Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Estomihi, 6. Februar 2005
Predigt über Lukas 10, 38-42, verfasst von Clemens Frey
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Liebe Gemeinde
Mit dem Tun ist es so eine Sache. Während die einen vor lauter reden, was zu tun wäre, vergessen etwas zu tun, tun andere und vergessen dabei mit anderen zu reden und über ihr Tun nachzudenken. Das eine Mal fehlen die Hände, das andere Mal fehlt die Ruhe um zu überlegen. Allerdings ist es kaum je so säuberlich zu trennen. Auch Marias und Marthas sind selten in dieser klaren Weise zu unterscheiden. Dennoch steht die Hilfe für die Opfer der Katastrophe in Südostasien vor diesem Problem. Einerseits muss gehandelt werden und zwar zügig und kompromisslos. Andererseits darf es nicht kopflos geschehen, weil sonst die Hilfe ihr Ziel nicht erreicht. Wir begreifen jene gerettete Frau, die verletzt zurückkehrt und sagt, das Schlimmste sei, die Menschen dort jetzt allein zu lassen, ihnen nicht aktiv helfen zu können. Und andererseits die erfahrenen Helfer, die hinfliegen, um zuerst genau abzuklären, was ist, was schon geht und was noch niemand tut.

Oder ist diese Katastrophe bereits aus unserem Bewusstsein gewichen? Und wie steht es mit unseren Gedanken zu Beginn des Jahres? Was ist aus ihnen geworden nach ein paar Arbeitswochen? Da haben wir uns doch selbst gefragt, was wir in unserem eigenen Leben tun müssen, tun werden und sollten. Wir können davon ausgehen, dass einer der häufigsten Vorsätze gewesen sein wird: mehr Ruhe für sich selbst, mehr Gelassenheit, mehr Zeit über die Wirklichkeit nachzudenken. Aber wir können ebenso annehmen, dass Martha in unseren Kreisen die grösseren Sympathien geniesst als Maria. Sie, die für andere sorgt, die gibt, die auch die unsichtbare und die undankbare Arbeit erledigt – um am Ende kritisiert zu werden. Arbeiten ist etwas Gutes. Wer Arbeit sucht, weiss das. Im schweizerdeutschen Vokabular hat "arbeiten" einen heiligenmässigen Schein, denn Arbeit begründe Freiheit und Unabhängigkeit. Das Wort "Müssiggang" hingegen muss zuerst erklärt werden, damit klar ist: Es ist kein Fluchwort. So wie beten nicht schlafen oder nichts tun heisst.

Der Philosoph Friedrich Nietzsche hat dies genau beobachtet. Er meinte, das Unglück der Arbeitenden sei, dass ihre Arbeit beinahe etwas Unvernünftiges an sich habe. Er wird nicht direkt an Martha gedacht haben, sondern benannte, was er sah: Menschen, die umher rennen, ohne genau zu wissen wohin und weshalb. Menschen, bei denen dauernd etwas laufen muss, weil sie sonst ihre Zerstreuung nicht mehr aufrecht halten können. Ablenkung, die vom Wesentlichen weglenkt auf Sofort-Häppchen hin. Nietzsche hat auch helfende Menschen gesehen. Aber was ist das Motiv ihrer Hilfe? Sie muss doch gut überlegt sein, damit sie wirklich dienlich ist.

In Martha jedoch die zwar gutwillige und arbeitsame, aber etwas unüberlegte Frau zu sehen, greift zu kurz. So einfach macht es uns Lukas nicht. Es ist nämlich sie, die Jesus ins Haus einlädt. Das war damals etwas Aussergewöhnliches und ist es vielerorts auch heute noch. Eine Frau, die die Initiative ergreift, einen unverheirateten Mann einzuladen. Da steht sie mit zwei Beinen auf der Erde und tut das für sie Nötige – bürgerlicher Austausch hin oder her. Offensichtlich hatte sie durchaus verstanden, wer Jesus ist. Denn dieser folgt der Einladung, was sich wiederum nicht gehörte. Aber davon wollte Martha nichts hören. Ihr ging es um diesen Menschen mit allem, was ihn ausmachte. Jesus ging zu ihr ins Haus, weil er spürte, dass diese Frauen zu ihm gehörten. So wurde Maria seine Hörerin. Diese UnabhängigkeitJesu, als Rabbi Frauen zu lehren, beeindruckt. Das ist ein wichtiger Grund, weshalb Lukas die Geschichte aufgeschrieben hat. Hinzu kommt jedoch noch eine andere Ungewöhnlichkeit: Jesus scheint die Gastfreundschaft zu missachten. Martha tue zuviel, mehr als nötig sei. Das sagt man nun wirklich nicht. Und ich bin mir gar nicht sicher, ob Jesus auch das meinte, was wir normalerweise verstehen. Nämlich, dass es besser sei zuzuhören, was Jesus sagt.

Diese Episode könnte nämlich ein Gleichnis sein. Nicht Jesus hat es erzählt, sondern Lukas komponierte es. Denn das Martha-Maria-Gleichnis folgt dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Dort hilft einer, weil er wusste, was zu tun ist. Er muss nicht darüber nachdenken, sondern handelt gut und richtig. Hier nun folgt das Gleichnis, das zum Hören und Nachdenken mahnt.

Nehmen wir das Bild, das uns Lukas vor Augen führt: Jesus sitzt auf einem Stuhl - die typische Haltung des Lehrenden. Maria sitzt zu seinen Füssen – die übliche Haltung der Lernenden. Martha hingegen steht und geht, sie ist in Bewegung. Aber in Bewegung sind alle! Denn Marias Körper ruht, damit der Geist umso besser arbeiten kann. Sie hat Jesus nicht eingeladen, aber jetzt ist sie ihm ganz Ohr. Hören, acht geben, spüren, fühlen, ahnen, denken, überlegen, verstehen – das geht nur in ruhender Haltung, die durch kein anderes Tun eingeschränkt ist. Martha hat Jesus ins Haus gebeten. Nun fühlt sie sich ganz verantwortlich für sein Wohlergehen. Sie würde auch zuhören, sobald alles erledigt ist, was noch fehlt, vielleicht auch, was diesem illustren Gast gebührt. Mitten drin, zwischen den Schwestern, zwischen oben und unten, sitzt Jesus.

Auch wenn sein Satz zu Martha einseitig tönt, so steht das Bild ausgeglichen vor uns. Als ginge es in erster Linie um eine Symbolik. Dann wären wir Martha und Maria in einem. In uns finden wir zwei Seiten. Vielleicht neigen wir im Alltag eher der einen oder der anderen Seite zu. Das ist graduell unter uns verschieden ausgeprägt. Dennoch kommen beide vor. Damit sind wir zweifellos nahe am Grundsatz der benediktinischen Mönche: bete und arbeite. Das ist kein Entweder – Oder. Es ist eine Fügung. Ineinander verzahnt sind beten und arbeiten. Die Frage ist dann: Wie verhalten sich die Übergänge? Hier beten – dort arbeiten? Sechs Tage die Woche arbeiten – einen Tag für Hobbys reservieren? Arbeiten bis zum Abend – dann endlich frei? Arbeiten und tun – darüber nachdenken sollen andere. In Firmen sind das oft die aussenstehenden Berater oder sogenannten Ethik-Kommissionen. Im Privaten wird dies zunehmend an Psychologen und Lebensberater delegiert. Wie sieht also der Übergang aus? Dort, wo beten und arbeiten ineinander fliessen, wo sie sich einander aussetzen und füreinander hilfreich sind? Dabei ist es wichtig, die Reihenfolge zu beachten: beten kommt an erster Stelle. Das beinhaltet auch hören, geben, aufnehmen, überlegen.

Der barmherzige Samariter wusste dank seiner täglichen Gebete sofort, was zu tun sei. Fragen wir uns selbst eine so scheinbare Äusserlichkeit: Beginnt unsere Woche am Sonntag oder am Montag? Fangen wir die Woche mit dem Gebet an oder mit der Arbeit? Laut jüdischer Tradition und christlicher Aussage ist unser Sonntag der erste Tag der Woche. Das kann unsere Lebenseinstellung verändern. Arbeite ich vom Hören auf Gott aus oder hin zum kritischen Rückblick auf das Getane? Gewiss ist beides möglich, es hat aber eine etwas andere Farbe, über die nachzudenken sich lohnt. Beide Male jedoch steht die dazwischen liegende Zeit in Bezug auf das Gebet. Darin liegt die eigentliche Kritik Jesu an Martha. Die Trennung der Zeit in verschiedene Bereiche, die miteinander nichts zu tun haben. Martha fordert Marias Mithilfe. Das ist alltägliche Selbstverständlichkeit. Würde Maria nun Folge leisten und aufstehen, so müsste Jesus verstummen. Er müsste warten bis alles andere getan ist – und dann sehen, was noch bleibt. Ich glaube nicht, dass Martha es für weniger wichtig hielt, Jesus zuzuhören. Möglicherweise fand sie es sogar sehr wichtig – sonst hätte sie ihn nicht eingeladen. Aber gerade weil es so wichtig ist, wollte sie zuerst alles andere erledigt haben. Und so war sie auf dem besten Weg, das Wichtigste zu verpassen. Das ist ihre Tragik.

Es ist so oft auch unsere. Schreiben Sie doch heute noch auf, was Sie alles in Ihrem Leben noch möchten – oder wenigstens in diesem Jahr. Streichen Sie dann alles durch, was zwar schön wäre, aber nicht eigentlich wichtig ist. Was auf diese Weise übrig bleibt und zum Vorschein kommt, soll Priorität haben. Da liegt "der gut Teil", den zu erwählen sich lohnt.

Übrigens: wir könnten versuchen, das Gleichnis von Martha und Maria weiter zu schreiben. Vielleicht ist Martha auch zu Jesus hin gesessen, weil Maria versicherte, ihr nachher zu helfen. Sie hätten jedenfalls beide das Allerwesentlichste nicht nur gehört, sondern auch verstanden: Jesus wollte zuvorderst ihnen beiden helfen, lebenslang. Darum ist er gekommen.

Amen.

Pfarrer Dr. Clemens Frey
Titus Kirche Basel
clemens.frey@erk-bs.ch

 


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