Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Erster Sonntag nach Epiphanias, 9. Januar 2005
Predigt über Matthäus 4, 12-17, verfasst von Richard Engelhardt
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Als nun Jesus hörte, daß Johannes gefangen gesetzt worden war, zog er sich nach Galiläa zurück. Dort verließ er Nazaret und wohnte nun in Kapernaum, das am See im Gebiet von Sebulon und Naftali liegt, damit erfüllt würde, was durch den Propheten Jesaja gesagt worden ist:

Das Land Sebulon und das Land Naftali,
das Land am See, das Land jenseits des jordan,
das heidnische Galiläa,
das Land, das in Finsternis saß,
hat ein großes Licht gesehen;
und denen, die am Ort und im Schatten des Todes saßen,
ist ein Licht aufgegangen.

Seit dieser Zeit fing Jesus an zu predigen: Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.

Liebe Gemeinde!

In dem alten Haus, in dem ich meine Kindheit erlebte, gab es einen Gewölbekeller. Dort unten wurde nicht nur Vaters Wein gelagert, dort standen auch die Bottiche mit dem Pökelfleisch, den eingelegten Gurken und dem Sauerkraut. Und es gab viele Ecken und Winkel für die Kartoffeln und Möhren, die Äpfel und die Gläser mit dem Eingemachten. Manchmal, ich war ja schon sieben Jahre alt, kam der Auftrag der Mutter: Geh doch ml in den Keller und hol ein Glas Pflaumenmus.

Und dann begann ein großer innerer Kampf: Einerseits war ich ja schon groß und der Auftrag war gewiß ehrenvoll. Ich konnte das ja schon. Andererseits hatte ich eine fürchterliche Angst, denn im Keller gab es kein Licht. Ich mußte mit einer Kerz in der Hand die Treppe hinuntersteigen und die Gewölbe und Nieschen warfen unheimliche Schatten und sicher gab es Mäuse und andere schreckliche Ungeheuer, die im Dunkeln auf mich warteten. Es gab nur eine Rettung in der Angst: Lautes Singen. Viel später erzählte mir meine Mutter, ich hätte eigentlich immer – sowohl im Oktober wie im März – Weihnachtslieder gesungen. „Macht hoch die Tür“, „Ihr Kinderlein kommet“, „O, du fröhliche“ als Lieder gegen die Angst vor der Finsternis, gegen die unheimlichen Schatten. Was war das für eine Erlösung, wieder oben auf der Diele zu sein, die Kellertür wieder schließen zu können, das warme Licht in der Wohnung wieder zu erleben.

Diese sinnliche Erfahrung der Finsternis und der bedrohlichen Schatten aber auch des erlösenden Lichtes muß wohl sein, um so einen Satz, wie ihn der Evangelist Matthäus aus dem Prophetenbuch Jesaja zitiert, verstehen zu können: „Das Volk, das in Finsternis saß, hat ein großes Licht gesehen.“

Das Volk, das keine Hoffnung, keine Zukunft, keinen Trost erleben kann, das Volk, das von allen Seiten bedrängt ist und in ständiger Angst vor Not und Leid lebt, das Volk, das den Geboten und Ordnungen nicht mehr genügen kann und nur den drohenden und strafenden Gott vorgestellt bekommt, diesem Volk ist ein Licht aufgegangen.

Matthäus nimmt dieses alte prophetische Wort auf, um das Neue, das mit dem Auftreten Jesu beginnt, angemessen beschreiben zu können: Jesus ist das Licht der Welt. Mit ihm beginnt der Anbruch der Gottesherrschaft über alle Dunkelheit der Welt.

Nun geschieht dies alles zwar – wie Matthäus erkennt – nach Gottes Plan und Willen. Aber da sind die Menschen, die auf sich und ihr eigenes Elend sehen, auf ihr Versagen und Fehlverhalten. Den Willen Gottes, daß nämlich allen Menschen geholfen werde, können sie nicht wahrnehmen. Gott schickt zwar immer wieder Menschen aus mit der Vollmacht, von seiner Liebe, von seiner Befreiung Mitteilung zu machen, aber sie werden nicht gehört.

Mancher mag so resigniert sein, daß er nicht mehr glauben mag, was ihm zugesagt wird. Mancher mag sich in einer Niesche bequem eingerichtet haben. Was morgen kommt, interessiert ihn nicht. Es ist ja sowieso egal. Mancher kann auch das Elend der anderen trefflich zum eigenen Machterhalt nutzen. Diese Mächtigen haben den letzen der Boten Gottes, den Johannes, gerade gefangen gesetzt und werden ihn wenig später ermorden. Dabei war Johannes nur ein Prediger in der Wüste. Diejenigen, die von ihm etwas von der erlösenden Botschaft hören wollten, mußten schon aus der Alltäglichkeit herauskommen und zu ihm in die Wüste gehen. Was sie dort hörten, war für die Mächtigen bedrohlich. Johannes, der Prediger in der Wüste, forderte sie auf, sich zu ändern, forderte sie auf, nach dem Willen Gottes zu suchen, forderte sie auch auf, nach der Gerechtigkeit Gottes zu fragen. Das konnte bedrohlich werden für diejenigen, denen nur an Ruhe und Ordnung und an dem für sie ehernen Gesetz von Befehl und Gehorsam gelegen war. Johannes also mußte weg.

Was nun geschieht, haben die Evangelien später in einem Gleichnis Jesu nacherzählt: Da schickt ein Weinbergbesitzer immer wieder Boten zu denen, die in seinem Weinberg arbeiten. Diese Arbeiter im Weinberg sind jedoch ungetreu. Immer wieder werden die Boten verjagt und sogar getötet. Der Weinbergbesitzer aber läßt sich nicht entmutigen. „Zuletzt sandte er seinen Sohn zu ihnen“. So geschieht es auch hier.

Johannes Bußpredigt paßte den Menschen nicht. Diese Predigt war ihnen zu subversiv. Er wurde zum Schweigen gebracht. Abeer „Gott will, daß allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.“ So kommt Gott selbst in Jesus aus Nazareth zu denen, die im Dunkeln sitzen. Und die Botschaft Jesu geschieht nicht mehr in der Wüste, zu der man unter mancherlei Überwindung hinausgehen muß. Jesus geht zu den Menschen. Er geht nach Kapernaum, einem Ort an der Grenze zwischen denen, die rechtgläubig sind und den „Heiden“. Sie sind die Grenzgänger zwischen Glauben und Unglauben. Die Frommen dürfen mit ihnen keine Gemeinschaft haben. Sie, die sich als die Frommen verstehen, sehen sich doch im Licht der göttlichen Ordnung – und werfen tiefe Schatten auf die anderen, eben die „Heiden“, die Fernen da draußen. Dorthin also geht Jesus, zu „denen, die am Ort und im Schatten des Todes saßen“.

Ihnen sagt er: „Tut Buße“, kehrt um, wandelt Euch durch ein neues Denken, „denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen“.

Gerade der Hinweis auf das nahe Himmelreich macht deutlich, daß Jesu Ruf „Tut Buße“ kein moralischer Appell ist. Leider hat es sich in den Traditionen der Kirche so entwickelt, daß Buße vor allem eine Übung ist, der man sich unterzieht, wenn eine Schuld drückt oder man sich eines falschen Weges bewußt wird. Jesu Bußruf aber ist sehr viel umfassender.

„Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.“ Seht doch, daß das Licht, das Gott in die Welt gegeben hat, jetzt schon leuchtet und die Schatten des Elends, unter dem die Menschen leiden, die Schatten des Todes, die wir immer noch fürchten, bereits überwunden hat. Die Erlösung ist doch schon ganz nahe. Jetzt kann es doch nur noch darum gehen, sich dem licht zuzuwenden. „Tut Buße“, ändert euch, fangt an, eucch auf Gott und seine Liebe, auf sein Heil zu verlassen. Laßt das, was wir zu Weihnachten gehört haben, im Alltag zu. Verlaßt euch auf Gott und sein Heil.

Eigentlich sollte hier die Predigt beendet sein, aber dann kamen die Nachrichten am 2. Weihnachtstag von dem gewaltigen Erdbeben und der der großen Flut im Indischen Ozean. Ich sah das Bild des Vaters, der in seinem unendlichen Schmerz die Hand seines toten Sohnes liebkost. Ich sah die Frau, die in Trauer versteinert vor den Trümmern ihres Lebens sitzt, und die Mutter, die, ihr totes Kind im schoß, in tiefster Verzweiflung ihre hände zum Himmel hebt. Ich traf in der Nachbarschaft das alte Ehepaar, dem es mehr und mehr zur Gewißheit wird, daß ihr Sohn, ihre Schwiegertochter und ihr Enkel zu den ungeheuer vielen Ertrunkenen und Erschlagenen gehören. Mit einem Male gehören wir – zusammen mit denen, die das gewaltige Unheil direkt erleben mußten – zu dem Volk, das in der Finsternis sitzt, zu denen, die am Ort und im Schatten des Todes sitzen.

Ich suche nach Worten des Trostes, nach dem großen Licht, das von der Liebe Gottes und dem Heil kündet. Heute ist es für mich nur das Eine, daß ich zu Gott klagen darf wie Jesus Christus am Kreuz in tiefster Gottverlassenheit klagen durfte und konnte:

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne.
Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht,
und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe.
Ich bin ausgeschüttet wie Wasser,
mein Herz ist in meinem Leibe
wie zerschmolzenes Wachs.
Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe,
und meine Zunge klebt mir am Gaumen,
und du legst mich in des Todes Staub.
Aber du, Herr, sei nicht ferne;
Meine Stärke, eile, mir zu helfen!“ (aus Psalm 22)

Im Angesicht des nicht zu ermessenden Leides kann ich nur einladen, in dieses Klagelied aus dem Psalm einzustimmen. Ich bete und ich hoffe, daß ich dann eines Tages auch wieder aus der Dunkelheit der Klage und der Trauer umkehren und in das Lob Gottes einstimmen kann:

„Er hat nicht verachtet noch verschmäht
das Elend des Armen
und sein Antlitz nicht vor ihm verborgen;
und als er zu ihm schrie, hört er`s.
Dich will ich preisen in der großen Gemeinde.“

Amen.

Pastor i. R. Richard Engelhardt
37083 Göttingen, Lotzestraße 53
Tel.: 0551-3706970
Fax: 0551-3706962


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