Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Epiphanias, 6. Januar 2005
Predigt über
Johannes 1, 15-18 , verfasst von Marita Rödszus-Hecker
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„Und von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade. Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben, die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden. Denn das Gesetz ist durch Mose gekommen; die Gnade und Wahrheit ist durch Christus geworden.“

Liebe Gemeinde!

Je öfter wir ein Wort hören, desto weniger denken wir uns dabei. Darum gibt kaum ein Wort, das sich auf der Kanzel so abgenutzt anhört, wie das Wörtchen „Gnade“. In jedem Gottesdienst kommt es ein paar Mal vor – und was davon hängen bleibt, ist in etwa dieses: Wir tun zwar alle nicht das, was Gott von uns fordert. Was war das schnell noch einmal? Ach ja, die Zehn Gebote, und: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ist ja auch ein bisschen viel. Diese Menge Vorschriften, Gesetze und Gebote – wer ist da nicht überfordert? Wenn Gott uns sämtliche Übertretungen anrechnen wollte, da hätte er eine Menge zu tun. Darum wird Gott uns das alles vergeben. Gott ist Liebe. Schwamm drüber. Man muss auch einmal ein Auge zudrücken können. Gott ist ja nicht so. Klar, verdient haben wir die Gnade nicht. Aber erwarten tun wir sie schon ein bisschen.

Je öfter wir ein Wort hören, desto weniger ernst nehmen wir es. „Gnade wurde“, so hat es der Theologe Sören Kierkegaard einmal deftig formuliert, „ein richtiger Labberbegriff, als ob unser Herr ein altes Gerippe wäre, das es nicht so genau nimmt.“

Je öfter wir ein Wort hören, desto leichter überhören wir es. Bis wir dieses Wort auf einmal, in einem anderen Zusammenhang, wieder entdecken.

„Gnade“ – das ist der Titel des Romans der Autorin Linn Ullmann. „Gnade“. ist ein trauriges und schönes Buch. Es erzählt die Geschichte von Johan Sletten, einem 70 jährigen Journalisten, und seiner Frau Mai. Mai ist Johan zweite Frau. Und wie andere Männer ihre Frauen „Liebling“ oder „Schätzchen“ nennen, so nennt er seine Frau „Gnade“ oder die „Gnade seines Lebens“ nennt. Warum?

Bei ihr fühlt er sich geborgen. Sie ist so gut zu ihm, so freundlich. Sie versteht ihn. Sie ist nicht nachtragend oder rechthaberisch. Er muss sich nicht mehr ständig fragen, was er leistet, ob er gut genug ist. Sie macht ihn dankbar.

Eines Tages erfährt Johan bei einer ärztlichen Routineuntersuchung, dass er unheilbar an Krebs erkrankt ist. Seit diesem Tag ist klar: Er muss sterben, und seine Frau Mai, die er sehr liebt, wird weiterleben.

Johan hat Angst vor dem Dahinsiechen, davor, dass sein Sterben im Krankenhaus nur verlängert wird. Er will niemandem zur Last fallen. Er lehnt alles ab, was sein Leben und damit sein Leiden verlängern könnte. Aber nicht nur das. Er bittet seine Frau, die selbst Ärztin ist, um einen letzten Liebesdienst: sie soll ihm Sterbehilfe leisten – ihm die Todesspritze verabreichen, wenn der Moment gekommen ist.

„Hilfst du mir, wenn ich es nicht länger aushalte? Hilfst du mir dann?“ fragt er seine Frau. Und sie antwortet:“ Du bittest mich, dir zu helfen, und ich will dir helfen. Du bist mein Mann, und ich will dir alles geben, auch das. Aber ich habe Angst, dass mich mein Mut verlässt, weil du es bist. Weil du mein Freund bist.“

Kurze Zeit später muss er endgültig ins Krankenhaus. Seine Frau Mai ist bei ihm. So oft und so lange sie kann sitzt sie an seinem Sterbebett. Sind es nicht zwei getrennte Welten – die Welt der Gesunden und die Welt der Kranken? Verstehen die Gesunden die Kranken überhaupt ?

Johan Sletten weiß nicht mehr, was mit ihm geschieht. Er ist ganz weit weg. Er hört, dass sie weint. Er will reden. Aber es tut weh und er schafft es nicht. Es kommen andere Laute aus seinem Mund. Die Stimme seiner Frau hört er nur noch wie von weit her. „Kannst du nichts tun“, flehte er. „Ich halte deine Hand. Spürst du das?“ sagt sie. „Aber kannst du nichts tun?“ bittet er.

Es ist klar: er wird nie mehr gesund. Es wird ihm nie wieder besser gehen. Er wird sterben müssen. Seine Frau, die ihn liebt, ist jeden Tag bei ihm und kann ihm nicht helfen. Das einzige was man tun kann: seine Schmerzen lindern. Seitdem lebt Johann in einer Dämmerwelt. Aber er lebt.

Eines Nachts kommt seine Frau zu ihm. Nach ihrer Einschätzung sind Johans Schmerzen nicht mehr länger erträglich. Sie setzt sich auf seine Bettkante. „Johan, sagt sie. „Johan, sagt sie noch einmal. Johan antwortete – aber er glaubt nicht, dass sie ihn hört. Darum öffnet er die Augen und sieht sie an. „Es ist so weit, nicht wahr?“ fragt sie. „Ich weiß nicht“, sagt er. „Ich liege hier und warte darauf, dass es hell wird. Hör zu: Morgens wird es hell und abends dunkel, und im Laufe des Tages drehe ich mich um. So einfach ist das.“ Er versucht zu lachen. Sie hört ihn nicht. „Nein“, wiederholt er. Nicht! Bitte! Warte, bis es hell wird.“

Als Mai ihm die Spritze gibt, ist er bereits zu schwach zu sagen, dass er den nächsten Tag doch noch erleben will. Obwohl er kaum noch etwas wahrnimmt. Obwohl er „keine Aussicht auf Besserung“ hat. Obwohl es sich nur noch um ein „verlängertes Sterben“ handelt.

Gnade – das war für Johan einmal: nicht länger leiden zu müssen. Erlöst zu werden von diesem Dämmerzustand. Gnade – das war für ihn die unbedingte Liebe seiner Frau, die ihn selbst in dieser Situation nicht alleine lassen würde. Auf jeden Fall helfen würde, auch wenn sie kaum die Kraft dazu hätte, ihm diesen letzten Wunsch zu erfüllen. Und Gnade, das war für Mai: Mitleid mit ihrem Mann, ein Mitleid, das keine Angst mehr kennt, auch nicht die, sich strafbar zu machen.

Linn Ullmann zeigt in ihrem Roman die Grenzen menschlicher Gnade. Sie zeigt: Auch wenn wir Menschen gnädig sind, brauchen wir Gottes Gnade. Weil wir nicht den Überblick haben. Weil wir nur begrenzt einsichtsfähig sind. Und vor allem: Selbst unsere menschliche Gnade hat eine Kehrseite und die heißt: Schuld.

Denn wie sollen wir darüber urteilen, wie lange Leben lebenswert ist für einen anderen Menschen? Ja, nicht mal in bezug auf uns selbst können wir sagen, dass wir das, was wir als Gesunde wollen, auch noch als Kranke, als Todkranke wollen. Wir können uns die Zukunft immer nur als eine verlängerte Gegenwart vorstellen. „Für den Fall, dass ich meinen Willen nicht mehr bilden oder äußern kann, verfüge ich....“ Aber könnte es nicht sein, dass auch wir dann andere sind? Dass unser Wille als Gesunder und fast gesunder Mensch ein andere ist als unser Wille als Kranker? Vielleicht verändert sich mit dem Sterben alles – unser Wille, unsere Entscheidung. Unsere Vorstellung von dem, was ein lebenswerter Tag ist. Unsere Vorstellung von dem, was Gnade ist. Selbst dort, wo wir es gut meinen, wo wir glauben, gnädig zu sein, können wir schuldig werden.

Darum sind wir auf Gottes Gnade angewiesen. In ihrem Verhältnis zu unserer gebrechlichen Menschenliebe ist sie vollkommen Liebe, die weiß, was sie tut.

„Und von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade. Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben, die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden.“ Größer als Gottes Gerechtigkeit ist seine Gnade. Gnade durch Christus meint: Gott nimmt uns aus dem Schuldzusammenhang heraus, in den wir uns mit allem, was wir tun, verstricken. Gottes Gnade – das ist ein andere Ausdruck für die Worte der Engel bei Christi Geburt: „Fürchtet euch nicht.“ Amen.

Dr. Marita Rödszus-Hecker
Marita.Roedszus-Hecker@landeskirchenrat.evkirchepfalz.de


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