Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Judika, 13. März 2005
Predigt über Lukas 1, 26-55, verfasst von Birgit Hesselager
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(Text der dänischen Perikopenordnung, in Dänemark ist dieser Sonntag Mariae Verkündigung)

Eine der Fragen, die man zu beantworten hat, wenn man eine Predigt schreibt, ist die, was das Wort des Evangeliums der Gegenwart zu sagen hat – man hat also die biblischen Berichte in einem Licht der Gegenwart zu sehen, so daß man hoffentlich daraus erschließen kann, was das Evangelium uns heute sagt.

Und in dem Zusammenhang muß man wohl sagen: angesichts der Diskussion, die gegenwärtig in Zeitungen, Radio und Fernsehen darüber rast, wer Kinder haben soll und warum, ist der Bericht von der Ankündigung der Geburt des Herrn eine äußerst bedenkliche Angelegenheit – hier haben wir eine junge Frau ohne Ausbildung, die in sehr unsicheren sozialen Verhältnissen lebt, nämlich Maria, und diese Frau lässt sich – in der Sprache der Reproduktionstechnologie ausgedrückt – künstlich befruchten, und zwar obendrein mit dem, was man als einen fremden Samenspender bezeichnen muß!

Und damit noch nicht genug, sie protestiert nicht einmal, nein, sie stimmt einen Lobgesang darüber an!

Und dann hören wir auch noch von ihrer Kusine Elisabeth, die mit Zacharias verheiratet ist; und sie beide sind, wie es heißt, vorgerückten Alters, und die sollen nun ein Kind bekommen! Und haben sie deshalb ein schlechtes Gewissen? oder sind sie wenigstens in angemessener Weise besorgt? Nein, Zacharias verschlägt es die Sprache aus Ergriffenheit, und Elisabeth ist nicht im Zweifel: das ist nichts Geringeres als ein göttlicher Eingriff, der das ermöglicht hat.

Was da geschieht, erregt doch Anstoß. Es endet denn auch damit, daß das eine Kind geköpft und das andere an ein Kreuz geschlagen wird. Unter den Leserbriefschreibern der letzten Monate werden sicherlich so manche sein, die der Meinung sind, das hätte man doch voraussehen können.

So etwas können wir heutzutage wirklich nicht zulassen. Hier muß der Staat wirklich eingreifen und Gesetze erlassen und Regeln festlegen, die derartige Unordnung unterbinden können.

Aber nun ist es ja nicht so, dass Maria auf Grund ihres unordentlichen und auf jegliche Weise merkwürdigen Empfängniserlebnisses zu einem Beispiel des Schreckens und der Warnung geworden wäre – ganz im Gegenteil – keine Frau ist als Bild der schönsten Frömmigkeit, Tugend und erhabenen Geistigkeit mit größerem Eifer verehrt worden als Maria – und das geschieht selbstverständlich in allererster Linie, weil es der Sohn Gottes war, dessen Mutter sie wurde, und zwar wohl nicht so sehr auf Grund eigener, im Voraus bekannter Eigenschaften, sondern weil sie auserwählt wurde – der Gedanke war wohl der: wenn Gott ausgerechnet sie gewählt hat, dann muß sie im Besitz ganz außerordentlicher Eigenschaften gewesen sein. Und diese Eigenschaften sind allmählich vor allem zu erhabener Geistigkeit geworden. Ich sage mit Absicht ”allmählich”, denn das Bild der Maria hat sich im Lauf der Zeit gewandelt – natürlich ist sie zu allen Zeiten ein Bild der Frömmigkeit und er Gottergebenheit gewesen – das geht klar aus dem biblischen Text hervor, aber allmählich entfernt sie sich zunehmend von dem Bild eines frommen und gottergebenen Menschen, der mit Schmerzen und Blut sein Kind gebiert und es mit all der Liebe, Besorgnis im Großen wie im Kleinen, wie es nun einmal im Menschenleben ist, erzieht, und sie wird mehr und mehr zu einer fernen, geistigen Gestalt, die über alles Menschliche erhaben ist. Es ist schade, aber diese Entwicklung verläuft parallel dazu, dass sich das Christentum überhaupt im Laufe der Zeit zu einer Religion wandelte, die sich vom Leben, vom sinnlichen Leben entfernte.

Die Trennung von Leib und Seele wurde tiefer und tiefer – der Geist wurde zum Feinen und der Leib zum Häßlichen – das Ganze zeigt sich in einer Sexualangst, und ist es denn nicht so, dass sie vor allem entsteht, weil eben der Sexualtrieb so unlenksam und zugleich gefährlich ist. Es ist ja gefährlich, wenn man einander nahekommt. In einer unsinnlichen Kirche wird Maria zum Zeichen des Allerunsinnlichsten. Sie wird zu der Unberührten.

Aber was heißt das eigentlich, unberührt zu sein? Es ist, wie wenn man sich in der Kirche auf das Unberührte in sexueller Hinsicht nahezu die Augen ausgestarrt hat. Aber unberührt sein ist ein mehrdeutiger Begriff. Und es ist nicht unbedingt positiv. Es kann sein, dass dem Unberührtsein etwas Beruhigendes anhaftet – aber es ist auch eine Versuchung. Im Unberührtsein gibt es nichts, was uns berührte. Nichts, was an uns herankommen könnte. Im Unberührtsein können wir hinter unseren beruhigenden Glaswänden sitzen und die Welt und das Leben betrachten, ohne dass wir daran teilnehmen müssten. Im Unberührtsein gleitet das Leben an uns vorbei wie auf einem Fernsehschirm – es ist wie ein Film, den man abschalten kann, wenn er einem nicht zusagt, denn er hat ja sowieso nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Deshalb gerät man auch in Panik, wenn das Leben plötzlich aufdringlich wird. Wenn die Situationen eintreten, in denen uns plötzlich klar wird, dass da etwas ist, das uns unwiderstehlich fordert. Etwas, das uns aus dem sicheren und bequemen Alltag herausreißt. Und ich glaube, dass wir gerade an diesem Tag der Verkündigung Marias sagen können, dass genau dies niemals mit größerer überwältigender Kraft geschieht, als wenn man ein Kind bekommt.

Im Zusammenhang mit der Verantwortung und Fürsorge für das neue Leben erwacht ein Wissen – ein sowohl wunderbares als auch erschreckendes Wissen – darum, dass das Leben dich jetzt zu fassen bekommen hat. Jetzt sind Unverletzlichkeit und Sorglosigkeit, Freiheit und Selbständigkeit von etwas anderem überschattet. Alles bekommt unendlich viel größere Bedeutung – das Gute wie das Böse. Die Freude, natürlich, aber auch die Angst vor der Zukunft wird eine andere, weil sie jetzt eine Angst davor wird, was dem Kind zustoßen kann. Und die Hoffnung auf die Zukunft wird eine andere – sie wird mit einem Gebet für dieses neue Leben verknüpft.

Was für uns alle, Männer wie Frauen, geschieht, wenn das Leben uns ruft, ist dies, dass es etwas gibt, das wichtiger ist als wir selbst. Und das verwandelt uns. Das gilt von einer jeden Liebe und Sorge für einen anderen Menschen: wenn man von ihr ergriffen wird, dann erhält das Leben plötzlich einen unendlichen Wert gelebt zu werden, es wird unendlich kostbar, aber auch furchtbar gefährlich. Es ist eine mit Schmerz vereinte Freude in der Liebe – man ist unendlich verletzbar geworden. Daher kommt auch die Versuchung, sich außen vor zu halten und kein Risiko einzugehen. Sich mit dem bequemen Leben, dem über­schaubaren Leben zu begnügen. Ein Versuchung, die sich wirklich bemerkbar macht in unserer modernen kalten Zeit, weil es eine reelle Möglichkeit ist, sich das Leben vom Leibe zu halten.

Es hat zum Beispiel nie so viele Menschen gegeben, die es vorziehen, allein zu leben, wie heute. Und es ist tatsächlich möglich, sich in gewissem Umfang gegen die Übergriffe des Lebens in Gestalt von Armut und Krankheit zu versichern, jedenfalls hier in Dänemark, und wir sorgen für die Sicherheit und Geborgenheit und Vorhersagbarkeit und versuchen uns selbst einzubilden, dass das höchste Glück darin liegen muss, dass wir alles lenken können. Aber wir erleben doch auch, dass das Leben kalt wird, wenn wir es nicht wagen, uns im Verhältnis zueinander zu engagieren. Wie z.B. wenn man sich auf ein Liebesverhältnis mit dem Vorbehalt einlässt, ”wir können ja sehen, wie es geht”. Die Wahrheit ist ja nur dort zu erreichen, wo man sich selbst zu riskieren wagt. Wird man von der großen Liebe ergriffen, muss man immer am Rande der tiefsten Angst und des größten Schmerzes leben. Der Angst, zu verlieren, der Angst davor, dass das Böse den treffen kann, den man liebt. Wer liebt, hat sein Zentrum außerhalb seiner selbst, nämlich bei dem, den er liebt. Dann ist man nicht mehr der Herr seines eigenen Schicksals, nein, aber da erst kann das Leben Leben werden. Darum ist Maria gerade nicht unberührt, als sie ihren Lobgesang singt. Sie ist vom Leben selbst berührt, – vom Heiligen Geist – von Gott selbst.

Sie muß ihre Unberührtheit aufgeben und sich dem Leben, dem Neuen und Unbekannten, anvertrauen. Und sie tut es. Aber in dem Augenblick, da sie es tut, sieht sie auch, dass eben dieses Leben das Leben aus der Hand Gottes ist.

Denn das ist ja der Sinn des Lebens, unsere Hoffnung und unser Heil, dass Gott uns ruft, dass er uns berührt, uns ruft und uns braucht. Dass er uns nicht auserwählte, weil wir stark sind und selbst handeln können, sondern vielmehr unsere Macht beiseite schiebt und uns die Stärke und die verborgenen Kräfte in dem Leben zeigt, das in Liebe auf das Wort Gottes hört. Das gewöhnliche Leben. Dein und mein Leben – wenn wir es wagen. Dann sehen wir, daß auch unser Leben in Gottes liebevollen Händen ruht, und dann können auch wir den Lobgesang anstimmen: Meine Seele erhebet den Herrn! Amen.

Propst Birgit Hesselager
Søborg Præstegård
Bygaden 40B
DK-3250 Gilleleje
Tel.: + 45 48 39 17 25
E-mail: bhas@km.dk

Übersetzt von Dietrich Harbsmeier

 

 

 


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