Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Aschermittwoch, 9. Februar 2005
Predigt über Joel 2,12-18, verfasst von Stefan Knobloch
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Umkehr? Aktuelle Herausforderungen

Aschermittwoch 2005. Stößt der Aschermittwoch dieses Jahres bei uns auf eine andere Nachdenklichkeit als sonst? Trifft er uns in einer anderen Verfassung als sonst? Man möchte es vermuten. Denn der verheerende Tsunami des 2. Weihnachtsfeiertages – des letzten Jahres; so muß man jetzt schon wieder sagen, obwohl alles noch so frisch in Erinnerung ist – hat nicht nur eine unvorstellbare Zahl von Opfern gefordert und eine unvorstellbare Verwüstung angerichtet. Er hat uns auch in einem ungewöhnlichen Ausmaß betroffen gemacht und unsere nachhaltige Hilfe ausgelöst. Andere Themen traten in diesen letzten Wochen dahinter zurück, sei es die LKW-Maut, Hartz IV oder die Nebenverdienste von Abgeordneten.

Wie Umfragen ergaben, besann sich offenbar unter dem Eindruck des Seebebens und seiner Folgen ein großer Teil unserer Bevölkerung wieder der Religion. Der Anteil derer, die auf die Frage mit Ja antworteten, ob in unserer Zeit dem christlichen Glauben noch Bedeutung zukomme, stieg vom Dezember 2004 bis zum Januar dieses Jahres von 45 auf 52 Prozent. Und selbst in den neuen Bundesländern stieg dieser Anteil von 27 auf 35 Prozent. Man muß das nicht überinterpretieren, aber auf eine andere Nachdenklichkeit deutet das alles schon hin.

1. Die konkrete Situation zur Zeit Joels

In Jerusalem zur Zeit des Propheten Joels, im 5. oder 4. Jahrhundert vor Christus, – die Zeit läßt sich nicht genau datieren – muß etwas vergleichbar Ähnliches geschehen sein. Damals war es kein Tsunami, damals waren es Heuschrecken, die das Land befallen und ihm schwer zugesetzt hatten. Heuschrecken? Tauchen da nicht in unserer Erinnerung Bilder vom Spätherbst des letzten Jahres auf, als große Heuschreckenschwärme Nordwestafrika heimgesucht hatten? Eine Plage, die für uns ihre abschreckende Wirkung allerdings erst in dem Moment entfaltete, als uns die Bilder der auf die Kanarischen Inseln einfallenden Heuschrecken erreichten. Das war nichts für unser touristisches Gemüt, das dabei sogleich ruhiggestellt wurde durch die Versicherung, die Heuschrecken seien durch ihren Wanderweg von Afrika bis zu den Kanaren derart erschöpft, daß sie hier ohne Nachkommen den Tod finden würden.

Der Einwohner Jerusalems hatte sich ein durch Heuschrecken verursachtes, aber in der Wirkung eher dem Tsunami ähnliches Massenelend bemächtigt. In dieser Situation ruft der Prophet Joel zur Besinnung und zur Umkehr zum Herrn auf. Das mag uns zwiespältig berühren. Wir könnten daraus schnell heraushören, nach Joels Auffassung und nach der Auffassung der Menschen damals sei hinter der Heuschreckenplage die strafende Hand Gottes zu vermuten. Mit solchen Zuweisungen hätten wir unsere Schwierigkeiten. Und es dürfte uns – um noch einmal auf das Seebeben in Südasien zu kommen – tief befremdet haben zu lesen, daß die Hilfsaktionen mancher arabischer Staaten nur zögerlich einsetzten, weil bei ihnen die Meinung vorherrschte, die islamischen Glaubensbrüder und –schwestern der betroffenen Länder seien aufgrund ihres lasziven Lebenswandels von Allah bestraft worden. Im Fall des Joel müssen wir das nicht annehmen. Hier liegen wir eher richtig, wenn wir annehmen, daß sein Aufruf zur Umkehr zu Jahwe eine Umkehr zu dem meint, von dem Rettung kommt, da er gütig und barmherzig ist. Damit verbindet sich auf einer zweiten Motivationsebene ein Verständnis der Umkehr, die die wirkliche Hinkehr des Menschen zu Gott meint. Und zwar Umkehr in Gestalt des Fastens.

Wenn wir Fasten hören, denken wir an Übergewicht und an den Winterspeck, den wir loswerden wollen. Man will ja in die leichtere Kleidung des Frühjahrs und des Sommers passen und darin eine gute Figur machen. Bei Joel wie überhaupt im Alten Testament hatte das Fasten eine andere Dimension: Fasten galt als Vorbereitung der Begegnung mit Gott. Es war geistlich-spirituell ausgerichtet, exakt in dem Sinn, in dem Joel sagt: „Zerreißt eure Herzen, nicht eure Kleider. Wendet euch wieder dem gnädigen und barmherzigen Herrn zu.“ Vom gnädigen und barmherzigen Herrn zu sprechen, dürfte uns wohl auch nicht so ohne weiteres über die Lippen kommen. Anders bei den Menschen damals. Sie verbanden mit „gnädig“ und „barmherzig“ Erinnerungen an reale zwischenmenschliche Erfahrungen, wo einer dem anderen nicht nur der inneren Gesinnung nach wohlgesonnen war, sondern diese Gesinnung in der guten Tat zum Ausdruck brachte. Ein solches Geschenk der Zuwendung eines Menschen zu einem anderen übertrug man auf Gott, wobei man sich sicher war, daß seine Zuwendung zu den Menschen die menschliche Zuwendung um Lichtjahre übertraf.

Vor dieser Sicherheit der Menschen damals bezüglich der Nähe Gottes möchten wir vielleicht neidvoll erblassen. Kämen wir heute auf den Gedanken, Gott „gnädig“ und „barmherzig“, „langmütig“ und „reich an Güte“ zu nennen? Damals vermochten das die Menschen. Zumindest kehrten sie immer wieder nach Zweifeln und Abfall zu dieser Glaubensgewißheit zurück. Und wir? Fasten wir allenfalls, weil wir dabei ängstlich auf die Waage schauen? Ohne den Bezug zu tieferen Dimensionen unseres Lebens? Ganz so ist es wohl nicht. Viele Menschen haben sich – wie auch die erwähnte Umfrage nahelegt – einen Sinn für Gott bewahrt. In ihrem Leben geschieht vielfach das, was man die Suche, die Frage nach Gott nennen kann, auch wenn ihre Suche nicht in den herkömmlich religiösen Formen erfolgt. Denken wir also vom heutigen Menschen nicht religions- und gottloser als er ist!

2. Die Inszenierung der Umkehr bei Joel

Joel richtete seinen Appell zur Umkehr zuerst gewissermaßen an die einzelnen, daß sie sich in eigener Person zur Besinnung auf Gott auf den Weg machten, in Fasten, Weinen und Klagen. Das aber führt ihn in Gedanken weiter zu den rituellen Speise- und Trankopfern. Damit öffnete er nicht nur die private Buße zu einer öffentlich-kollektiven, er machte darin zugleich auch deutlich, daß nur die aus lauterem Herzen dargebrachten Speise- und Trankopfer das Gefallen Gottes finden. Zugleich ist ihm das die gedankliche Brücke, einen öffentlichen gemeinsamen Bußritus im Tempel einzufordern. Um das Heiligtum des Tempels sollten sich alle versammeln. Und Joel nimmt niemanden davon aus, weder Alte noch Junge, selbst an die Säuglinge hat er gedacht und nicht zuletzt an die Verliebten, an Braut und Bräutigam, denen der Sinn eher nach etwas anderem steht als nach der Teilnahme am Tempelgottesdienst. Es entfaltet sich ein Ritus ähnlich dem des großen Versöhnungstages, nur daß bei Joel in den Klagen der Priester Jahwe gewissermaßen selbst bei der Ehre gepackt wird: Wie sollte Jahwe den Völkern ringsum Anlaß geben, daß sie sein Volk verspotteten: „Wo ist denn ihr Gott Jahwe?“ Und es ist menschlich anrührend geschildert, wie sich Jahwe seiner Leidenschaft für das Volk besinnt und sein erbetenes und erwartetes Erbarmen zeigt: „Ihr werdet erkennen,“ so heißt es am Ende, „daß ich mitten in Israel bin und daß ich der Herr, euer Gott, bin, ich und sonst niemand. Mein Volk braucht sich nie mehr zu schämen“ (Joel 2,27).

3. Die Inszenierung der Umkehr heute

3.1 Vertrauen in Gott fassen

Auf welche Gedanken bringt uns dieser Joel-Text? Wenn wir diese Einladung zur Umkehr auch als eine an uns gerichtete Einladung verstehen? Das Wort Umkehr hat wohl in unseren Ohren zunächst keinen guten Klang. Es klingt düster, nach Entbehrung, Einschränkung, Verzicht, vielleicht sogar nach Einbuße an Lebensqualität. Gewiß, im Raum unserer Gesellschaft ist seit geraumer Zeit so etwas wie eine gewisse Umkehrbereitschaft zu erkennen. 70 Prozent der Bevölkerung waren dieser Tage der Meinung, Deutschland sei in einer Krise und es müsse sich unbedingt etwas ändern. Die Änderung, die man hier erwartet und erhofft, geht in Richtung der Besserung der jetzigen Situation, geht zu mehr sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit, in Richtung eines allgemeinen Aufatmens. Das liegt einerseits gar nicht so fern den Hoffnungen, die sich die Menschen zu Joels Zeiten damals machten. Ihre Hoffnungen, die sich auf Jahwe richteten, waren sehr diesseitig orientiert, waren bezogen sich auf ihr reales Leben. Insofern hatten ihre Hoffnungen damals mit unseren Hoffnungen heute etwas gemeinsam.

Darüber aber ist der Unterschied zu heute – wenn ich das hier etwas verallgemeinernd sagen darf – nicht übersehen werden. Die Menschen richteten ihre Hoffnung auf Jahwe. Sie wußten ihr Leben real bezogen auf und abhängig, im Sinn einer schützenden und bergenden Abhängigkeit, von Gott. Eben das fällt uns schwerer. Umkehr könnte deshalb für uns als einzelne zuerst heißen, in uns jenes Vertrauen aufzusuchen und zur Grundlage unseres Lebens zu machen, das uns erahnen läßt, daß unser Leben in tieferen Zusammenhängen verankert ist, die wir nicht herstellen können, sondern die uns geschenkt sind. Umkehr könnte für uns – wenn wir denn in einer gewissen Nähe zur christlichen Gemeinde leben - bedeuten, die von dieser Gemeinde getragene und weiter vermittelte Botschaft des Evangeliums an uns etwas näher herankommen zu lassen. Und zwar in einer uns heute gemäßen Weise. Und da fällt auf, daß für uns die Botschaft des Evangeliums häufig erst dann relevant wird und ist, wenn sie den Filter unserer eigenen Erfahrungsevidenz durchlaufen hat. Nur, was sich vor unserer eigenen Erfahrung bewährt hat und wertgeschätzt wird, wird innerlich von uns übernommen. Das aber kann dann gewissermaßen zum Einfallstor – auf der Grundlage des Vertrauens – für mehr werden. Zum Einfallstor einer weitergreifenden Beschäftigung mit dem Evangelium, bei der unserem Leben immer mehr Lichter aufgehen können. Und dies alles auf der Basis des Vertrauens, als erstem Schritt der Umkehr zu Gott.

3.2 Mütterliche Einfühlsamkeit zeigen

Joel charakterisiert Gott als gnädig, barmherzig, langmütig und gütig. Im Hintergrund stehen hier hebräische Wortstämme, die Gott als mütterlich, einfühlsam, ja geradezu als in seiner Liebe verletzlich wahrnehmen. Wenn wir daraus etwas für uns ableiten wollen, dann dies, ihn, Gott, in seiner Mütterlichkeit und Einfühlsamkeit nachzuahmen; besser gesagt, uns an seiner Mütterlichkeit zu orientieren. Die weltweite durch die Flutkatastrophe ausgelöste Solidarität kann in der Tat als sprechendes Zeichen dafür angesehen werden, daß wir in Sternstunden der Menschlichkeit zu solcher Mütterlichkeit und Einfühlsamkeit in der Lage sind. Nur sollen diese Erfahrungen den Moment überdauern. Sie sollen sie Nachhaltigkeit an sich haben, damit die Katastrophengebiete nicht in dem Moment dem Vergessen anheimfallen, in dem die Meldungen über sie ausbleiben. Umkehr kann hier also heißen, die Bande der Solidarität strukturell zu verstetigen, um so an dieser Stelle durch unser aller Mithilfe der mit Recht so oft beargwöhnten Globalisierung mütterlich-einfühlsame Züge zu verleihen.

3.3 Aktuelle Herausforderungen annehmen

Und noch in einer dritten und letzten Hinsicht scheint unsere Umkehr heute herausgefordert. Wir begehen in diesen ersten Monaten des Jahres 2005 das 60jährige Gedächtnis der Ereignisse der letzten Monate des 2. Weltkriegs. Wir gedenken der Opfer an den Fronten, der Häftlingsbefreiung in Auschwitz, der Todesmärsche anderer Lager, der Flüchtlingstrosse aus dem Osten, der Bombardierung unserer Städte. Erinnerungen, die einen stumm machen angesichts der Abgründigkeit der Verbrechen, zu denen Menschen fähig sind. Darüber lagert sich in unseren Tagen die akute Problematik des internationalen Terrorismus, der Auswirkungen bis in unser Land hat. Was kann vor diesem zweifachen Hintergrund Umkehr heißen?

Im Blick auf die Ereignisse vor 60 Jahren kann Umkehr bedeuten, sich der blinden Borniertheit der Leugnung, der Relativierung und Verharmlosung der damaligen Verbrechen entgegenzustellen, ihrer agitatorischen Umdeutung durch einsichtslose Neo-Nazis Widerstand entgegenzusetzen, eingedenk des Satzes aus dem Evangelium: „Die Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh 8,32).“ Durch stummes Zusehen machen wir uns mitschuldig, lassen wir es an Umkehr fehlen. Und Ähnliches gilt in anderer Weise angesichts der in Gang gekommenen Auseinandersetzung mit den Muslimen in unserem Lande und mit dem Islam insgesamt. Die Angst vor dem internationalen islamistischen Terrorismus verführt dazu, unser Unterscheidungsvermögen zu dispensieren und alles in einen Topf zu werfen. Dann ist es rasch einfach der „Islam“, von dem die Gefahr ausgehe. Umkehr heißt hier, genau hinzuschauen, zu unterscheiden und sich kundig zu machen. Ehrlich: Wer von uns befaßt sich schon mit dem Koran, wo wir kaum der Bibel mächtig sind? Umkehr heißt hier, soziale Kontakte aufzunehmen zu muslimischen Nachbarn und Nachbarkindern, zu Arbeitskollegen und Geschäftsleuten usw. Umkehr heißt hier, sich die eigenen versteckten Vorurteile einzugestehen und an ihnen zu arbeiten. Umkehr heißt hier mit einem Wort, im Umfeld des eigenen Lebens Gesten der Versöhnung und der gegenseitigen Aufmerksamkeit zu setzen.

Wir sind durch unseren Joel-Text in mehrfacher Weise herausgefordert. Nehmen wir diese Herausforderungen an, damit wir in einer alle kulturellen und religiösen Gegensätze überwindenden Erfahrung die Ahnung vorausnehmen, daß Gott mit uns allen, mit seiner ganzen Menschheit, ist.

Prof. Dr. Stefan Knobloch
Dr.Stefan.Knobloch@t-online.de


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