Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Septuagesimae, 23. Januar 2005
Pedigt über Matthäus 20, 1-16, verfasst von Elisabeth Birgitte Siemen (Dänemark)
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„Die Letzten werden die Ersten sein – und die Ersten die Letzten.“ Ja, was in aller Welt stellen wir an mit einer Erzählung, die diese Pointe hat? Eines ist klar, aus unserer Sicht ist von einer großen Ungerechtigkeit die die Rede.
Ich möchte auch gern den Arbeitgeber sehen, der mit diesem Prinzip Lohnverhandlungen führen wollte. Und als alter Vertrauensmann der Pastoren in meinem Kirchenkreis kann ich sagen, dass sich das auch hier nicht machen lässt. Ein solcher Versuch würde große Unruhe hervorrufen – und zwar mit Recht.

Denn wie immer wir diese Worte drehen und wenden – Ausdruck für Angemessenheit können sie niemals sein. Und das macht es denn auch so schwer mit diesen Gleichnissen, die wir aus dem Neuen Testament so gut kennen. Denn sie sprengen oft die festen Vorstellungen, die wir uns davon machen, was richtig und verkehrt, was Recht und Unrecht ist.
Und das ist vermutlich auch einer der Gründe dafür, dass das Christentum so oft Anstoß erregt hat. Nicht nur bei Christen, sondern auch bei Menschen, die anderen Religionen angehören.

In allen anderen großen Religionen – Judentum, Islam, Hinduismus, Buddhismus – gilt nämlich, dass dort Forderungen an den Menschen gestellt werden – die Herrlichkeit im Himmel wird, um es ganz kurz zu sagen, als angemessener Lohn für angemessenen Einsatz betrachtet. Und deshalb ist denn auch die treibende Kraft in den Religionen dies, dass der Mensch etwas tun soll, denn auf Erden ist das zu tun, was dann im Jenseits belohnt werden soll. Oder mit anderen Worten – in diesen Religionen geht es um den Weg des Menschen zu Gott, darum, dass sich der Mensch durch Gebet, Hingabe, Gesetztestreue, Meditation Gott nähern kann.
Oder, um in der Sprache des Gleichnisses zu bleiben, diejenigen, die den ganzen Tag in Sonne und Hitze gearbeitet haben, bekommen mehr als diejenigen, die im letzten Augenblick hinzukommen – ganz gerechterweise. Wie dein Arbeitseinsatz ist, so ist auch der Lohn.

Aber das Christentum ist anders, es ist das, was wir gerade zu Weihnachten gefeiert haben, dass der Weg vom Himmel zur Erde führt.
Der Weg zu Gott geht im Christentum nicht über die Leistungen eines Menschen, da gibt es nichts, was wir „tun“ sollen, da gibt es im Grunde nichts, was wir tun können – der Weg zwischen Gott und Mensch ist Christus selbst.

Deshalb kann er sagen „ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“. Ja, er ist nämlich der Weg, der vom Himmel zur Erde führt!
Er verließ seinen sicheren Himmel und wurde unter uns geboren – das haben wir vor kurzem zu Weihnachten gefeiert. Er lebte unter uns in der zwielichtigen, oft recht undurchschaubaren Welt, der auch wir ge­gen­überstehen oder in der wir immer mittendrin stehen.
Deshalb ist sein Weg auch nicht der Traum oder die unerreichbare Utopie, für die er sein Leben opfern kann. Und das ist für uns so schwer zu verstehen, die wir so daran gewöhnt sind, in Begriffen der Gegenseitigkeit zu denken.

Nun weiß ich natürlich sehr gut, dass das Gleichnis vom Weinbergbesitzer keine Beispielerzählung ist, es ist nicht davon die Rede, dass wir nach seinem Vorbild handeln sollten. Das Gleichnis des heutigen Textes will schlicht und einfach sagen, dass alle unsere Begriffe von Recht und Gerechtigkeit dort keinen Platz haben, wo das Reich Gottes anbricht.

Aber – und das ist nun auch zu betonen: wenn davon die Rede ist, dass die Ersten die Letzten sein werden und umgekehrt, dann bedeutet das nicht, dass von Seiten des Herrn von blinder Willkür die Rede ist. Die Pointe besteht vielmehr darin, dass es im Reich Gottes um Liebe und Gnade geht – die Gnade, die dem Recht und der Gerechtigkeit immer vorausgeht. Und Gott sei Dank dafür, denn in Wirklichkeit geht es uns so ganz gut.

Gott ist Liebe, wie es im 1. Johannesbrief heißt, und das bedeutet, wo er herrscht, wo seine Liebe sich durchsetzt, da hat niemand den Vorzug vor anderen. Und gibt es keinen Vorzug, so gibt es auch kein Verdienst – ja, dann ist auch nicht mehr von Recht und Gerechtigkeit die Rede, sondern eben von Liebe.

Die Liebe – sie hat ihren Preis, sie ist teuer, sagen wir zueinander, während wir andererseits sehr gut wissen, dass sie weder zu kaufen noch zu verkaufen ist. Und trotz dieses Wissens versuchen wir ununterbrochen, uns die Liebe zu verdienen oder sie festzuhalten. Wir möchten alle so gern gut genug sein, im innersten Sinne des Wortes liebenswürdig, d.h. der Liebe wert sein, und wir möchten uns damit den Akzept des Herrn oder anderer Menschen – und das heißt ihre Liebe sichern.

Bent Falk schreibt in seinem wunderbaren Buch Der Preis der Liebe Folgendes: „Die Liebe kostet immer etwas – und am meisten kostet sie für den, der am meisten liebt. Das weiß ein jeder, der liebt: Die Eltern, die denjenigen Kampf der Liebe kämpfen, der Erziehung der Kinder heißt, Eheleute, die sich ihr Leben lang gegenseitig die Hörner ablaufen müssen, und Freunde, die mühsam die Brücke der Vergebung schlagen müssen über Abgründe von Meinungsunterschieden und Interessengegensätzen hinweg. Am meisten kostet die Liebe, wenn das Kind nicht nach Hause kommt, wenn der Geliebte untreu war und wenn der Freund sich abwandte und die ausgestreckte Hand verschmähte. Das heißt, am meisten kostet die Liebe, wenn sie nichts für das bekommt, was sie bezahlt.“

Die Erzählung von Gott, der Mensch wurde in Jesus von Nazareth, ist die Erzählung von dem, der so viel liebte, dass er bereit war, den Preis zu bezahlen, den die Liebe kostet. Die Evangelien sind ein langes Zeugnis davon. Und wenn wir bis Ostern kommen, wissen wir auch, daß er den vollen Preis bezahlte, nämlich dass er mit seinem Leben bezahlte, um uns Verständnislose einen Funken der Liebe sehen zu lassen.

Und ob wir es nun begreifen oder nicht – so verhält es sich mit dem Reich Gottes. Im Reich Gottes sind wir alle geliebt, dort – und nur dort – wird die harte Notwendigkeit gebrochen, die im Zusammenhang zwischen Einsatz und Lohn beseht. Im Reich Gottes erhalten wir nämlich alle dasselbe – den Lohn für einen Tag. Wir haben alle unser Leben erhalten – einen Tagelohn, wenn man so will. Ob es ein kurzes oder ein langes Leben wird, ob es hell und glücklich oder dunkler und schwerer wird, ist in diesem Zusammenhang nicht das Entscheidende. Wir haben das Leben erhalten, das nun einmal das unsrige ist, und das ist von unendlichem Wert für Gott. Er gab es uns, und in seinen Augen sind wir das, was zu sein wir uns so brennend wünschen, der Liebe wert. In seinen Augen sind wir immer einen Tagelohn wert, denn unser Wert besteht nicht in dem, was wir geleistet haben, er besteht darin, dass wir dasind. Dass wir sind!

Wenn wir uns hier in der Kirche zum Gottesdienst versammeln, dann kann man sagen, dass wir uns gewissermaßen um den Vorgriff auf das Kommen des Reiches Gottes sammeln. Und wenn wir im Bild des Tages bleiben, könnte man sagen, hier im Gottesdienst wird jedem von uns eine Goldmünze gereicht – nämlich das Wort Gottes: du bist im Voraus geliebt, und hier ist der Lohn – die gnädige Vergebung deiner Sünden und die Hoffnung auf das ewige Leben.

In Wirklichkeit ist es schade, dass wir heute keine Kindtaufe haben – denn in ihr wird das alles so deutlich. In der Taufe wird diese Münze den kleinen Kindern gereicht – vor aller Leistung, vor allem, was dieses kleine Kind jemals wird leisten können. Und genau deshalb ist die Taufe ein so feines Bild des Reiches Gottes. Hier brechen alle Vorstellungen über das rechte Verhältnis von Arbeit und Lohn zusammen. Hier gilt nur der Maßstab der Liebe.

Und ja, das ist nicht nur unverständliche Rede, es ist auch anstößige Rede. So anstößig, dass einige der allerersten Zuhörer den Erzähler töteten. Aber wahre Liebe lässt sich nie verleugnen – und die Welt hat den Erzähler oder seine Gleichnisse nie vergessen. Selbst heute, im 3. Jahrtausend danach, versammeln wir uns noch immer in seinem Namen und erzählen einander von der Liebe, die den Preis der Liebe bezahlt hat.

Aber was bleibt da von unserer Arbeit im Weinberg? Von unserem täglichen gewöhnlichen Leben miteinander? Ja, wenn wir daran festhalten, dass jeder den gleichen Lohn erhält, die Goldmünze bekommt als Zeichen seines rechten Wertes, dann könnte dieses Leben im Ernst zu einem Leben in Freiheit und Freude werden. Dann gibt es nichts mehr, womit wir uns das Heil verdienen könnten, alles aber könnte zu einem Überschuss der Freude werden, die darin gründet, dass wir geliebt sind.

Wir sind nämlich alle eingeladen, Gottes Mitarbeiter zu sein, all unseren Fleiß und alle unsere uns anvertrauten Talente zu gebrauchen, um für Recht, Frieden und Freude zu wirken. Und wir wären weit gekommen, sehr weit, wenn wir den Maßstab unseres Herrn Richtschnur in unserem Leben sein lassen könnten, so dass wir uns selbst und gegenseitig nicht das Gefühl geben, dass nur hochbezahlte Arbeit dem Menschen seinen Wert verleiht.
Denn wir sind nicht in erster Linie, was wir machen, sondern vielmehr wozu wir gemacht werden!
Und die Werke des Reiches Gottes sind die Werke der Liebe, und die werden nicht mit menschlichem Maßstab gemessen.
Die Werke des Reiches Gottes sind von so vielerlei Art, sie sind nicht zu bewerten und zu beurteilen. Denn ob wir nun wenig oder viel tun, die Gnade Gottes beruht allein darauf, dass ER gut ist.
Er ist so gut wie der Weinbergbesitzer, der an jeden Arbeiter ungeachtet seiner Arbeit hinreichenden Lohn zahlt, er ist so gut wie der Vater, der seinem fortgelaufenen Sohn verzeiht und das Mastkalb für ihn schlachtet, als er endlich wieder auftaucht, und er ist so gut wie der Mann, der alle Leute auf den Straßen und Plätzen zu einem Festessen einlud.

Nach unserem Maßstab handelt der Weinbergbesitzer unvernünftig. Das müssen wir einfach anerkennen. Das Evangelium aber erzählt, dass Gottes Torheit weiser ist als die Klugheit der Menschen, weil sie von der Liebe getragen ist.
Gott mag wissen, was geschähe, wenn wir uns von der Torheit dieser Liebe ergreifen und sie unter uns walten ließen. Amen.

Pastorin Elisabeth Birgitte Siemen
Kirsebærbakken 1
DK- 2830 Virum
Tel.: ++ 45 – 45 85 63 30
e-mail: ebsi@km.dk

Übersetzt von Dietrich Harbsmeier


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