Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Karfreitag, 25. März 2005
Predigt über Lukas 23, 33-49, verfasst von Martin Hein
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Heute ist Karfreitag, der Tag der schonungslosen Wahrheit, liebe Gemeinde. Heute erfahren wir Grundlegendes, Entscheidendes über uns Menschen und über Gott.

Wir erfahren Grundlegendes über uns Menschen, über die Abgründe, die sich auftun, wenn das Böse erst einmal seinen Lauf genommen hat. Dann scheint es kein Halten mehr zu geben. Dann vollziehen die Henkersknechte routiniert und ohne viel Aufhebens ihr schmutziges Handwerk. Befehl ist Befehl, und Sold ist Sold. Was zählt schon ein Menschenleben!?

Und die anderen ringsum, die üblichen Gaffer? Sie erleben die Kreuzigung als schauriges Schauspiel. Kein Wort des Protests, keine Silbe der Abscheu, noch nicht einmal, daß sie sich abwenden von diesem blutigen Geschehen. Sie stehen da und schauen zu – innerlich scheinbar unbeteiligt, aber erfüllt von der Sensationsgier, einen Menschen sterben zu sehen.

Doch damit nicht genug. Da sind auch jene, die keinen Hehl daraus machen, daß sie sich an den Qualen eines Unschuldigen weiden: die Oberen, die ihrem Spott freien Lauf lassen, die Soldaten, die voller Ironie über die erbärmliche Gestalt am Kreuz herziehen, ja selbst einer der Verbrecher, der dort hängt, stimmt kurz vor seinem Lebensende noch in den Chor der Verachtung ein.

Das Böse hat eine mächtige, unbändige Anziehungskraft, und sich mit Worten und Taten an einem Wehrlosen zu vergreifen, scheint eine ungeheure Befriedigung zu verschaffen.

Wir blicken auf das Kreuz Jesu und erkennen: Der Mensch ist der Mörder seines Bruders. Die alte Wahrheit von Kain und Abel am Anfang der Menschheitsgeschichte wiederholt sich. Es geht nicht um Einzelfälle menschlichen Versagens. Wenn wir all jene vor unseren Augen Revue passieren lassen, die am Tod Jesu beteiligt sind oder sich daran ergötzen, kommt schnell zum Vorschein, wie anfällig wir als Menschen gegenüber dem Bösen sind und wie leicht wir ihm nachgeben.

Vor bald zweitausend Jahren jenseits der Tore Jerusalems war das so, und ist es bis heute geblieben – und das keineswegs bloß in krimineller Umgebung, wo ein Menschenleben oft wenig zählt.

In vielen Ländern dieser Erde existiert die Todesstrafe weiterhin und wird exekutiert. Menschen werden unter unwürdigen Bedingungen und ohne Aussicht auf ein faires Gerichtsverfahren gefangen gehalten – selbst durch Länder, die ein Vorbild an Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Freiheit sein wollen. Bilder von Demütigungen und Quälereien haben wir im vergangen Jahr zu genüge anschauen müssen. Aus Gründen der Staatsräson wird kräftig gehobelt, und da müssen eben auch Späne fallen; das hat man in zu Kauf nehmen, heißt es.

Es war nur eine kleine Minderheit, die überhaupt eine innere Anteilnahme gegenüber Jesus auf seinem Weg zum Kreuz zeigte. Die meisten hatten ihn längst im Stich gelassen. Ähnlich rührt sich heute der Widerspruch nur mäßig gegen alle Willkür und Anmaßung, über Leben und Tod anderer entscheiden zu wollen. Das ist Anlaß genug, uns selbstkritisch zu prüfen, wie es mit unserem Mut, mit unserem Mitleid und Eintreten für die Schwachen und Gedemütigten steht – in der Nähe und in der Ferne. Die Bilanz sieht, glaube ich, nicht gut aus. Wir sind jenen Menschen, die den Tod Jesu zu einem grausigen Ereignis machen, doch viel näher als wir meinen.

Aber der Bericht von Jesu Kreuzigung und Tod hält uns nicht nur einen Spiegel vor, in dem wir uns selbst mit unserer Verstrickung in das Böse erkennen. Wir erfahren Grundlegendes über Gott. Der Unmenschlichkeit von uns Menschen steht eine tiefe Menschlichkeit Gottes gegenüber.

Für sie war Jesus zeit seines Lebens eingestanden; sie hatte in ihm sichtbare Gestalt gewonnen – in der Zuwendung zu den Ausgestoßenen und Verachteten, zu denen, die nichts zu lachen hatten. Nun wird er in der Ohnmacht, der Folter und dem Tod ausgeliefert zu sein, selbst einer von ihnen. Aber er verliert auch hier, in der äußersten Not, nicht seine Größe und Souveränität: Noch in den letzten Atemzügen bittet Jesus liebevoll um Vergebung für jene, die ihn mißhandeln, und verheißt einem der beiden Mitopfer das ewige Leben. Liebe und ewiges Leben: Darin entpuppt sich mitten in der Sinnlosigkeit der schrecklichen Kreuzigung ein geheimer Sinn.

Wir blicken auf das Kreuz Jesu und erkennen durch das blindwütige Geschehen hindurch: Gottes Liebe setzt sich dem Bösen aus, aber sie hält ihm stand.

Gott verweilt nicht in Distanz zur Welt und zu uns Menschen, sondern begibt sich in die Niederungen hinein, mitten in das menschliche Elend. Von Weihnachten bis zum Karfreitag spannt sich dieser Bogen. Gott gibt sich uns hin, nimmt in Jesus die Qualen auf sich, wird gedemütigt, ja scheut nicht den gewaltsamen Tod am Kreuz. Gott wird in Jesus Opfer und leidet mit den Opfern der Ungerechtigkeit und des Hasses zu allen Zeiten. Seit jenem ersten Karfreitag hat die Christenheit diesem furchtbaren Ereignis die allerhöchste Bedeutung zugelegt. Das Kreuz als Zeichen des Todes wandelt sich in das Zeichen grenzenloser, bedingungsloser Hingabe an uns Menschen.

Das kann unser Bild von Gott nachhaltig verändern und uns ein neues Verhältnis zu ihm eröffnen. Gott ist Liebe, und im Tod Jesu gibt er sich uns preis. „Aus Liebe will mein Heiland sterben“, so beginnt eine Arie in Bachs Matthäus-Pas­sion, um in die Worte einzumünden: „Daß das ewige Verderben / und die Strafe des Gerichts / nicht auf meiner Seele bliebe.“ Darum geht es am Karfreitag!

Gottes Liebe heilt den Riß zwischen uns und ihm, und sie schenkt Freiheit – von der Verführung, sich stets nur anzupassen und mit den anderen Wölfen zu heulen, Freiheit vom Zwang des Bösen, ja von der Macht des Todes.

So gesehen ist Gottes Liebe – wie alle Liebe – konkret: Sie erschöpft sich nicht in Harmonie und Konfliktfreiheit. Im Gegenteil! Sie verändert alles, denn sie begibt sich auf den Weg des Leidens, der Verachtung und der Finsternis. Keinen Ort gibt es auf dieser Welt, wo Gott nicht wäre, selbst dort ist er, wo die Grausamkeit jeden Gedanken an ihn zu verbieten scheint! Gottes Liebe begrenzt sich nicht auf die Sonnenseiten des Lebens; er ist uns Menschen gerade in schweren Stunden, in Krisen, Einsamkeit und Ausweglosigkeit nahe. Er begleitet uns bis an unser Ende, um uns das Tor zum Leben zu öffnen. Wir können uns darauf verlassen: „Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“ Karfreitag ist der Tag der schonungslosen Wahrheit, liebe Gemeinde. Aber diese Wahrheit tut unendlich gut!

Wir blicken auf das Kreuz Jesu – voll Dankbarkeit: Gott überwindet das Böse mit Gutem, er vergibt uns unsere Schuld und macht uns heil. Er befähigt uns, mitten in der Welt mit ihrem Leid und ihrer Gewalt als Menschen zu leben, die sich nach seinem Willen ausrichten.

Wir blicken auf das Kreuz Jesu – voll Hoffnung: Am Karfreitag ist die Liebe Gottes nicht ans Ende gelangt. Seine Wege reichen weiter als die Grenze des Todes. Davon ist übermorgen, an Ostern, zu predigen und zu hören. Aber es kündigt sich schon heute an: Mitten im grausamen Geschehen dieses Tages, mitten im Angesicht des Todes finden wir den Grund des Lebens: Gottes Liebe. Das ist die grundlegende, entscheidende Wahrheit – für uns und für die ganze Welt. Amen.

Bischof Dr. Martin Hein, Kassel
martinhein@gmx.de


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