Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Estomihi, 6. Februar 2005
Predigt über Lukas 10, 38-42, verfasst von Gerhard Prell
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(38) Als sie aber weiterzogen, kam er in ein Dorf. Da war eine Frau mit Namen Marta, die nahm ihn auf.
(39) Und sie hatte eine Schwester, die hieß Maria; die setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seiner Rede zu.
(40) Marta aber machte sich viel zu schaffen, ihm zu dienen. Und sie trat hinzu und sprach: Herr, fragst du nicht danach, daß mich meine Schwester läßt allein dienen? Sage ihr doch, daß sie mir helfen soll!
(41) Der Herr aber antwortete und sprach zu ihr Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe. Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.

Liebe Schwestern und Brüder,
vor allem aber zunächst: liebe Schwestern,

mögt ihr diese Geschichte?
Etliche Mütter und tüchtige Hausfrauen haben auch mir schon des Öfteren gesagt: „Ich habe sie noch nie richtig leiden können! Da wird doch der Wert der Arbeit in Haushalt und Familie herabgesetzt!” - Wahrscheinlich denken viele von euch auch so, nicht nur unter den Frauen. Grund genug, einmal die beiden so unterschiedlichen Schwestern in dieser Geschichte genau zu betrachten und zu würdigen.

Marta lernen wir kennen als eine tatkräftige, fleißige und gastfreie Frau.
Ob sie verheiratet ist oder alleinstehend, ob sie Kinder hat oder nicht, erfahren wir nicht. Aber daß sie Jesus eingeladen hat mitsamt allen, die mit ihm zogen, 15 oder 20 oder 30 Leute bestimmt, das war jedenfalls ihre eigene, selbständige Entscheidung - und keineswegs selbstverständlich für eine Frau im Vorderen Orient. Dort pflegen ja bis auf den heutigen Tag eher die Männer ihre Frauen mit Besuchern zu überraschen, ohne daß sie sie vorher fragen, ob es ihnen überhaupt genehm ist. Aber hier ist Marta selbst die Gastgeberin und die Hausherrin. In ihrer Macht steht es, Einladungen auszusprechen und über Küche, Garten, Feld und Stall zu verfügen.
Und nun hat sie alle Hände voll zu tun mit dem Haus voller Gästen. Sie will ihnen ein festliches Essen zubereiten. Und wir sehen sie regelrecht vor uns, wie sie durch das Haus läuft. Wie sie Anweisungen gibt an das Hauspersonal, wie sie die Speisekammer durchsucht und wie sie unter den Schafen, Ziegen oder Kälbern dasjenige Tier aussucht, das der Festbraten werden soll.
Während alledem sitzt ihre Schwester Maria bei Jesus und läßt sie allein arbeiten. Und als Marta sich bei Jesus beschwert, bekommt sie nur Vorwürfe zu hören. Sie mache sich Sorgen und verbreite eine echte Unruhe. Auch ich als Mann würde hier am liebsten sagen: Das ist unfair - nicht nur gegenüber den vielen fleißigen Martas aus unseren Tagen:
Das ist unfair - nicht nur gegenüber denjenigen Frauen, von denen auch heute wieder ihre Männer erwarten, dass um 12.00 Uhr pünktlich die Knödel auf dem Tisch dampfen. Und die an jedem Sonntagvormittag sich viel zu schaffen machen und die viel Sorge und Mühe haben mit dem Haushalt und den Kindern.
Das ist unfair - vor allem auch im Hinblick auf die Wertschätzung oder Geringschätzung von häuslicher Arbeit. Ganz gleich, ob nun Frauen die Arbeit im Haushalt verrichten wie noch immer weithin üblich, oder ob sich auch Männer - wenigstens zeitweise - in der Rolle eines Hausmannes vorstellen können, wie es in unseren Tagen mehr und mehr der Fall ist - da kämpfen wir seit Jahren darum, daß auch die schwere Arbeit in der Familie und im Haushalt als gleichwertig angesehen wird gegenüber der Erwerbstätigkeit. Und dann wird unser ganzes Bemühen mit einem Satz zunichte gemacht: : Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe. Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt.
Und wieso kommt eigentlich keiner von den vielen Männern Marta zu Hilfe? Es ist uns doch bekannt aus der Jesus - Bewegung, dass in ihr die traditionellen Geschlechterrollen weitgehend aufgehoben waren.

Das können wir an Maria sehen.
Sie setzte sich Jesus zu Füßen, so hören wir, und hörte seiner Rede zu.
Das dürfen wir uns nun nicht so vorstellen, als habe Maria demütig und schweigend dagesessen, während die Männer redeten und Marta arbeitete. Das Sitzen zu Füßen ihres Meisters - das war damals die Haltung der Rabbinenschüler. So sagt auch Paulus zu den Mitgliedern im Hohen Rat Jerusalems im Rückblick auf seine pharisäische Vergangenheit: Ich bin ein jüdischer Mann, geboren in Tarsus in Zilizien, aufgewachsen aber in dieser Stadt und mit aller Sorgfalt unterwiesen im väterlichen Gesetz zu Füßen Rabbi Gamaliels, und war ein Eiferer für Gott, wie ihr es heute alle seid. (Apg.22,3)
So muß ich, wenn ich Maria zu Füßen des Rabbis Jesus sitzen sehe, an den Film „Yentl” denken, in dem Barbra Streisand die einzige Tochter eines osteuropäischen Rabbis spielt. Und entgegen der Regel im Talmud: „Wer seine Tochter das Gesetz lehrt, lehrt sie Albernheit” (Sota 3,4) unterweist der Vater seine Tochter Yentl in der Lehre des Talmud. Als der Vater stirbt, will Yentl weiterhin den Talmud studieren. Doch weil dies - im chassidischen Judentum übrigens bis heute - den Frauen streng verboten ist, verkleidet Yentl sich als Mann, läßt sich in eine Rabbinenschule aufnehmen und wird Schriftgelehrte.
Maria hingegen muß sich nicht als Mann verkleiden. Jesus, ihr Rabbi, erlaubt es ihr, aus der traditionellen Frauenrolle auszubrechen. Ohne ihr Frausein verleugnen zu müssen, darf Maria bei ihm zu seinen Füßen sitzen, mit ihm diskutieren, kurz: Theologie studieren. So hören wir heute von Jesus selbst, dass Frauen ihm auch als Pfarrerinnen willkommen sind. Dass sie ihm als Gemeindeleiterinnen, Verkünderinnen des Evangeliums und als Verwalterinnen seiner Sakramente ebenso genehm sind wie Männer: Maria hat dieses gute Teil erwählt. Das soll ihr nicht genommen werden.

Marta hingegen ist aus anderem Holz als ihre Schwester. Zwar verharrt sie in ihrer eher traditionellen Frauenrolle. Aber sie füllt sie mit ihrer ganzen Person aus. Für sie ist es kein auferlegter Zwang, wenn sie ihren Haushalt in Schuss hält, wenn sie Gäste bewirtet, organisiert und zupackt. Sie ist nicht das geschmähte Heimchen am Herd, sie ist kein langweiliges, häusliches Mauerblümchen. Sondern sie ist Hausherrin, selbständige Bäuerin, Unternehmerin. Sie gibt Anweisungen und versteht es, andere einzuspannen - vor allem freilich ihre - wohl jüngere – Schwester Maria. Und sie traut sich, ihr Unbehagen auszusprechen und Jesus Vorwürfe zu machen: Herr, fragst du nicht danach, dass mich meine Schwester lässt allein dienen? Sage ihr doch, dass sie mir helfen soll!
Und Jesus? So viel ist jedenfalls sicher: Jesus weiß, daß er und die Seinen solche Martas brauchen, sonst könnten sie nicht leben. Ja, es gäbe nirgendwo ein Gemeindeleben ohne solche fleißigen Martas. Es hätte wohl keine Reformation gegeben, wenn Luther nicht seine Käthe gehabt hätte, die ihm den Rücken für sein akademisches Lehren und Bücherschreiben freigehalten hätte, die mit den knappen Haushaltsmitteln zu wirtschaften verstand und die Gäste bewirtete, während er seine Tischreden hielt, und die er darum immer wieder als eine Marta bezeichnete. Und es gäbe auch in unserer Kirchengemeinde etliches nicht ohne den Dienst solcher Martas.

So schätzt Jesus auch den Dienst der Marta nicht gering - er weiß, wie dringend er und die Seinen ihn brauchen. Sonst hätte er wohl auch zu Marta gesagt, sie solle sich zu ihm setzen wie ihre Schwester. Aber er legt keine Frau auf eine bestimmte, von Männern gemachte Frauenrolle fest. Darum sagt er zu Marta, sie solle Maria lassen. Auch die ganz und gar nicht traditionelle Rolle, die Maria gewählt hat, ist ein gutes Teil. Das soll ihr nicht genommen werden.
Es soll den Frauen, die ein Studium absolviert haben und sich geistiger Arbeit widmen, keine traditionelle Frauenrolle vorgeschrieben werden, die durch die drei „K’s“ geprägt ist: Kinder, Küche, Kirche.
Es darf nicht sein, dass Frauen, die berufstätig sind, allein die Sorgen und Mühen der Hausarbeit zu tragen haben und einer Doppelbelastung ausgesetzt sind, während sich berufstätige Männer aus allen Tätigkeiten im Haushalt und bei der Kindererziehung heraushalten.

Und darum wäre es auch eine Verkürzung der Antwort Jesu, an der wir männlichen Prediger nicht unschuldig sind, wenn wir sie so verstehen wollten, als würde Jesus die ganz praktische Arbeit mit den Kindern, in der Küche und in der Kirche gering achten; als sei nur eines wirklich not: der Beruf. Und der Dienst der Gemeindeleitung in Verkündigung und Sakramentsverwaltung, den ja sowohl Männer als auch Frauen, wenn sie beide ehrlich sind, nicht ohne Eitelkeit und Selbstgefälligkeit verrichten. Und auch, wenn hier nicht ausdrücklich erwähnt wird, ob Jesus nicht an Marias Stelle einen oder gleich ein paar von den Männern Marta zur Hilfe geschickt hat - es ist durchaus denkbar, daß es für ihn nicht nur weibliche Martas und Marias gibt, sondern ebenso auch männliche, nennen wir sie Martins und Marios.

Unabhängig von ihrem Geschlecht braucht Jesus als Herr der Kirche ja beide: die Denkerinnen und Denker ebenso wie die Täterinnen und Täter, die in der Öffentlichkeit Stehenden ebenso wie die im Verborgenen Wirkenden, die Aktiven ebenso wie die Kontemplativen.
Eine alte Geschichte vom Berg Athos macht dies deutlich:
Einmal kam ein junger Mönch zum Abt Silvan ins Kloster Sina. Und als er die Mitbrüder dieses Klosters arbeiten sah, sagte er zu dem greisen Abt: „Arbeitet doch nicht um die vergängliche Nahrung. Maria hat den guten Teil erwählt.” Da sprach Silvan zu einem seiner Schüler: „Zacharias, bring dem Bruder ein Buch und schließe ihn in eine Zelle ein, wo er weiter nichts hat.” Als es nun die neunte Stunde war, schaute der junge Mönch auf die Türe seiner Zelle, ob sie jemanden schicken würden, der ihn zum Essen riefe. Als ihn niemand abholte, stand er auf, kam zu Abt Silvan und fragte ihn: „Haben die Brüder heute nicht gegessen?” -„Doch”, antwortete der Greis. Da fragte der junge Mönch: „Warum habt ihr mich dann nicht geholt?” Und Silvan entgegnete: „Da du doch ein geistiger Mensch bist, brauchst du diese Nahrung nicht. Wir fleischlichen Menschen jedoch müssen essen, darum arbeiten wir. Du aber hast den guten Teil erwählt, weil du den ganzen Tag liest und keine fleischlichen Speisen essen willst.” Als das der junge Bruder hörte, fiel er dem Abt zu Füßen und sagte: „Verzeih mir, Vater.” Und der Greis belehrte ihn: „Durchaus braucht Maria die Marta, denn wegen der Marta wird auch die Maria gerühmt.”
Und von der Mystikerin Teresa von Avila ist uns der Satz überliefert: „Glaubt mir, Maria und Marta müssen beisammen sein, um den Herrn beherbergen zu können und ihn immer bei sich behalten zu können, sonst wird er schlecht bewirtet sein und ohne Speise bleiben.”

So sollten wir uns am Ende dieser Geschichte nicht allein fragen, welche von den beiden Schwestern wir sind: Marta oder Maria? Oder vielleicht beide? Nur die eine? Oder vielleicht auch die andere? Nur die Handelnde? Oder auch die Zuhörende und Denkende? Oder nur die Letztere? Auch wir Männer müssen uns dies fragen, wenn wir über Luthers Sinnspruch hinauskommen wollen, der wieder einzig und allein den Frauen die Sorgen und Mühen der Doppelbelastung zumutet, indem er sagt: „Die gute Pfarrfrau, das ist die: beide, Marta und Marie.” Wenn denn ein heiliger Mann und eine heilige Frau, der Abt Silvan vom Athos und die Äbtissin Teresa von Avila, der einhelligen Meinung sind, dass es nicht gut ist, wenn wir nur die eine oder nur die andere sind, wenn es vielmehr beide braucht, um Jesus richtig aufzunehmen, dann müssen wir uns auch fragen, welche von den beiden heute bei uns zu kurz kommt: Marta - die Aktive, die Beschäftigte und Tätige? Oder Maria - die Hörende, Nachdenkende und Empfangende?

Ich fürchte, dass heute wie damals Maria zu kurz kommt.
Wer von uns, ganz gleich, ob Frau oder Mann, hat denn heute noch Zeit zum Hören, Nachdenken und Beten? Oder zum Lesen in der Bibel? Immer haben wir doch zu tun, und selbst in unserer Freizeit, von der wir immer mehr haben, haben wir viel Sorgen und Mühe. Schon unsere Konfirmandinnen und Konfirmanden machen sich einen riesigen Freizeitstress. Oder warum würden Mütter ihre Kinder vom Konfirmandenunterricht entschuldigen mit der Begründung: „Mein Sohn muss heute wieder so viele Hausaufgaben machen und Vokabeln lernen.” Oder: „Meine Tochter schreibt morgen Physikschulaufgabe – das muss doch wenigstens die Kirche verstehen, dass sie keine Zeit hat?”
Warum bleiben so viele junge Menschen dem Gottesdienst am Sonntag fern, weil sie „Wichtigeres” zu tun haben: Sportwettkämpfe. Oder Schularbeiten, für die am Samstag wegen des Trainings oder wegen der Klavierstunde keine Zeit geblieben ist. Und möge Gott durch die Weisheit unserer politisch Verantwortlichen verhüten, dass wir künftig am Sonntag wie an jedem Werktag auch noch einkaufen gehen können oder arbeiten gehen müssen!

Ich meine, daß Jesu Kritik hier berechtigt ist: Marta, Marta, du hast viel Sorgen und Mühe!
Und in der griechischen Bibel fährt Jesus fort: Weniger aber wäre notwendig.
Das hätte damals heißen können: „Eine einfache, schnell zubereitete Mahlzeit ohne große Umstände genügt.” Und heute: „Weniger Aktivität wäre besser für euch! Nehmt euch doch auch Zeit, um zu hören, um nachzudenken, um euch von mir beschenken zu lassen. Seid doch auch einmal nur die Empfangenden. Vertreibt doch nicht die Maria in euch.”
Denn ohne das Hören, ohne das Sich - Hineinversenken, ohne das Beten gibt es keinen Glauben. Und ohne das Glauben taugt auch das Handeln nichts, weil es seine Richtung verliert. Spürt ihr denn nicht, wie euer Leben umso mehr leer und hohl wird, je mehr ihr an Aktivität und Hektik hineinpackt? Maria aber hat das gute Teil erwählt, das soll ihr nicht genommen werden.

So werden wir diese Geschichte vielleicht doch wieder mögen lernen. Es geht ja nicht um die Abwertung notwendiger ganz praktischer Arbeiten in Haus und Familie und Kirche. Es geht auch nicht um die Wertigkeit altüberlieferter und neuer Frauenrollen. Es geht überhaupt nicht nur um die Frauen, sondern um die Männer ebenso.
Dass der Evangelist Lukas diese Geschichte einrahmt vom Gleichnis des barmherzigen Samariters, das ihr vorausgeht, und vom Vaterunser, das ihr folgt, das zeigt vielmehr, daß es beide braucht, um Jesus richtig aufzunehmen, Marta und Maria, den in der Liebe tätig werdenden Glauben und die im Glauben hörende und empfangende Liebe. Und dass wir uns ganz gewiß kein schlechtes Teil erwählen, wenn wir uns in aller notwendigen und in aller überflüssigen Aktivität und Hektik auch die Zeit nehmen zum Beten, Hören und Empfangen.
Denn das Empfangen und Hören geht allem Tun der Liebe voraus, und der Glaube nimmt aller Sorge die drückende Last und aller Mühe die Vergeblichkeit. Dieses gute Teil darf uns, so will es Jesus, niemand nehmen.

AMEN.

Gerhard Prell,
Pfarrer in Bad Endorf, Oberbayern.
G.Prell@gmx.de


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