Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Januar 2005
Andacht anläßlich der Flutkatatstrophe

verfasst von Jochen Cornelius-Bundschuh
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Reden von Gott im Angesicht der Katastrophe

Die Flutwelle in Südasien hat die Weltöffentlichkeit schockiert. In vielen Ländern spenden Menschen Geld für die Überlebenden. In Gottesdiensten, Schweigeminuten oder Staatsakten gedenken sie der Opfer und versuchen zu verstehen, was geschehen ist.

In der Tagesschau ist die Rede vom Schicksalsschlag. Ein buddhistischer Mönch ist zu sehen und spricht von der Hoffnung, dass die Opfer nun in ein besseres Leben eingehen. In einer Talkshow wird die Frage gestellt: Wie konnte Gott das zulassen? Skeptiker weisen darauf hin, dass auch die 650.000 Menschen, die 1976 bei dem Erdbeben in Tangchan in China umgekommen sind, schnell vergessen waren. Zeitungskommentatoren sehen mit der großen Welle der Hilfsbereitschaft und den vielen guten Taten eine neue Hoffnung für die ‚Eine Welt’ keimen.

In seiner Erzählung über das Erdbeben in Chili im Jahre 1647 schildert Heinrich von Kleist die Doppeldeutigkeit der Situation. Einerseits, so erzählt er, war da nicht einer, „für den nicht an diesem Tage etwas Rührendes geschehen wäre, oder der nicht selbst etwas Großmütiges getan hätte. So war der Schmerz in jeder Menschenbrust mit so viel süßer Lust vermischt, dass sich gar nicht angeben ließ, ob die Summe des allgemeinen Wohlseins nicht von der einen Seite um ebensoviel gewachsen war, als sie von der anderen abgenommen hatte.“ Das allgemeine Unglück schien alle, die ihm entronnen waren, zu einer Familie gemacht zu haben. Doch beim großen Dank- und Bittgottesdienst in der Kathedrale von St. Jago findet der Prediger die Ursache für das Unglück in der sittlichen Verderbnis der Stadt. Er ruft die Gegensätze wieder in Erinnerung; die vermeintlich Schuldigen werden ausgemacht und von der Menge gelyncht.

Auch heute sind die Deutungen der Katastrophe vielfältig: wieder gibt es Hoffnung auf eine Verbesserung des Menschengeschlechts neben ohnmächtiger oder wütender Trauer, es gibt die Suche nach Schuldigen neben dem Glauben, dass sich ein solches Grauen nicht wiederholen wird, wenn nur genügend technische Vorsorge getroffen wird.

Was hat die evangelische Kirche zu sagen? Wie lässt sich vor dem und über den dreieinigen Gott verantwortlich reden angesichts der Katastrophe? Drei biblische Texte sind mir wichtig.

I

Der erste steht im Lukasevangelium (Lukas 13, 1-9). Er erzählt über ein Unglück mit 18 Toten, die unter einem einstürzenden Turm begraben wurden. „Was sagst Du dazu, Jesus?“ fragen Menschen. „Was haben diejenigen getan, denen das geschehen ist? Warum hat Gott sie gestraft?“ Jesus antwortet: „Diese 18 sind nicht schuldiger gewesen als alle anderen Menschen, die in Jerusalem wohnen. Ich sage euch: Nein, denkt das nicht, sondern wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle auch so umkommen.“

Wie gehen wir mit der Katastrophe um? Wir suchen Schuld und Schuldige! Und dies je nach Weltbild im passenden System: aufgeklärt-mechanistisch die einen: wer hat den Turm so schlecht gebaut – und warum gab es kein Seebebenfrühwarnsystem? Sozial-politisch die anderen: Warum ist soviel Geld da für Tourismus und so wenig für feste Häuser? Es trifft doch wieder vor allem die Armen. Religiös-fundamentalistisch die dritten: die haben es verdient, das war eine Strafe Gottes – wegen des falschen Glaubens, wegen der Sünden und der moralischen Verfehlungen.

Das eine mag mehr Plausibilität haben als das andere. Aber deutlich ist: wir können Schreckliches kaum ertragen, ohne es zu erklären, und am besten erklärt sich etwas, indem wir Schuld und Schuldige finden.

Nein, sagt Jesus zu uns, den Zuschauenden. Er spricht ja nicht mit Verletzten oder Angehörigen von Opfern! Er spricht zu Menschen wie uns. Die Radio hören, Fernsehbilder sehen und Zeitung lesen – und dann entsetzt sind und nach Schuld und Schuldigen suchen, um mit ihrem Grauen zurecht zu kommen. Nein, sagt Jesus, all das wendet sich gegen euch. Denkt ihr, ihr seid weniger verantwortlich? Denkt ihr, ihr lebt so, dass euch nichts passieren kann? Denkt ihr, ihr seid sicher? Überlegt nur, was ihr anderen schuldig geblieben seid! Bedenkt, was ihr hättet tun können und was ihr getan habt. Macht euch klar, dass es ein Wunder ist, dass ihr lebt! Tut Buße, kehrt um, sonst werdet ihr auch umkommen!

Was aber heißt dann Buße? Es heißt nicht, moralischer, perfekter, technisch gesicherter zu leben, um auf die anderen zeigen zu können: wir sind besser als ihr, uns passiert das nicht! Es heißt nicht, sein zu wollen wie Gott! Umkehr heißt zweierlei: Wendet euch zu dem Gott des Weingartens! Und: Dabei ändert ihr euch!

Am Ende dieses ersten Textes steht das Bild vom Weingärtner, der noch ein Jahr erbittet für seinen Feigenbaum: um zu graben, zu düngen, zu gießen. Damit die Umkehr beginnen kann. Damit neue Triebe wachsen. Damit Knospen aufspringen. Und der Baum Früchte bringt. Wer für andere sorgt, wer teilt, wird reicher. Auch das unsägliche Leid, das in Südasien über die Menschen hereingebrochen ist, muss nicht nur in Sinnlosigkeit, Fatalismus oder Zynismus enden, es kann zu einem neuen Vertrauen, zu einer neuen Gerechtigkeit führen.

Dann stehen der Weingärtner und sein Herr mit uns unter diesem Baum, denken an die schweren Zeiten und freuen sich an der neuen Pracht.

II

Aber was ist das für ein Gott, dieser Weingärtner-Gott? Warum lässt er den Baum denn nicht gleich blühen? Warum lässt er den Turm erst umfallen? Wie kann er eine solche Katastrophe zulassen?

Der zweite Text, der mir wichtig ist, umfasst die beiden Schöpfungsgeschichten am Anfang der Bibel (Genesis 1 und 2). Wir lesen sie normalerweise so: Gott hat die Welt geschaffen. Alles, was ist, ist durch ihn, durch eine nicht mehr zu hintergehende Macht hervorgebracht. Und alles was ist und geschieht, ist und bleibt von dieser Macht abhängig. Und weil Gott „immer und überall handelt, wo etwas ist, zu jeder Zeit und an jedem Ort“ (Dalferth), erscheint er als großer göttlicher Mechaniker und es stellt sich die Frage: Wie kann er Katastrophen zulassen?

Doch die biblischen Texte lassen sich auch anders lesen. Weniger rationalistisch und mechanistisch, dafür aber realistischer und dem biblischen Denken angemessener. Den Schöpfungsberichten geht es nicht um eine abstrakte Allmacht Gottes. Gott reagiert auch auf das Geschaffene. Kaum ist es da, führt es ein Eigenleben. Von Anfang an folgt es Naturgesetzen und Ordnungen, die Gott respektiert, die er mit Wohlgefallen anschaut und auf die er wiederum eingeht. Schon im Vorgang der Schöpfung kommt es zu einem Zusammenwirken von göttlichen und menschlichem Handeln, wenn Gott regnen lässt und der Mensch anbaut, wenn die Erde das Getier hervorbringt, wenn die Himmelskörper den Tag- und Nachtrhythmus bilden. Wenn nicht nur Gott benennt, sondern auch dem Menschen diese fundamentale Aufgabe und Macht zukommt. Gott reagiert auf Erfahrungen des Menschen: nicht weil es seinem immer schon vorhandenen abstrakten Plan entspricht, sondern weil Gott die Not und Einsamkeit des Menschen sieht, kommt es zur Differenzierung des Menschen in Mann und Frau.

Nein, Gott ist nicht die alles bestimmende, selbstgenügsame und mit sich selbst zufriedene Macht; Gott sucht das Gegenüber, nimmt es wahr, schätzt seine Eigenaktivität – oder wendet sich davon ab: Gott geht auf die Bedürfnisse des von ihm Geschaffenen ein und lässt sich in seinem Handeln dadurch bestimmen – oder zieht sich enttäuscht von seinem Geschöpf zurück. Nicht nur der Mensch ist frei und ein Gegenüber Gottes, die gesamte Schöpfung ist selbsttätig; Schöpfer und Geschöpf wirken zusammen.

Im Angesicht der Katastrophe ist diese biblische Rede von der eigenen Aktivität des Geschöpflichen, vom Miteinander von Schöpfer und Geschöpf realistisch. Sie weist hin auf die Gefährdungen des Lebens in dieser Schöpfung, die schön und groß, aber eben auch dunkel und erschreckend ist, in der es Bereiche gibt, die menschlicher Gestaltung zugänglich und andere, die ihr unzugänglich sind. In all dem ist „Gott ... nicht eine Zaubermacht, die die Naturgesetze überrollt“ (Michael Welker) und Leid und Seebeben verhindert, sondern die Kraft, die auf ein Miteinander mit allem von ihr Geschaffenen angelegt ist, die Kraft, die in der Schwachheit mächtig ist und aus Not und Tod heraus neues Leben schaffen kann.

III

Trägt dieser Realismus im Angesicht der Katastrophe? Trägt der Glaube, für den das Kreuz zum Baum des Lebens wird?

Wer zurückblickt und auf die Katastrophe schaut, wird zur Salzsäule, erzählt die Geschichte über Lot und seine Frau. Nicht als Strafe, sagt Jürgen Ebach. Nein, „der Anblick der Katastrophe vermag zu versteinern.“ Weil er bannt, weil er auf das Schreckliche fixiert und verhindert, dass das Rettende noch in den Blick kommt.

Heißt das: Dreht euch nicht um, ihr Christinnen und Christen! Tut einfach so, als sei nichts passiert! Schaut immer schön nach vorne! Es geht schon irgendwie weiter.

Das doch wohl nicht! Die Geschichte von Lots Frau bringt eine Erfahrung zur Sprache, aber sie ist kein abstrakter Lehrsatz, der immer stimmt.

Der Blick auf das Grauen lässt erstarren. Das gilt noch für die tausendfach reproduzierten Bilder, die uns aus Südasien erreichen. Der Blick auf das Grauen wird nicht betraft, aber es wird vor ihm gewarnt. Denn er weckt Furcht und Mitleid, eben auch Furcht um mich selbst und Selbstmitleid. Das kann mich trennen von Gottes Verheißung, kann mich handlungsunfähig machen, mich bannen.

Der Blick auf das Grauen lässt Lots Frau zur Salzsäule erstarren. Nicht als Strafe, sondern weil das Unheil sie überwältigt hat. Jesus preist diejenigen selig, die arm sind und Leid tragen, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit. „Sie sind das Salz der Erde.“ (Matthäus 5, 13)

Dr. Jochen Cornelius-Bundschuh
cornelius-bundschuh@ekkw.de


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