Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Letzter Sonntag nach Epiphanias, 16. Januar 2005
Predigt über
2. Mose 3, 1-14, verfasst von Jürgen Jüngling
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  1. Wahr und wahrhaftig – solche dichten und konzentrierten Texte wie dieser von der Berufung des Mose haben selbst in der Bibel Seltenheitswert. Es handelt sich um einen einzigen Dialog zwischen Gott und Mensch, übrigens den längsten und ausführlichsten, von dem uns die Bibel berichtet. Wenn ich das Geschehen mit einem Wort zusammenfassen müsste, so gibt es für mich nur eines: Gotteserfahrungen. Darum geht es, um die Erfahrungen von Menschen mit ihrem Gott – um gefüllte, um geronnene Gotteserfahrungen.

    Die Stichworte dazu werden ausdrücklich genannt, sind im Text schön nacheinander aufgereiht wie die Perlen an der Kette: heilig – Rettung – Auftrag und schließlich der Name Gottes. Genau so wie ich die einzelnen Perlen einer Kette durch meine Finger gleiten lasse, möchte ich mich im Folgenden an diesen Stichworten orientieren.

  2. Da brennt ein Busch, doch er verbrennt nicht. Da ergeht ein Ruf, auf den Mose nur antworten kann: „Hier bin ich“. Da ist es nötig, die Schuhe auszuziehen. Und so nähert sich der Mann aus Midian dem Unfassbaren, dem Geheimnisvollen – voll Ehrerbietung, sicher barhäuptig und sogar barfuß. Ganz ohne Schutz geht er auf den Ort zu, von dem es heißt, er sei heiliges Land. Kein Wunder, dass Mose sein Angesicht verhüllt und sich fürchtet, „Gott anzuschauen“. Hier geschieht etwas, was wir von so vielen Gottesbegegnungen her kennen: Ihn überfällt Furcht und Zittern, Staunen und Erschüttern. Anders kann es wohl gar nicht gehen in der direkten Begegnung mit unserem Gott, nicht anders als mit Faszination auf der einen und mit Angst auf der anderen Seite. Jakob, der Stammvater Israel, hat das auch berichtet, die Propheten haben es geschildert, Martin Luther hat es erzählt und so eben auch Mose, der Schafhirte am Berg Horeb. Auch wir kennen solche Gefühle von der einen oder anderen Begebenheit her, von Widerfahrnissen an emotional hochbesetzten Orten oder von ganz bestimmten Situationen im eigenen Lebenslauf, wo die Gegenwart Gottes nahezu mit Händen zu greifen war. Ich bin davon überzeugt: Es gibt Gelegenheiten, in denen man wirklich dem Heiligen begegnet, in denen wir förmlich von ihm ergriffen werden – dann, wenn wir unser Glück gar nicht fassen können, und nicht weniger, wenn wir weder aus noch ein wissen. Die Frage allerdings bleibt: Wie offen sind wir für solche Erfahrungen?

  3. Die Rettung – das nächste Stichwort – macht sich fest am Urgeschehen Israels: Gott hat das Elend des Volkes in Ägypten nicht nur gesehen und sein Geschrei nicht nur gehört, sondern er hat seine ganze Misere erkannt. Erkennen ist im Hebräischen längst nicht nur ein Akt der Vernunft, sondern das hat mit Wahrnehmen zu tun, mit Zuwendung, ja mit Liebe zu denen, die sich im Tal der Tränen befinden. Spätestens hier wird deutlich, dass die Rede vom zornigen Gott des Alten Testamentes und die vom liebenden Gott des Neuen Testamentes so überhaupt nicht stimmt. Spätestens hier ist das Grundmuster göttlichen Handelns mit Händen zu greifen: Er sieht das Leid, er lässt sich darauf ein und errettet daraus: „Ich bin niedergefahren, dass ich sie errette ... und sie herausführe ... in ein gutes und weites Land ..., darin Milch und Honig fließt.“

    Und so, wie es damals Israel ergangen ist, wie es Gott seine Rettung zugeschrieben hat, so haben es Menschen immer wieder erfahren: Gott als der Retter – als der Retter an Weihnachten draußen vor Bethlehem, als der Retter an Ostern in Jerusalem, als der Retter in unzähligen Schicksalsgeschichten. Gewiss, diese Sicht ist so oft versperrt. Und angesichts der Katastrophe in Südasien will sie manchen aussichtslos erscheinen, wenn nicht gar zynisch. Aber ganz im Ernst: Was bleibt uns denn da, gerade da – zu hoffen auf Rettung durch den ganz Anderen? Denn nirgends ist uns deutlicher geworden als da: „Mit unsrer Macht ist nichts getan, wir sind gar bald verloren.“ Und deshalb traut der Glaube auf diesen ganz Anderen; in den Liedern unseres Gesangbuches zum Beispiel werden deshalb immer wieder solche Rettungserfahrungen und Rettungshoffnungen laut: „Wahr Mensch und wahrer Gott, hilft uns aus allem Leide, rettet von Sünd und Tod.“ Oder „Er weiß viel tausend Weisen, zu retten aus dem Tod.“ Oder: „Hilfest von Schanden, rettest von Banden. Wer dir vertrauet, hat wohl gebauet.“ In der Tat: Es sind geronnene Gotteserfahrungen, die hier laut werden. Und wie sieht das bei uns aus? Wieweit können auch wir die Erfahrungen unseres Lebens in diesem Horizont verstehen und deuten?

  4. So sehr allerdings Rettung immer ein Geschenk ist, ein durch und durch unverdientes Geschenk, ein Geschenk aus reiner Gnade, so wenig kann Rettung ohne Folgen sein. Und so ergeht unter der Hand der Auftrag an den, der gerettet werden soll: „Ich will dich zum Pharao senden, damit du mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten führst.“ Rettung bewirkt eben nicht Untätigkeit, sondern Rettung fordert gewissermaßen zur Antwort heraus. Hier hat die alte Weisheit ihren tiefen Sinn „Wie du mir, so ich dir“. Will heißen: In die Bewegung der Rettung haben wir uns selbst hereinzustellen. Gott ruft uns auf, diese Lebensrichtung nun auch unsererseits einzuschlagen. Aus der Gabe wird unversehens eine Aufgabe.

    Aber hier geht es dem Mose wie so vielen anderen und nicht zuletzt wie uns selbst: Die Angst vor der Aufgabe ist groß. Und er – wie auch wir – möchten ihr manchmal so gerne ausweichen: aber ich nicht! Mose sagt: Wer bin ich, ausgerechnet ich, dass ich zum Pharao gehen soll? Ich denke in diesem Zusammenhang an den großen Propheten Jeremia, der in gleicher Lage sich zu drücken versuchte mit dem Argument: „Ach, Herr, Herr, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung“. Doch Gott lässt die vorgeschobene und falsche Bescheidenheit nicht gelten, nicht bei Jeremia, nicht bei Mose und ebenso nicht bei uns. Er wischt sie weg, wie das ein guter Vater tut bei der Angst oder der Unsicherheit seines Kindes: „Ich will mit dir sein“. Gibt es etwas Verlässlicheres als dieses „Ich will mit dir sein“ von Seiten des Vaters oder der Mutter oder gar unseres Vaters im Himmel? Auch hier eine Parallele mit dem Ergehen des Stammvaters Jakob, als Gott ihm in schwerer Stunde zusagte: „Ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.“ (1 Mose 28,15) Diese Zusage sollte so etwas werden wie ein Geländer an allen Wegen, die Jakob oder Mose vor sich hatten, auch an den Umwegen und selbst an den Abwegen. Das aber möchte ich – gerade jetzt am Jahresbeginn – so gerne weitersagen: Dieses Gotteswort gilt auch uns heute, egal, wo wir stehen, egal, wer wir sind, und egal, was passiert:Ich bin mit dir. Ich, der große Gott, nehme dich einfach bei der Hand, damit du deine Aufgaben erfüllen und weitergehen kannst. Allerdings: die Hand ausstrecken, das musst du schon selbst.

  5. Ein letztes Stichwort, gewissermaßen die Klammer, die alles andere zusammenhält: der Name Gottes! Er ist der „ich werde sein, der ich sein werde“, und er ist zugleich „der Gott eurer Väter“. Damit wird der große Bogen geschlagen von der Vergangenheit hinein in Gegenwart und Zukunft. Mose kann wissen, mit wem er es zu tun hat. Immerhin kennt er die Vergangenheit und hat seinen Gott erfahren als den, der schon den Vätern nahe war. Er ist ihm also kein Unbekannter, und deshalb kann er sich auch einlassen auf den, der sein wird. Hier verschränken sich Vergangenheit und Zukunft, und zwar im Wort Gottes selbst: „Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Israels und der Gott Jakobs.“ Daraus folgt – nahezu von ganz allein: „Ich will mit dir sein.“ Über diese Brücke kann und wird Mose gehen. Und wir?

    Allerdings kann Gott niemals aufgehen in der Art einer Gleichung, nach der 2 x 2 = 4 ist. Zu geheimnisvoll ist und bleibt sein Name. Darüber haben alle Generationen der Menschheitsgeschichte seither gebrütet, und doch bleibt da ein Rest, bleibt etwas, was sich nicht auflösen lässt. Und das ist gut so, muss wohl so sein. Zu dem Geheimnis Gottes und seines Namens gehören nun einmal die Erfahrungen von Ehrfurcht und von Staunen, vielleicht auch von Furcht und von Zittern.

    Und uns – ach so modernen – Menschen fällt es hoffentlich wie Schuppen von den Augen: Vor ihm, vor dem „ich werde sein“, vor Jahwe – wie die Israeliten sagen – wird uns deutlich, wie klein wir sind und wenig wir aus uns selbst heraus vermögen. Deshalb sind wir mit allem, was wir können und was wir haben, allenfalls Beschenkte. Nirgends wird uns das so deutlich wie bei dem Blick auf das frisch erlebte Grauen. Beschenkte zu sein – ist das nicht eine gute Ortsbestimmung für uns am Beginn eines neuen Jahres? Beschenkt mit neuen Chancen und beschenkt mit Zuversicht? Oder wie Martin Luther diesen Sachverhalt in seiner letzten schriftlichen Notiz im Angesicht seines nahen Todes formuliert hat: „Wir sind Bettler, das ist wahr.“ Dankbare Beschenkte, zuversichtliche Bettler – könnte das nicht die Perspektive für unser Leben sein? Amen.

Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck
- Oberlandeskirchenrat Jürgen Jüngling -
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