Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Palmarum, 20. März 2005
Predigt über Markus 14, 3-9, verfasst von Walter Meyer-Roscher
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Liebe Gemeinde,

In den ersten Monaten dieses Jahres erinnern wir uns an die schrecklichen Tage des zu Ende gehenden Krieges vor 60 Jahren. Wir gedenken des Untergangs alter deutscher Städte wie Dresden – einmal als „Elbflorenz“ bezeichnet – oder Hildesheim, das man das „Nürnberg des Nordens“ nannte. Wir gedenken der unzähligen Opfer, die dieser Krieg damals gefordert hat.

Wir erinnern uns, und diese Erinnerung ist schmerzhaft, weil wir nach den Ursachen kaum begreifbarer Gewalt und Brutalität fragen müssen, die sich vor 60 Jahren ausgetobt und unsere Welt kälter gemacht haben. Sollen wir nicht lieber vergessen und die Vergangenheit ruhen lassen?

Unsere Gesellschaft tut sich gegenwärtig schwer mit dem Erinnern. Die Gegenwart ist gefragt. Traditionen bedeuten nicht mehr viel. Sie verstellen nur den Blick nach vorn, sagen diejenigen, die ohne jede Bindung an frühere Lebens- und Gemeinschaftsformen unser Zusammenleben nach ihren heutigen Ideen von Stärke, Können und Erfolgsorientierung gestalten wollen. Die Vergangenheit blenden sie dabei aus. Natürlich wollen sie auch die Last und die Schrecken der dunkelsten Jahre unserer jüngsten Geschichte für immer vergessen.

Wer sich nicht erinnern will, lebt nur aus dem Augenblick heraus. So aber ist doch keine Orientierung auf dem Weg in die Zukunft möglich. Gerade die Erinnerung kann uns helfen, den weiten Horizont eines menschenwürdigen Miteinanderlebens im Blick zu behalten. Und die Erinnerung an Hass und Gewalt, die vor 60 Jahren so viele Menschenleben in den Abgrund gerissen und so viele Kulturgüter zerstört haben, kann heute unser Gewissen schärfen. Sie will uns zur Wachsamkeit gegenüber neuem Hass und neuer Gewalt mahnen. Die Erinnerung an das Grauen inmitten zusammenbrechender Lebenswelten und an die Leiden unschuldiger Opfer damals kann uns heute ermutigen, das hohe Gut des Friedens durch unser Engagement für Mitmenschlichkeit, Verständigung und Versöhnung zu bewahren und, wo es wieder notwendig wird, zu verteidigen.

Erinnerung bleibt nie abstrakt, auch wenn sie sich auf Völker und Länder umfassende Ereignisse bezieht, wird sie sich immer wieder an einzelnen Menschen festmachen – an ihren Untaten oder ihrem mutigen Handeln, an ihren schuldhaften Versäumnissen oder an ihrem tapferen Widerstand, an den sie leitenden Überzeugungen, an ihren Ängsten und an ihren Hoffnungen.

Gegenwärtig bewegt viele Menschen ein Film über die letzten Tage von Sophie Scholl, die gegen nationalsozialistisches Unrecht und gegen inhumane Gewalt aufbegehrte und für ihre Überzeugung sterben musste. Eine junge Frau, die sich nicht scheute, offen vor der „Diktatur des Bösen“, wie sie es genannt hat, zu warnen und zur Mitmenschlichkeit aufzurufen. In der damaligen Situation ein aussichtsloses, zum Scheitern verurteiltes Unterfangen! Aber heute erinnern wir uns, halten in der Hektik unseres Lebens und in den Problemen unseres Zusammenlebens für einen Augenblick inne und begreifen plötzlich: Diese Frau hat etwas getan, dessen Sinnhaftigkeit weit über ihr kurzes Leben und über ihre Zeit hinauswirkt. Sie hat beispielhaft gehandelt und darf deshalb nicht vergessen werden – ebenso wenig wie die vielen namenlosen unbekannten Menschen, die damals trotz massiver Bedrohung den Opfern von Intoleranz und Gewalt mit Nächstenliebe beigestanden haben und manchmal deshalb selbst zu Opfern geworden sind. Das Beispiel von Sophie Scholl und das Beispiel der vielen Unbekannten können heute an unser Gewissen appellieren und die richtigen Maßstäbe für unser Handeln wieder erkennbar machen. Ich meine die Maßstäbe, die Jesus selbst gesetzt hat: Zuwendung, Barmherzigkeit und Versöhnungsbereitschaft, wo sonst nur Hass und Gewalt drohen.

Auch der Predigttext für den heutigen Palmsonntag, mit dem die Karwoche beginnt, mahnt diese Maßstäbe an: Erinnert euch! Haltet die Erinnerung an eine namenlose Frau wach, die auf ungewöhnliche Weise Jesu Liebesgebot aufgenommen hat! In dem Bericht des Markus von einem der letzten Abende vor seinem gewaltsamen Tod sagt Jesus selbst: Diese Frau ist des Erinnerns wert, wo immer das Evangelium verkündigt wird.

Was hat sie Besonders getan? Markus schreibt: Sie hatte ein Glas mit einem sehr kostbaren Öl, und sie zerbrach das Glas und goss es auf Jesu Haupt. Wir denken unwillkürlich an den 23. Psalm, in dem der Beter von Gott, dem guten Hirten, sagt: „Du salbst mein Haupt mit Öl“ – in einem Land, das Dürre, Hitze und Staub, Hunger und vor allem Durst kennt, eine besondere Wohltat! So bringt diese Frau ihre Achtung und ihre Liebe in überschwänglicher Weise zum Ausdruck. Die es miterlebt haben, sagten allerdings spontan: Sie hat unnötig etwas verschwendet, was man hätte besser verwenden können. Das kostbare Öl, das sie über Jesus ausgegossen hat, hätte sie lieber verkaufen und den Erlös wohltätigen Zwecken zuführen sollen.

Ja, so denken diejenigen, die alle Lebensläufe rational betrachten. So denken die Realisten, und die beherrschen die Welt – damals wie heute.

Natürlich ist die Fürsorge für die Armen, die sozial Benachteiligten, die schwächsten Glieder der Gesellschaft unbestreitbare Pflicht aller, besonders derer, die das mitmenschliche Zusammenleben verantwortlich zu gestalten haben. Ohne Frage hat der Kampf gegen die Armut Priorität, und wir haben, wie Jesus es prophezeit hat, immer noch und wieder mehr Arme bei uns. Das Gebot der Barmherzigkeit abzuschwächen, lässt Jesus selbst nicht zu. Schließlich steht er mit seinem ganzen Leben für die Hinwendung zu denen, die am Rande der Gesellschaft leben. Schließlich ist er immer ein Anwalt der Armen gewesen und nach unseren Maßstäben bis zum Ende selbst ein armer Wanderprediger geblieben.

Aber diese spontane Verschwendungshandlung einer unbekannten Frau hat Jesus sich gefallen lassen. Ihre Tat hat gegen allen Augenschein einen besonderen Wert. Die Namenlose wendet sich mit ihrer Zuneigung dem Mann zu, über dem schon der Schatten von Gewalt, Leiden und Tod liegt. Ja, für die Realisten eine ganz und gar aussichtslose Verschwendung von Fürsorge und Liebe! Aber für Jesus selbst und für alle, die heute in der Erinnerung seinen Weg in den Gottesdiensten der Passionszeit zu begleiten versuchen, eine Botschaft des Lebens im Angesicht des Todes. Diese Frau begegnet dem schon bald Gewalt und Brutalität Ausgesetzten, dem Todgeweihten mit einer Liebe, die nicht Ausdruck von Resignation ist, sondern Hoffnung aufscheinen lässt.

Die Frau muss etwas von dem besonderen Weg Jesu und von seiner schrankenlosen Liebe geahnt, vielleicht sogar selbst erfahren haben. Sie kann nur mit ihrer Liebe reagieren, die sich nicht rechnet und vor den Schatten der Gewalt und des Todes auch keine Aussicht auf Erfolg hat. Sie ahnt das nahende Ende. Sie kann Jesus nicht retten. Insofern ist ihre Tat für alle Realisten aussichtslos. Aber sie ahnt, dass es etwas gibt, das stärker ist als Hass, Gewalt und Tod. Ihr Zeugnis für Liebe und Mitmenschlichkeit kann ein Hinweis auf Gottes Liebe sein, die Jesus im Tod erfahren und die Ostern möglich gemacht hat. So hat sie schon am Beginn seines letzten Weges gegen Angst und Einsamkeit, gegen die Resignation der Jünger Hoffnung gesetzt.

Es gibt Stunden, in denen Gewalt und Tod das Feld beherrschen und nichts anderes mehr zählt als der Hass, auch keine andere Sprache mehr verstanden wird. In solchen Stunden können nur der Widerstand gegen Hass und Gewalt und Taten der Mitmenschlichkeit über den Tod hinaus weisen, kann die Sprache der Liebe Hoffnung machen.

Darum sagt Jesus: Diese Frau sollt ihr in Erinnerung behalten. Und wir erinnern uns ihrer bis heute. Ich denke, seine Mahnung zur Erinnerung geht weiter. Sie schließt alle ein, die sich dem Hass entgegen stellen und Mitmenschlichkeit gegen Gewalt setzen.

So erinnern wir uns auch an Sophie Scholl, die in aussichtsloser Situation den Mut fand, gegen Gewalt aufzustehen und auf ihre Weise für Mitmenschlichkeit einzutreten. Diesen Mut nahm sie aus ihrem Glauben.

Die Frau, von der Markus berichtet, und die Widerstandskämpferin, deren Taten und deren Schicksal uns in diesen Tagen wieder nahe gebracht werden, dürfen nicht vergessen werden. Wir sollten uns aber auch nach 60 Jahren all der namenlosen Unbekannten und oft schon Vergessenen erinnern, die in der Zeit schrecklicher Gewalt den Opfern mit Liebe und Mitmenschlichkeit begegnet sind und dafür selbst Opfer bringen mussten, manchmal sogar das Opfer des eigenen Lebens. Die Erinnerung an sie kann heute unser Gewissen schärfen und uns wieder die Maßstäbe erkennen lassen, die Jesus gesetzt hat. So kann Erinnerung zur Hoffnung werden, dass die Liebe am Ende nicht verlieren wird, weil Jesus selbst ihre Kraft erwiesen hat.

Amen

Walter Meyer-Roscher
Landessuperintendent i.R.
Adelogstraße 1
31141 Hildesheim
meyro-hi@t-online.de

 


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