung des Fundamentalismus durch Fundamentalismus eine verheerende Reaktion hervorbringt. Wir die Guten, dort die Bösen; wir die zivilisierte Welt und dort die Barbaren. Wir können Gott nicht für unsere Seite reklamieren und einen neuen Kreuzzug ausrufen.

Doch noch einmal kurz zurück zur Kreuzigungsszene. Was da im Namen menschlicher Rechtsprechung geschieht, wissen wir alle.
In einer Situation, in der uns wahrscheinlich „das Hemd näher als die Jacke“ gewesen wäre, hätten wir vermutlich erst einmal „unser Schäfchen ins Trockene“ gebracht. Wir hätten ver-handelt oder ge-handelt, um unsere „Haut zu retten“. Jesus wird im Lukasevangelium als einer beschrieben, der nicht an sich denkt, sondern noch vom Kreuz her zugunsten der Anderen handelt.
Er öffnet dem Straftäter die Augen für die Vergebung Gottes.
Er lässt den Hauptmann erkennen, was Gerechtigkeit und wer der Gerechte ist. Er lässt die Menge begreifen, was vorurteilslose- und grenzenlose Liebe ist.

Doch wo und wie sorgt Jesus für sich selbst?
Jesus rief laut: „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!“ (V. 46a) Jesus braucht nicht selbst für sich zu sorgen, denn er weiß sich aufgehoben in der Liebe Gottes und stirbt mit einem Wort des Vertrauens aus dem jüdischen Abendgebet (Ps 31,16): „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!“ Amen.

Und der Friede
und die Liebe Gottes,
die höher, weiter und tiefer greift
als alle menschliche Vernunft,
bewahre deine Seele und deinen Geist
in Jesus Christus. AMEN.

Pfarrer Ekkehard Lagoda
Evangelisch-Lutherische Kirche in Genf
20, rue Verdaine
CH-1204 Genève
Tel 0041 22 310 41 87
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