Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Invokavit, 13. Februar 2005
Predigtreihe "Psalmen der Passionszeit"
Predigt zu Psalm 91, verfasst von Wolfgang Vögele
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„Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt, der spricht zu dem HERRN: Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe. Denn er errettet dich vom Strick des Jägers und von der verderblichen Pest. Er wird dich mit seinen Fittichen decken, und Zuflucht wirst du haben unter seinen Flügeln. Seine Wahrheit ist Schirm und Schild, daß du nicht erschrecken mußt vor dem Grauen der Nacht, vor den Pfeilen, die des Tages fliegen, vor der Pest, die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die am Mittag Verderben bringt. Wenn auch tausend fallen zu deiner Seite und zehntausend zu deiner Rechten, so wird es doch dich nicht treffen. Ja, du wirst es mit eigenen Augen sehen und schauen, wie den Gottlosen vergolten wird. Denn der HERR ist deine Zuversicht, der Höchste ist deine Zuflucht. Es wird dir kein Übel begegnen, und keine Plage wird sich deinem Hause nahen. Denn er hat seinen Engeln befohlen, daß sie dich behüten auf allen deinen Wegen, daß sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest. Über Löwen und Ottern wirst du gehen und junge Löwen und Drachen niedertreten.
‚Er liebt mich, darum will ich ihn erretten; er kennt meinen Namen, darum will ich ihn schützen. Er ruft mich an, darum will ich ihn erhören; ich bin bei ihm in der Not, ich will ihn herausreißen und zu Ehren bringen.
Ich will ihn sättigen mit langem Leben und will ihm zeigen mein Heil.’“

Liebe Gemeinde,

der Sonntag Invokavit, zu Beginn der Passionszeit, hat seinen Namen von der lateinischen Antiphon, die an diesem Tag im Gottesdienst gesungen wurde: „Invocavit me, et ergo exaudiam eum.“ Das ist die lateinische Übersetzung von Ps 91, 15: (Gott spricht): „Er ruft mich an, darum will ich ihn erhören; ich bin bei ihm in der Not, ich will ihn herausreißen und zu Ehren bringen.“
In diesem Jahr steht der Sonntag Invokavit in unmittelbarer Nähe zum 300. Todestag des Kirchenreformers und Begründers des lutherischen Pietismus: Philipp Jakob Spener(*) wirkte in Straßburg, Frankfurt, Dresden und Berlin und starb dort am 5.Februar 1705. Er wurde auf dem Friedhof neben der Nikolaikirche begraben.
Im Ablauf des Kirchenjahrs war der Sonntag Invokavit immer dem Thema der Versuchung gewidmet. Im Gottesdienst wird als Evangelium die Geschichte von der Versuchung Jesu gelesen, als alttestamentliche Lesung die Geschichte von der Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies.
Der 91. Psalm will dazu auf den ersten Blick so gar nicht passen, ist er doch ein Psalm der Freude, des Jubels über die Begleitung, den Trost und den Segen Gottes – und dennoch verraten Jubel, Gewissheit und Glaube, die im Psalm intoniert werden, etwas über das Gegenteil davon: über Anfechtung, Ungewissheit, Angst und Sorge. Vor allem aber ist der 91. Psalm ein Psalm über das Beten. Darüber, liebe Gemeinde, will ich mit Ihnen nachdenken.

*

Wer beten will, achtet nicht nur auf die Worte, die er spricht. Genauso wichtig ist das, was man Stimmung, Einstellung, Achtsamkeit des Gebets nennen könnte. Betrachtet man das Gebet unter diesem Gesichtspunkt, so kann man es mit Freude und Trauer vergleichen.
Ich freue mich.
Ich bete.
Ich bin traurig.
Wer sich freut, der ist hoch gestimmt, der lacht, dessen Herz fließt über. Wer sich freut, der ist dankbar. Diese Stimmung erfasst den ganzen Menschen. Er ist ganz Lachen, ganz Lächeln, ganz Aufmerksamkeit, ganz Ausgelassenheit. Er konzentriert sich auf das, was ihn zur Freude gebracht hat. Und darüber vergisst er sich selbst, seine Sorgen und Nöte, seine Ängste, rücken für die Momente und Zeiten der Freude in den Hintergrund. Wer sich freut, blendet das Unfreundliche aus. Freude greift im ganzen Menschen Raum, in seinen Gedanken, in seiner Stimmung, in seinen Gefühlen. Freude ist ein Zustand der Leichtigkeit, der Heiterkeit, der Gelassenheit. Zur Freude gehört Feiern, überschäumende, durch nichts zu bremsende Begeisterung, überbordender Enthusiasmus. Der Fußballfan jubelt über das Tor seines Lieblingsstürmers und stimmt in Jubelgesänge ein: We are the champions. Braut und Bräutigam freuen sich über ihr Hochzeitsfest. Eltern freuen sich über die Geburt des ersten Kindes. Der Student freut sich über das bestandene Examen. Freude ist kein Dauerzustand; sie kann auch schnell wieder verfliegen, manchmal innerhalb von Momenten. Die gegnerische Mannschaft erzielt im Gegenschlag ein Tor. Der Alltag der Ehe erweist sich als mühsam und konfliktträchtig. Auf das bestandene Examen folgt kein Stellenangebot. Trotzdem sind die Momente und Zeiten großer und kleiner Freuden Höhepunkte des Lebens.

Wer traurig ist, der ist ganz anders gestimmt. Wer traurig ist, der schweigt, der will vielleicht gar nicht reden, der will sich viel lieber in sich selbst zurückziehen. Auch die Traurigkeit erfasst den ganzen Menschen. So etwas wie halbe Traurigkeit gibt es nicht. Traurigkeit hat immer einen Grund, und das Denken und Fühlen des Trauernden richtet sich darauf wie auf einen Magneten aus. Das, was einen traurig macht, zieht einen „hinunter“. Über der Traurigkeit vergisst der Trauernde alles andere, Zeiten der Freude, alles, was schön war und ist im Leben, auch die Freundinnen und Freunde, Partnerinnen und Partner. Traurigkeit kann einsam machen, im schlimmeren Fall sogar dauerhaft isolieren. Wer einen lieben Menschen durch Krankheit und Tod verliert, wer sich von seinem Partner oder seiner Partnerin trennt, gerät in eine schwierige Lebensphase, in der er diesen Verlust verarbeiten muß. Niemand macht das gern, aber er ist dazu gezwungen. Im Gegensatz zum Menschen, der sich freut und der sich selbst vergessen kann, ist der Trauernde in besonderer Weise bei sich selbst. Er ist fixiert auf den Grund der Traurigkeit, auf den verlorenen Partner, auf den gestorbenen Menschen. Dem Trauernden fällt es schwer, sich aus dieser Traurigkeit zu befreien. Traurigkeit kann wie ein Gefängnis sein. Man braucht jemanden, der einem dieses Gefängnis als Helfer, Tröster, Beisteher wieder aufschließt, um ganz langsam aus der Phase der Traurigkeit herauszufinden.
Wer sich freut, der vergisst sich selbst über dem Grund der Freude. Wer trauert, wird auf sich selbst und auf den Grund der Trauer zurückgeworfen. Freude führt über mich selbst hinaus. Trauer führt auf mich selbst zurück. Was hat das nun mit dem Beten zu tun?

*

Wie die Freude und die Trauer verändert das Beten die Person. Beten ist mehr als ein Sprechen und Nachsprechen von Sätzen und Worten. Aber Gebet ist nicht eine rein rationale, intellektuelle Übung. Wie überhaupt Glaube mehr ist als ein bestimmtes Wissen, das man als überzeugende Wahrheit erkannt hat.
Spener lag sehr an einem von praktischer Erfahrung gesättigten, lebensorientierten Christentum, und darum schrieb er: „Denn ein intellektueller Sieg und Überzeugtsein von einer Wahrheit ist bei weitem noch nicht der Glaube.“ Aus dieser Perspektive stellte Spener die Frage: „[W]ie bringen wir den Kopf ins Herz? Ich leugne nicht, dass mich solches so bewegt hat, dass ich diese Frage meiner Tage nicht vergessen werde.“ Das war für ihn entscheidend: Christliches Leben ist wichtiger als Wissen. Erfahrung steht vor Glaubenssatz. Glaube ist mehr als eine Summe von Lehrsätzen, deren Wahrheitsgehalt unbedingt anzuerkennen ist.
Die unaufdringliche Hartnäckigkeit und die freundliche Unbeirrbarkeit sind beeindruckend, mit denen Spener Kirchenreformen forderte und zum christlichen Neuanfang bewegen wollte. Ihn störte die rechthaberische Erstarrung der Kirche, der Kirchen seiner Zeit. Er wollte aufbrechen, einen neuen Anfang wagen. Darum wird er heute als theologischer Gesprächspartner wieder interessant.
Das Predigen allein reichte Spener dafür nicht, nach seiner Überzeugung waren die Kirchenversammlungen von entscheidender Bedeutung. Das Hören auf die Predigt sollte nach Speners Überzeugung nicht nur Wissen vermitteln. Es sollte zur Gemeinschaft der Kirche führen, zu gegenseitiger Liebe unter Christen, zu geschwisterlichen Liebe unter allen Menschen, zu Taten und Handlungen des Glaubens.
Für Spener war es wichtig, dass Christen in der einmal erkannten Wahrheit bleiben. Christen sollen sich, schreibt er, dahin „befleißigen (…), wie wir uns selbst und die Unsrigen, auch übrige Glaubensbrüder, in der erkannten Wahrheit bekräftigen, stärken und umgekehrt vor aller Verführung mit großer Sorgfalt bewahren.“ Der Kräftigung und Stärkung bedürfen Glaube und Gewissheit der Christen.
Christlicher Glaube lebt von einer Gewissheit, die ein Geschenk ist. Und ich sage auch: Mit dem Glauben und dem Beten zusammen hängt eine bestimmte Stimmung, eine Haltung des Menschen. Diese lässt sich als geschenkte Gewissheit beschreiben.
Solche geschenkte Gewissheit ist das Leitmotiv des 91. Psalms. Er ist ganz – um ein musikalisches Bild zu gebrauchen – in einer Tonart geschrieben und gestimmt, die Freude, Zuversicht und Hoffnung ausdrückt. Gott beschützt uns Menschen in allen Gefahren – so lautet die Tonart, so etwas wie das Jubel-C-Dur des Glaubens.
Gott ist meine Burg, meine Zuversicht, mein Retter.
Gott rettet.
Gott tröstet.
Gott begleitet.
Und diesen Gewißheitserfahrungen ordnet der Psalmbeter die Gefahrensituationen bei. Nichts, keine Gefahr, kein Risiko, kein Abgrund, keine Falle kann dem glaubensgewissen Beter etwas anhaben.
Kein Jägerstrick.
Keine Pest.
Keine giftigen Pfeile.
Keine tödliche Seuche.
Keine Löwen.
Keine Ottern.
Keine Drachen.
Alles Gefahren, die der Psalm freimütig anspricht.
Statt dessen Zuversicht und Rettung.
Schutz, Schirm und Schatten.
Erhörung und Heil.

*

Nun vollzieht der Psalmbeter am Ende des Psalmgedichts eine wichtige Wendung, die für das Beten insgesamt von entscheidender Bedeutung ist.
Am Ende des Gewißheits- und Wahrheitspsalms 91 spricht nicht mehr der Beter, der seiner Freude über erfahrenen Schutz und Segen Ausdruck verleiht. Am Ende spricht der Psalmbeter im Namen Gottes. „Er ruft mich an, darum will ich ihn erhören; ich bin bei ihm in der Not.“
Das ist das Erstaunliche und das Unbegreifliche und das Großartige nicht nur am Schreiber dieses Psalms, nein an allen biblischen Schriftstellern, dass sie in der Gewissheit ihres Glaubens keine Scheu haben, im Namen von Gott selbst zu sprechen. Nun kann man über Gott vieles sagen. Aber der Psalmbeter gibt seiner Gottesrede eine bestimmte und eindeutige Richtung.
Der Psalmbeter spricht im Namen Gottes von verheißener Zukunft.
Er stiftet Hoffnung.
Er redet in der Wahrheit.
Er redet vom Gott, der Gebete erhört.
Gott erhört Gebete. Dieser Satz zieht wie von selbst Einwände und Zweifel auf sich. Stimmt das? Gilt das für jeden denkbaren Fall? Ist jedes meiner Gebete erhört worden, so wie ich es mir gewünscht habe? Hat Gott jede Katastrophe verhindert? Hat Gott jede Krankheit, die zum Tode führte, aufgehalten?
Aber diese Frage zielt nicht in die Mitte von dem, was mit Gewissheit gemeint ist. Wir führen Gott nicht mit unseren Wünschen und Bitten an der Nase herum. Wir bitten ihn – und er erhört uns, nicht nach unseren Interessen, sondern nach seiner Barmherzigkeit. Das bedeutet nicht, dass wir Gott missbrauchen dürfen, so als würde Gott Krankheiten und Katastrophen schicken, um Menschen zu bestrafen. Eine solche Erklärung würde es sich mit Gott viel zu einfach machen.
Gott erhört Gebete. Diese Gewissheit speist sich nicht aus alltäglicher Erfahrung. Im Angesicht von Katastrophen, Krankheiten und Elend kann alltägliche Erfahrung nur in Traurigkeit und Verzweiflung führen. Der Psalmbeter lehrt uns, einen anderen Blickwinkel einzunehmen, einen Blickwinkel der Hoffnung, des Glaubens – und Spener hätte hinzugefügt – der Praxis der Liebe.
Es ist besondere Blickwinkel der Bibel. Danach macht sich Gott den Menschen bekannt, nicht als unnahbares Schicksal, nicht als allmächtiger Tyrann, nicht als gleichgültiges Prinzip, sondern als ein lebendiger Gott, der antwortet auf die Gebete der Menschen. Er antwortet. Das ist etwas anderes als einfach ein Echo zurückwerfen. Das folgt nicht dem Prinzip: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es auch wieder heraus.
Stattdessen: Gott antwortet. Dessen können wir uns gewiß sein. Darauf können wir uns verlassen. Das stiftet eine Gewissheit, die durch ein ganzes Leben hindurchtragen kann – und auch darüber hinaus.

Und der Friede Gottes, welcher in uns Gewissheit und Glauben stiftet, bewahre uns alle in Christus Jesus. Amen.

PD Dr. Wolfgang Vögele
Evangelische Akademie zu Berlin
Charlottenstr.53-54
10117 Berlin
Tel.: 030 20355 505
voegele@eaberlin.de
www.eaberlin.de

(*) Weitere Informationen über Spener unter http://www.ekd.de/leben_glauben/74_spener.html

 


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