Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Letzter Sonntag nach Epiphanias, 16. Januar 2005
Predigt über
Matthäus 17, 1-9, verfasst von Hans-Ole Jörgensen (Dänemark)
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In dem Roman Der Eroberer des norwegischen Schriftstellers Jan Kjärstad befindet sich die Hauptperson Jonas einmal auf einer Reise in Armenien, und eines Tages steht er an einem Ort, von dem aus er den berühmten Berg Ararat sehen kann, an dem Noah seinerzeit nach der Sintflut mit der Arke gestrandet sein soll.

Der Blick ist überwältigend, unter ihm die Stadt Jerevan mit ihrem Betrieb und Lärm, und Jonas sieht weit draußen am Horizont, wie das Licht der Sonne auf dem Gletscher des gewaltigen Araratmassivs glänzt. Die Berggipfel – die mehr als 5000 m hoch sind – wirken von seinem Standort aus nahezu durchsichtig, wie Luftspiegelungen. Er denkt an Noah. Die Geschichte hat ihn immer fasziniert. Sie handelte vom Überleben; davon, viele zu sein und dann plötzlich nur wenige. Auserwählt zu sein. Gleichsam einmal mehr geboren zu werden, eine neue Chance zu bekommen.

Und er bekommt Lust, hier zu bleiben. Er merkt plötzlich, dass er sich hier, an diesem fremden Ort, zu Hause fühlt. Es ist, wie wenn der Berg zu ihm spricht, wie wenn er ihm etwas zu sagen hat. Eine Antwort auf ein Rufen. Es wird ihm leicht ums Herz, es erfüllt ihn ein gewaltiger Trost an dem Leben, das vor ihm liegt. Alles kann geschehen, denkt er, alles ist möglich, jede Sekunde.

Warum war er dorthin gereist? Um einen Berg zu sehen, eine bezaubernde Aussicht auf einen fernen Horizont! Aber es geschah sehr viel mehr, und hier zitiere ich aus dem Roman: „Jonas stand dort unter einem fernen Himmelsgewölbe und sah auf einen Berg, ließ ihn Wohnung nehmen in seinem Innern, in seinen Körper hineingleiten. Er stand einfach da und erlebte, dass er am Leben war, und dass der Sinn des Daseins etwas so Einfaches sein konnte wie vier Minuten an einem Vormittag im Dezember, wo man 35 Jahre alt ist, auf dem Höhepunkt seines Lebens, - dass die Intensität und Schönheit in diesen vier Minuten ein ganzes Leben sammeln konnte, ganz auf dieselbe Weise, wie ein ganz gewöhnliches Buch von 700 Seiten vier Zeilen auf Seite 351 enthalten kann, die alles in eine völlig andere Sphäre heben, die die Kraft haben, sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart zu verwandeln. Eine Reise braucht nicht lang zu sein, zeitlich gesehen, um umwälzend zu sein. Ein Tag oder zwei an einem unbekannten Ort können das Leben eines Menschen verändern.“ So weit Jan Kjärstad.

Heute begegnet uns im Predigttext etwas, was in gewisser Hinsicht ähnlich ist. Jesus hat Petrus und zwei weitere Jünger mit auf einen hohen Berg genommen, und in einer gewaltigen Erscheinung erleben sie hier, dass Jesus sich vor ihnen verwandelt, dass seine gewöhnliche Menschlichkeit sozusagen von ihm abgleitet und durch etwas Strahlenderes, ja Göttliches ersetzt wird. Der Sohn des Zimmermanns aus Nazareth erhält eine Glorie um sein Haupt, sein Gesicht strahlt wie die Sonne und seine Kleider werden weiß wie Schnee. So hatten sie ihn allerdings nie zuvor gesehen, Petrus und die anderen.

Aber jetzt sehen sie ihn so. In einem funkelnden Augenblick erleben sie, dass die Gewalten des Himmels jetzt im Ernst hervorbrechen. Das Geschehen überwältigt sie, und Petrus will sogleich bauen, damit sie bleiben können, hier, wo die Schatten jetzt plötzlich verschwinden und es so aussieht, als würde etwas aus all dem Großen mit dem Himmelreich, wovon Jesus so lange zu ihnen gesprochen hatte.

Moses und Elias treten auch auf. Aber vor allem Jesus steht im Mittelpunkt der entscheidenden Verwandlung. Er ist es, der hier im Ernst zu dem Sohn Gottes auf Erden wird, der er sein sollte und als den ihn zu sehen die Jünger oft gewisse Schwierigkeiten hatten, Er, vor dem die vielen allzu grauen und schwarzen Schatten des Lebens, Krankheit und Hunger und alle andere Not, mit der die Menschen zu kämpfen hatten, verschwinden sollten, so dass das Leben ein wenig überzeugender dem Leben im Paradies ähnlich würde.

Und wir kennen das ja nur allzu gut, sowohl die Sehnsucht nach dem Richtigen als auch das Erlebnis des Richtigen, wenn es daist. Auch wir nähren Sehnsüchte in uns – oftmals mehr als schmerzlich – nach dem Leben, wie es sein soll, Träume, die ein anderes Leben wollen als das, das wir leben. Auch wir suchen manchmal nach einem Sinn und reisen um die ganze Welt nach Antworten, die nur schwer zu finden sind. Aber wir kennen auch die andere Seite, wir kennen alle in irgeneiner Form die Verklärung auf dem Berg, die im Erlebnis eines kostbaren Augenblicks liegen kann – mag es das Erlebnis von Sinn sein, wie Jonas es bei seiner Begegnung mit dem Berg erfuhr – mag es das Erlebnis von gewöhnlichem menschlichem Glück sein, von Einsicht, von Glauben oder von Hoffnung. Plötzlich können wir wieder Mut fassen, Lust haben, die wir verloren hatten, und dann ist alles verwandelt, im Handumdrehen – ab und zu sind die Augenblicke auch die unsrigen, in denen uns das Leben in einem funkelnden Augenblick klar wird, so dass wir gern bleiben wollen, Unrecht beenden wollen und wünschen, dass dieser Zustand andauere.

Letzteres ist niemals möglich – die kostbaren Augenblicke sind flüchtig wie kaum etwas anderes – und Petrus hatte denn auch keinen Erfolg mit seinem Vorschlag, Hütten auf dem Gipfel des Berges zu bauen. Aber trotz aller Flüchtigkeit: wir leben in hohem Maße von den großen Augenblicken in unserem Leben, von dem Licht und Glanz, den sie um sich verbreiten, wir sind nie dieselben, wenn wir von dem aus, was uns auf dem einen oder anderen Berg begegnet ist, weitergehen. Ein Reise braucht gar nicht zeitlich lange zu dauern, um überwältigend zu sein, sagt Jan Kjärstad. Sie braucht auch überhaupt gar keine Reise in einem geographischen Raum zu sein. Sie kann ebenso gut stattfinden, wenn wir zu Hause bleiben.

Aber wir wissen, es macht einen Unterschied, einen Unterschied im Leben, das richtige Leben und das Leben, das völlig seinen Sinn verloren hat. Wir wissen es auch, wenn wir in die Kirche kommen, wir singen davon jedesmal, wenn wir Gottesdienst halten, es ist in fast allen unseren Kirchenliedern enthalten, am deutlichsten in denen, die wir „Heiliggeistlieder“ nennen und die zu den besten gehören, weil sie so gut zu der Sehnsucht nach dem Richtigen passen, die in uns wohnt, wenn es nicht gegenwärtig ist. Wir haben heute auch im Eingangslied davon gesungen.

Der Gegensatz dazu ist alles das, was keinen Glanz ausstrahlen kann, alle die Schatten von Krankheit und Tod, Bosheit und Ohnmacht, die uns selbstverschuldet oder ohne unsere Schuld durch unser Leben verfolgen und es einem manchmal schwer machen, ein Überlebender zu sein. Wären wir mit all dem allein, ohne den Glanz von etwas anderem, der uns das Herz erleichtern könnte, dann würden wir nicht hier sein können, dann wären wir von Finsternis umhüllt. Deshalb geschieht es, dass wir im Gebet ausharren, deshalb geschieht es manchmal auch modernen Menschen, dass sie zu Gott beten, dass er sie in Glanz besuchen möge.

Petrus verstand in der Situation vielleicht nicht ganz, dass er wieder von dem Berg hinabsteigen sollte, hinab zu den anderen dort unten im flachen Land mit all den Schatten. Aber er musste es tun – und er hat es seither wohl auch verstanden – denn auch Jesus würde Unrecht nicht beenden. Und die Dinge dort enden lassen.

Jesus war nicht fertig mit dem, was ihm auferlegt war, noch nicht. Und bis auf weiteres ist es auch das Leben hier im Flachen – das Leben in der Zeit –, das er für die Menschen will.

Darum musste Petrus auch von seinem bau-lustigen Eifer lassen und mit den beiden anderen Jesus folgen, hinab in das altbekannte Land, wo die Glorie Jesu bald darauf in eine Dornenkrone verwandelt wurde, wo die Gottesmacht die Gestalt der Ohnmacht annahm und das auch in unseren Augen so Anstößige geschah, dass der Sohn des allmächtigen Gottes sterben musste, und zwar nicht nur als ein ganz gewöhnlicher, ehrbarer Mensch, der den unerbittlichen Bedingungen der Zeit ausgeliefert war, sondern als ein Verbrecher, als ein Verurteilter, schimpflich an einem Kreuz.

Ehe sie auf den Berg stiegen, hatte Jesus zu den Jüngern gesagt, dass es sich so abspielen würde und dass es genau so auch ein Teil des Sinnes der Sache war. Petrus hatte sich geweigert, das zu glauben, auch bei dieser Gelegenheit war er es, der sich hervortat. Aber da hatte Jesus mit aller Deutlichkeit gesprochen. Weiche von mir, Satan – hatte er zu Petrus gesagt – du verstehst nicht, was Gottes ist, sondern nur, was des Menschen ist (Matth. 16,23).

Das Ganze kann einen daran erinnern, was in der Wüste geschah, einige Jahre vorher. Auch damals war Jesus ein anderer Weg vorgeschlagen worden als derjenige, den er zu gehen hatte. Auch damals lauteten die Worte in seinem Munde: Weiche von mir, Satan!

Jesus sollte nicht in Glanz und Herrlichkeit auf dem Berg bleiben. Er sollte hinabsteigen zu denen da unten und zu uns allen, die wir fortgesetzt hier sind, hinabsteigen, um hier Mensch zu sein, und seinen Weg zu Ende gehen. Denn das war der Sinn mit seinem Leben, so hatte Gott es bestimmt, seine Solidarität mit dem Menschsein in die Welt zu bringen. Und weil er den Weg zu Ende ging, überhörte er alle Vorschläge für etwas anderes und begab sich in den dichtesten und finstersten aller Schatten des Menschenlebens, deshalb können wir nun unser Leben leben – nicht in dem Paradies, von dem wir gelegentlich träumen, oder in dem Glück, von dem wir wünschen, das es nie zu Ende gehe – sondern in der Geborgenheit, die in dem Wissen besteht: wie groß auch die Finsternis in uns und um uns sein wird, sie wird niemals größer sein, als dass Gottes Sohn vor uns in ihr gewesen ist, sie wird niemals größer sein, als dass auch Gott in sie hineinfinden kann mit seiner Liebe zu uns, für die er das Leben schuf und noch immer will.

Vielerorts hat man von Alters her die Gemeindekirche auf einer Anhöhe gebaut. Aber auch dort, wo das nicht geschehen ist, war der Gedanke zur Stelle, dass wir, wenn wir in die Kirche gehen, hinaufgehen, hinauf zum Haus Gottes. Wenn wir in die Kirche gehen, unternehmen wir eine Reise, wir steigen auf den Berg, denn wir werden neuen Glanz für unser Leben erhalten – einen Glanz, der sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart berühren kann – wir werden den Sinn des Lebens bestätigt bekommen und neue Kraft des Mutes und der Hoffnung erhalten, auf dass wir unser Leben im flachen Land besser leben können.

An den wenigsten Orten löst bei uns ein Gang in die Kirche berauschende Erlebnisse aus. Gewöhnlich verläuft alles schlicht und einfach. Aber es ergeht an uns ein Wort – eine Antwort auf ein Rufen – das das schwere Herz erleichtert und uns dazu bringt, dass wir mit größerer Freimütigkeit wieder hinaus- und hinabgehen. Es erklingt keine Zauberformel, die die Not und ihre vielen Schatten aus unserem Leben oder gar aus dem Leben der Welt verschwinden ließe. Als Noah mit seiner Arche gelandet war, musste auch er sich mit der Freude begnügen, die darin besteht, sich selbst als einen Auserwählten verstehen zu können. Das müssen wir auch. Bevor sie von dem Berg herabstiegen, sagte Jesus es zu Petrus und den anderen mit den Worten: Stehet auf, und fürchtet euch nicht.

In der Taufe ist es dies Wort, das uns in einer seiner zahlreichen Varianten vom Beginn unseres Lebens gereicht wird, und hier kann man sehen: es ist ein Liebeszeichen von Gott in der Höhe an uns, mit dem Liebeszeichen zu leben in dem Flachen. Und wohl ist ein Liebeszeichen zerbrechlich, auch das muss geglaubt werden, wenn wir von ihm leben sollen. Aber es ist gut, wenn wir es können. Es birgt Stärke in sich. Es sind Liebeszeichen, die das Neue hervorbringen, wieder und wieder. Oder mit dem Bilde Grundtvigs aus dem Lied, das wir eben gesungen haben, es ist gut, seine Seele und sein Herz im Wasser der Taufe baden zu können. Es hilft dem Verzweifelten, dem Zweifel und der Furcht und der Trauer „Gute Nacht“ zu sagen. Die Taufe hält durch alles Schicksal fest an der Auffassung, dass auch Gott an mir liegt.

Die Worte des Segens sind zerbrechliche Dinge. Aber ergriffen mit dem Herzen und als Antwort auf unser eigenes Rufen enthalten sie Funken ewigen Lebens. Gott gebe uns, dass wir es so greifen können, wenn wir es sind, die danach verlangt. Amen

Pastor Hans-Ole Jörgensen
Hyrdesträde 5
DK-6000 Kolding
Tel.: +45 75520661
E-mail: oj.kolding@mail.tele.dk

Übersetzt von Dietrich Harbsmeier


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