Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Epiphanias, 6. Januar 2005
Ansprache beim Epiphaniasempfang der
Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers
Margot Käßmann
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Ansprache beim Epiphaniasempfang der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers
Kloster Loccum, 6. Januar 2005

Herr Ministerpräsident, meine Damen und Herren!

In diesem Jahr steht unserer Landeskirche ein besonderer Gast ins Haus – der Deutsche Evangelische Kirchentag kommt! Ich freue mich sehr, dass aus diesem Anlass heute der Präsident des 30. Deutschen Evangelischen Kirchentages, Prof. Dr. Eckhard Nagel und auch die Generalsekretärin Friederike von Kirchbach hier bei uns sind. In einer regionalen Tageszeitung wurde ja heute die Befürchtung eines ehemaligen Generalsekretärs, der ehemals Bischof wurde, berichtet, der Kirchentag könne sich zu stark unter den Einfluss der Kirchenleitungen begeben - auch durch Generalsekretärinnen, die „schnell“ (mal eben?) beispielsweise Bischöfin in Hannover werden. Ich denke, ein Blick in die Realität zeigt, dass in den 56 Jahren der Existenz der Kirchentagsbewegung es immer ein Aufeinander-gewiesen sein von Kirche und Kirchentag gab, mal spannungsvoller, mal harmonischer. Heute sind wohl die Herausforderungen für beide gemeinsam größer als je zuvor – Säkularisierung und Banalisierung der Gesellschaft, die Suche nach Orientierung im Glauben und auch die großen Fragen der Welt. So kann ich die Anwesenden hinsichtlich jener Sorge beruhigen: wir arbeiten gut zusammen, kennen aber unsere je eigenen Aufgaben...

Loccum übrigens wird mit Blick auf den Kirchentag eine besondere Rolle spielen. Alle achtzehn Klöster in unserer Landeskirche sind ja ein großes Geschenk. Ich wünsche mir, dass wir ihre spirituelle Kraft neu entdecken und sie vielen Menschen zugänglich machen. Deshalb hoffe ich, dass es in ein paar Jahren ein Handbuch der Klöster und Pilgerwege für unsere Landeskirche geben wird. Der erste Schritt dazu wird zum Kirchentag dank des Engagements vieler konkret werden: ein Pilgerweg von Volkenroda nach Loccum, vom zisterziensischen Mutterkloster zum Tochterkloster, ausgeschildert, nach-pilgerbar - Kirchentag nachhaltig für die Landeskirche als spiritueller Aufbruch sozusagen. Daran beteiligen sich auch die anderen Klöster durch ihr Engagement in der Halle der Spiritualität während des Kirchentages.

In der Akademie Loccum wird zwei Tage vor dem Kirchentag ein Forum stattfinden, dass ausländische Gäste vorab versammelt und die Herausforderungen der Globalisierung thematisiert. So nutzen wir den Kirchentag für eine Vernetzung des kirchlichen Engagements weltweit. Die ökumenische Dimension, die ich mir für Hannover 2005 erhoffe, wird auf diese Weise evangelisch-katholisch, aber auch im weltweiten Horizont erkennbar werden.

Nun sehen viele, gerade Außenstehende, einen Kirchentag als eine Art Happening - fünf Tage evangelischer Ausnahmezustand sozusagen. Kirchentag aber ist mehr. So möchte ich Sie heute Nachmittag ein wenig hinein nehmen über das Nachdenken über diese Herausforderung.

Es war ein Mann in existentieller Situation, der die Idee, die Eingebung zum Kirchentag hatte. Reinold von Thadden-Trieglaff hatte die Katastrophe des Zeiten Weltkrieges hautnah erlebt. Er kam aus der Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion mit der Erfahrung einer Berufung zurück, nämlich die Glaubenserfahrungen der Gefangenschaft weiterzutragen. „Die neun Monate in Russland sind nicht ungesegnet an mir vorüber gegangen“, schreibt er 1945. Leider kann ich die Geschichte heute nicht vollständig erzählen, Herr Gansäuer hat mich eingeladen, das einmal zu tun in einem Vortrag im Mai. So viel aber heute noch: Thadden-Trieglaff knüpfte mit seiner Vision eines Kirchentages ganz konkret an seine Erfahrungen der Evangelischen Wochen der Vorkriegszeit an. Er wollte Laien so im Glauben schulen, ja theologisch bilden, dass sie nie wieder so in die Irre gehen könnten wie in der Zeit des Nationalsozialismus. Und er scharte Freunde aus der Zeit der Bekennenden Kirche um sich.

1948 fand eine erste Evangelische Woche in Frankfurt statt, für den Juni 1949 war dort eine zweite geplant. Martin Niemöller sagte sie im März 1949 ab - über die Gründe dieser Absage ist viel spekuliert worden. Lag es an der Planungsbesprechung in Offenbach im Februar 1949, in der Reinold von Thadden-TriegIaff seine Ideen und Zielsetzungen für einen Kirchentag erstmals in größerer Runde vortrug? Kurzum: Landesbischof Lilje, mein Vorvorvorgänger im Bischofsamt, dessen Todestages wir heute am 6. Januar gedenken und alter Weggefährte von Thadden-Trieglaffs, lud nach Hannover ein. Dort wurde diese evangelische Woche von Gustav Heinemann kurzerhand zum ersten Deutschen Evangelischen Kirchentag erklärt.

Interessanterweise gibt es über den tatsächlichen Verlauf des 1. DEKT keine vollständigen Quellen, eine Strukturierung durch eine Losung gab es noch nicht, unter dem Titel „Kirche in Bewegung" wird der in den Geschichtsbüchern geführt. Absagen etwa von Karl Barth und Helmut Thielicke, die Zusage wiederum Martin Niemöllers, nach Hannover zu kommen - all das deutet auf heftiges Ringen. Der gesamte Ablauf kann nur ansatzweise rekonstruiert werden. Allerdings ist belegt, dass bis zu 6000 Menschen teilnahmen. Überliefert sind auch die beiden Vortragstitel von Landesbischof Hanns Lilje: „Der Mensch zwischen Angst und Hoffnung" am 29. Juli 1949 und „Die Würde des Menschen“ am 30. Juli 1949. Aktuelle Themen, auch 56 Jahre danach – Kirche in Bewegung, eine bleibende Aufgabe!

„Wenn dein Kind dich morgen fragt...“ Die Losung des 30. Deutschen Evangelischen Kirchentages 2005 stellt die Frage nach Werten, nach Orientierung, nach Verantwortung. Genau das sind die Herausforderungen, vor denen wir Anfang des 21. Jahrhunderts stehen. Eine gute und wichtige, eine treffende evangelische Zeitansage also.

Im biblischen Kontext ist interessant, dass der Sohn, der fragt, explizit für die nachfolgende Generation steht. Es geht sozusagen um den Generationenvertrag in Sachen Glauben, die Weitergabe von Tradition und Erfahrung, die Weitergabe der Gotteserfahrung und der Regeln für das Zusammenleben der Menschen. „Was sind das für Vermahnungen, Gebote und Rechte, die euch der Herr, unser Gott geboten hat?“, fragen die Jungen. Und die ältere Generation erzählt von den gemeinsamen Erfahrungen, vor allem von der Erfahrung der Befreiung aus Ägypten. Gott als ein Gott der Freiheit und nicht der Knechtschaft - das war die zentrale Erfahrung Israels, die gegen alle Realität von Unterdrückung und Verfolgung gestellt wurde. Sie wird im Judentum weitergegeben bis heute durch alle Katastrophen hindurch, über Holocaust und Antisemitismus hinweg. Ja, dieser Text, das ganze sechste Kapitel des 5. Buch Mose ist von fundamentaler Bedeutung für den jüdischen Glauben. Deuteronomium 6,4-9 ist bis heute Bestandteil des täglichen Morgen- und Abendgebetes, das Menschen jüdischen Glaubens zu rezitieren verpflichtet sind. Dürfen Christen sich das aneignen? Die Losung stellt uns erneut mitten hinein in die Frage des Verhältnisses der Religionen.

Auch Christinnen und Christen sehen sich durch die biblische Tradition ermutigt, die Treue Gottes zu erinnern und die Verantwortung, in der wir stehen, wahrzunehmen. Wir sind Teil einer Erzählgemeinschaft, die den Glauben weitergeben will und muss von Generation zu Generation. Dazu brauchen wir Überzeugungskraft und eine verständliche Sprache, um zu erzählen von Gott, von der Erfahrung Gottes, von der Bedeutung der Bibel und ihrer Botschaft für die Menschen heute. Das ist die aller erste Herausforderung der Losung.

Zwei Beispiele will ich dazu nennen:

Þ Zwischen den Jahren hatte ich Zeit, ins Kino zu gehen. Einer der Filme hat den Titel „O Happy Day” (läuft derzeit noch am Raschplatz). Da verschlägt es einen schwarzen Gospelsänger nach Dänemark. Der kleine, etwas verzagt wirkende Kirchenchor bittet ihn, mit ihnen Gospel einzuüben. Am ersten Tag fragt der Hoffnungsträger in Sachen Gospel (alle Zitate so ungefähr, nur aus dem Gedächtnis!): „Do you believe in Jesus?“ Die wirklich netten dänischen Christen sind etwas irritiert. „Ähem, irgendwie denke ich, Gott ist mehr so in der Natur und den Tieren“, stottert der Erste. „Ach, Glaube ist doch mehr so ein Gefühl“, versucht es die Zweite. Der nächste sagt: „Das ist ein bisschen zu privat, finde ich“. Und schließlich insistiert einer: „Wir sind hier in der lutherischen Volkskirche, verstehen Sie?“

Aber der neue Chorleiter sagt in tiefer Stimme „Well, if you do not believe in Jesus, you sure can´t sing Gospel“. Natürlich singen sie dann Gospel (O Happy Day!“) und entdecken auch das Beten wieder... Aber ich habe so manche von uns gesehen in dieser Szene. Können wir das wieder entdecken, unseren Glauben ganz direkt auf Jesus Christus beziehen? Oder ist uns das zu naiv, ja vielleicht sogar zu fundamentalistisch? Wie reden wir von unserem Glauben? Haben wir überhaupt Worte dafür, oder sind uns die Redeflüsse des Glaubens ausgetrocknet? Ja, ausgetrocknet ist wohl manches Mal das rechte Wort dafür.

Þ Vorgestern Abend war ich zu Gast in einer Fernsehsendung. Das ist ja immer so eine Frage: Gehst du da hin als Bischöfin, oder bist du nur das Anhängsel, die „Sozialtante“, die Vertreterin der Kategorie „sinnkompetent“? Mir ist in dieser Sendung wieder klar geworden, wie verwirrt viele in unserem Land sind, was ihre eigenen Wurzeln betrifft. Wenn sie eine schwere Situation im Leben trifft, wie gehen sie damit um? Viele scheinen gar nicht mehr nachzudenken über die eigene Existenz, die Endlichkeit des Lebens und sind dann völlig überrascht, plötzlich vor die Sinnfrage gestellt zu sein. Dabei gibt es durchaus tiefen Respekt vor fremden Religionen, fremden Kulturen, aber vielmals keine Beheimatung mehr in der eigenen Kultur, der eigenen Religion. Woher jedoch soll Orientierung kommen? Wenn wir unsere Identität, auch die kulturelle nicht bestimmen können, auch unsere Wurzeln nicht kennen, wie sollen wir dann einen Dialog mit anderen um die Integration führen? Wohin wollen wir integrieren?

Die Losung stellt mit dem zweiten Blick uns auch in eine Verantwortungsgemeinschaft. Wenn unsere Kinder, wenn uns junge Menschen morgen fragen, wie habt ihr die denn die Situation wahrgenommen im Jahre des Herrn 2005? Auch hier lassen Sie mich zwei Beispiele nennen:

Þ Viel wird in diesen Tagen der Jahreswende über Hartz IV und die Folgen gesprochen. Viele Menschen haben einen schweren Weg vor sich, ihre Sorgen und Ängste müssen ernst genommen werden, auch ihre Abwehr und Verbitterung ist verständlich. Mir liegt daran, dass sie sich von uns als Kirche insgesamt, aber auch in unseren Gemeinden ganz konkret gesehen und gehört wissen, dass bei allem klaren Blick auf die Reformnotwendigkeiten, der Blick auf die reale Situation Betroffener vor Ort erkennbar bleibt. Es ist wichtig, dass unsere Kirche erfahren wird als Ort der Zuwendung, als offene Kirche im realen wie im übertragenen Sinn. Als Kirche für andere, die sich aktiv einsetzt für die Belange der anderen, die versucht, Not zu lindern, ja die Lage derer in Not zu wenden.

Ich denke, die Losung weist uns zuallererst auf die Situation der Kinder hin. Klar ist uns allen ja: Gesetze zur Veränderung der sozialen Sicherungssysteme der Bundesrepublik Deutschland sind unabweisbar notwendig. Der wesentliche Grund dafür ist die demografische Entwicklung, also das Schrumpfen der Bevölkerung, verbunden mit einer dramatischen Verschiebung der Altersschichtung: Rentenzahlungen und Gesundheitskosten werden enorm ansteigen; die Basis, um das zur Finanzierung dieser Kosten notwendige Geld aufzubringen, wird deutlich abnehmen.

Es gibt ganz gewiss keinen Königsweg zur Lösung dieser Grundproblematik. In vielen Bereichen unserer Gesellschaft muss sich Entscheidendes ändern: Eine durchgreifende Reform und Verbesserung unseres Bildungs- und Erziehungssystem steht an, das machen nicht zuletzt die Pisa-Studien offensichtlich. Vor allem aber ist uns als Kirche wichtig, dass sich die materielle Situation junger Familien deutlich verbessert und die Möglichkeiten für Frauen, Beruf und Familie mit Kindern zu leben, endlich auf breiter Basis konkret geschaffen werden. Die Meldungen vom Jahresende 2004, dass sich das Armutsrisiko für Familien in Deutschland noch erhöht hat, müssen doch mehr als nachdenklich stimmen. 15 Prozent der Kinder unter 14 Jahren und 19,1 Prozent der Jugendlichen leben unter der Armutsgrenze! Mir ist klar, Herr Ministerpräsident, dass die politischen Spielräume aufgrund der Schuldenlast eng sind. Das kennen wir ja auch als Kirchen! Aber wenn unsere Kinder die Zukunftsperspektive sind, müssen wir sie an erste Stelle setzen.

Wichtig ist mir auch: Kinder dürfen nicht einfach nur als Rentenfaktor angesehen werden - sie haben ein Recht in sich selbst! Eine Gesellschaft mit wenigen Kindern ist ärmer an Anregungen, Vielfalt, Spontaneität und Kreativität. Mit Kindern zu leben ist auch ein Lebensglück! Das scheint mir in den Debatten der vergangenen Monate manches Mal auf der Strecke zu bleiben. Kinder sind viel mehr als ein elementarer demografischer Faktor und eine wirtschaftliche Belastung! Wenn wir darüber nicht sprechen, werden junge Leute auch keinen neuen Mut zu Kindern gewinnen.

Þ “Wenn dein Kind dich morgen fragt...“ – dieser Satz bekommt in diesen Tagen angesichts der furchtbaren Flutkatastrophe in Südostasien und ihren Folgen noch einmal eine besondere Bedeutung. Kann es angesichts einer solchen Katastrophe Hoffnung auf Zukunft geben? Sie wird in jedem Fall in die Geschichtsbücher eingehen. Die Frage ist nur, wie. Wird das ein kleiner Absatz nach dem Motto: damals, Ende 2004 starben 10tausende aus vielen Nationen? Oder wird das ein Wendepunkt? Wenn in all dieser Katastrophe Hoffnung entstehen kann, dann doch wohl nur durch ein Innehalten. Manches Mal wurde ich in den letzten Tagen gefragt, ob das ein Zeichen der Endzeit sei, oder der Tsunami eine Strafe Gottes. Ich kann das nicht so sehen. Ein solches Verständnis wird schon im Buche Hiob dementiert. Nein, da ist kein Tun-Ergehens-Zusammenhang.

Viel wird in diesen Tagen von der Sintflut gesprochen. Und ja, diese biblische Geschichte spiegelt ganz gewiss auch die Erfahrung von Menschen mit der Urgewalt des Wassers. Ja, sie wurde damals als Strafe Gottes gedeutet. Aber am Ende der Sintflut steht der Regenbogen und Gottes Zusage: So lange die Erde steht soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht „ (1. Mose 8,22)

Wenn aber nicht Strafe, dann doch vielleicht Mahnung? Wie gehen wir denn um mit der Schöpfung? Wir dürfen sie gewiss nicht verniedlichen, sondern haben sie zu achten und ihre Kräfte auch nicht zu unterschätzen. Eine solche Katastrophe solle uns auch nachdenklich machen, wenn Experten vorher sagen, die Klimakatastrophe, die unser Lebensstil hervorruft und die wir so gern ignorieren, werde noch in viel größerem Umfang zu Katastrophen solchen Ausmaßes führen? Mahnt uns die Flutwelle nicht, das Thema der Unantastbarkeit der Menschenwürde auf die Tagesordnung zu setzen, wenn wir sehen müssen, dass manches Mal erst die Touristen und dann die Einheimischen versorgt wurden? Nein, Europäer sind nicht mehr wert und haben nicht mehr Rechte, bloß weil sie mehr Geld haben und daher als Touristen rund um den Globus reisen können. Plötzlich entdecken da einige ganz erschrocken, wie arm die Menschen in den Ländern sind, in denen sie Urlaub machen. Und andere empören sich, dass die Infrastruktur in einem Land wie Indonesien nicht der in Deutschland entspricht. Da ist doch tatsächlich sein Handy zusammengebrochen! Von Sextourismus jetzt einmal ganz zu schweigen. Und die Globalisierung. Ja, viele wollen jetzt helfen und das ist ein gutes Zeichen. Das Herz der Menschen ist nicht aus Stein, es gibt Solidarität. Aber gibt es eine Bereitschaft zum Teilen nicht nur des Überflusses? Die enorme Spendenbereitschaft ist da ein ermutigendes Zeichen, denke ich. Menschen müssen nur konkret wissen, wofür sie geben, mit wem sie teilen, damit sie nicht versinken in der Hoffnungslosigkeit des „Ich kann doch nichts tun“!

Wenn es Hoffnung in der Katastrophe gibt, dann müsste endlich, endlich eine Bereitschaft wachsen, den Nord-Süd-Konflikt ernsthaft wahrzunehmen Dann setzen die westlichen Industrienationen endlich den uralten Beschluss um, 0,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Entwicklungshilfe zu investieren. Dann folgen endlich dem Beschluss, die Zahl der Armen bis zum Jahr 2015 zu halbieren, konkrete Schritte. Dann unterzeichnen endlich die USA auch das Kyoto-Abkommen. Und es gibt endlich klare Regelungen für gerechten und fairen Handel für die Produkte aus den Ländern des Südens. Ist das nun utopisch? Wird es heißen, die Bischöfin ist halt naiv, eine etwas schlicht gestrickte Weltverbesserin? Meine Damen und Herren, wenn unsere Kinder uns eines Tages fragen, möchte ich Rede und Antwort stehen. Mehr als 10 Millionen Menschen sterben jedes Jahr an Unterernährung. Wenn Südostasien das Krankenhaus der Welt ist, so ist südlich der Sahara, wie die Süddeutsche vorgestern so treffend formulierte, die Intensivstation der Welt zu finden. Ja, ich wünsche mir, dass wir aus dem Wohlstandstraum der leicht deprimierten Übersättigung aufwachen und endlich, endlich das Thema weltweite Gerechtigkeit auf die Tagesordnung setzen.

Und das individuelle Leid? Das müssen wir selbstverständlich wahrnehmen. Wer hier um Angehörige trauert, findet Notfallseelsorger, ja Seelsorgerinnen und Seelsorger in unseren Gemeinden vor Ort. Ich denke, es sollte Trauerfeiern für die Vermissten je vor Ort geben. Und wir haben ja auch die Möglichkeit, auf unseren Friedhöfen einen Gedenkstein zu errichten – Orte der Trauer sind von großer Bedeutung. Vielleicht sollte auch an einen zentralen Ort der Trauer gedacht werden. Aus den Weltkriegen wissen wir, wie wichtig solche Ort für die sind, die ihre Lieben nicht bestatten können. Und das gilt für die verstorbenen und verschollenen Touristen wie für die Einheimischen gleichermaßen.

Das wünsche ich mir als Zeitansage vom Kirchentag: die Fragen in unserem Land aufnehmen, aber vor allem auch die Frage der Globalisierung. Und: neue Wege finden, Handlungsmöglichkeiten entwickeln, eine offene Sprache suchen, Spiritualität entdecken, damit wir unseren Glauben weitergeben an die nächsten Generationen. Unseren Glauben weitergeben und leben in konkreter Verantwortung vor uns selbst, vor anderen Menschen und vor Gott, orientiert an den Maßstäben von Gerechtigkeit, Frieden und der Bewahrung der Schöpfung. Dass wir dabei nicht auf uns allein gestellt sind, sagt uns ermutigend die Jahreslosung aus dem Lukasevangelium: „Jesus Christus spricht: Ich habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht aufhöre“ (22,23).

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

Landesbischöfin Dr. Margot Käßmann, Hannover
landesbischoefin@evlka.de


(zurück zum Seitenanfang)