Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

2. Sonntag nach dem Christfest, 2. Januar 2005
Predigt über
Johannes 1, 43-51, verfasst von Rainer Stahl
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Leserin und lieber Leser,
liebe Schwestern und Brüder,

das ist eine wahrhaftige Weihnachtsgeschichte:
Man findet einander.
Man sieht, worum es geht.
Man wird erkannt bis in die Tiefen des eigenen Lebens hinein.
Man bekennt, was einem zur Gewissheit wurde.
Und man erhält noch viel größere Hoffnung weit hinausreichend über dieses Erlebnis eröffnet.

Bleiben wir noch etwas bei unserem Text. Schauen wir genauer in ihn hinein. Er legt das Geheimnis des Vorgangs offen, wie wir den Glauben finden und wie wir im Glauben wachsen können – kurz: wie uns Weihnachten werden kann.

Immer beginnt es damit, dass Christus uns anspricht. Nicht wir sind die Aktiven. Nicht wir wollen von uns aus auf Christus zugehen. Ja: unsere evangelisch-lutherische Tradition lehrt uns sogar, dass wir das von uns aus gar nicht können. Martin Luther sagt: Wir haben zwar viel Spielraum und Willensfreiheit mit Blick auf die vielfältigen Möglichkeiten der Lebensgestaltung, der Berufswahl, der Partnerwahl usw. Aber in Hinblick auf eine Entscheidung für die Annahme des Glaubens, für die Annahme des Vertrauens auf Christus – da mangelt uns der freie Wille, da wollen wir von uns aus gar nicht zugreifen, da entscheiden wir uns – ginge es um uns; würde gelten, was wir wollen – immer für anderes, nur nicht für Christus. So auch hier:

Christus ist es in unserer kleinen Szene, der den Philippus findet und ihn anspricht, ihn auffordert, sich auf ihn zu verlassen, sein Leben völlig neu auf ihn auszurichten: „Folge mir nach!“

Und Christus ist es, der die Haltung des Natanaël aufbricht. Er überwindet dessen Reserven, indem er sich ihm wirklich zuwendet: „ein rechter Israelit, in dem kein Falsch ist“ und: „bevor Philippus dich rief, als du unter dem Feigenbaum warst, sah ich dich.“

Um diesen Vorgang richtig zu verstehen, müssen wir kurz innehalten. Es geht hier um eine Frage der Identität:
Micha 4,4 wird die Hoffnung auf Frieden und echte Gemeinschaft mit Gott in das Bild gefasst, dass jeder unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen wird – „und niemand wird sie schrecken“.
Natanaël als rechter Israelit lebt in solcher Hoffnung. Er versucht, schon in sein Leben, in dessen konkrete Bedingungen, wenigstens teilweise, wenigstens vorläufig die große Hoffnung hineinzuholen. Er begnügt sich nicht mit dem Alltag. Er weiß, dass Gott noch Großes vorhat. Israelit sein heißt, das Leben gestalten vor dem Horizont der Hoffnung auf tatsächliches Heil. Diese Sehnsucht hat Christus in ihm wahrgenommen. Das überwältigt ihn.

So verstehen wir diesen Text richtig, so wird uns in Wahrheit Weihnachten, wenn wir unsere großen Hoffnungen nicht verdrängen, nicht zudecken lassen von den Mühen des Alltags, sondern sie bei aller Geschäftigkeit doch wach halten: Frieden, wirkliches Verstehen, Geborgenheit trotz aller Fragen und Unsicherheiten.

Unsere Weihnachtszeit jetzt, unser Text aus dem Johannesevangelium lassen angesichts solcher Hoffnungen eine Antwort zu. Da ist große Eindeutigkeit. Es gibt hier keine Zweifel:
Nur in dem Jesus aus Nazaret gibt es die Lösung.
In niemandem anders.
In keinen Systemen oder Ideologien sonst.
Nur in dieser Person.

Dass es um diese Person geht – nicht um Ideologien oder Systeme –, dass zeigen wieder die Geschehensabläufe:
Jesus sieht uns. Wir werden wahrgenommen von ihm.
Und wir sehen ihn. Jesus lässt sich von uns finden.
Das ist alles nicht durch theoretische Lektionen zu lernen. Das bedarf der persönlichen Begegnung.

An dieser Stelle darf ich den merkwürdigen Akzent unterstreichen, der durch unseren Text – und nur durch unseren Text – mit Jesus in Zusammenhang kommt: „Sohn des Josef“, „aus Nazaret“. Jetzt will ich bewusst nicht harmonisieren mit der Betlehem-Tradition und mit dem Gedanken der Jungfrauengeburt. Ich will das so dastehen lassen. Es hat für mich zwei Dimensionen:

Die erste: Jesus ist wirklich Mensch geworden. Wenn wir uns das Wesen des Christus Jesus aus Nazaret deutlich machen wollen, müssen wir uns auch sein Menschsein bewusst machen. Das ist vielleicht gar nicht leichter, als sich seine Beziehung zu Gott, seine Göttlichkeit, im Bewusstsein zu halten: Jesus war Mensch in einer bestimmten historischen Zeit und Landschaft. Von vielem, was für uns alltägliche Selbstverständlichkeit ist – die Nutzung der Elek-trizität z.B. – hat Jesus als „Sohn des Josef“, als Mensch aus Nazaret nichts gewusst. Das müssen wir auch nicht hineindeuten in die biblischen Erinnerungen über ihn.

Und auch heute – die zweite Dimension – begegnet Christus durch konkrete Menschen – solche Söhne und Töchter von jemandem, aus bestimmten Orten. Weihnachten ist kein mystisches Erleben. Weihnachten wird, wenn wir uns auf Menschen einlassen, von denen wir im ersten Moment vielleicht denken: „Was kann daher schon Gutes kommen?“ Weihnachten wird unsere Erwartungen und Kategorien umstoßen. Wird uns etwas anbieten, was wir uns nicht träumen ließen.

Dafür gibt die letzte Szene einen Hinweis: Unser Leben wird auf eine Fluchtlinie gelegt, unser Leben wird vor einen Horizont umgestellt, die über unsere Erfahrungen und Vorstellungen hinausgehen werden: „den Himmel offen sehen“.
Immer wieder haben Menschen den Himmel auf Erden gestalten wollen und haben sich dabei meist die Hölle bereitet. Das 20. Jahrhundert gibt uns darin Anschauungsunterricht.
Unser Glaube verspricht nicht den Himmel auf Erden. Aber er verspricht die Hoffnung, dass unsere Unzulänglichkeiten münden werden in die Herrlichkeit Gottes.

Gehen wir als Natanaël in den Text und durch ihn hindurch in unser Leben:
Wir kommen mit unserem Leiden über die unzulängliche Welt,
mit unserer Hoffnung auf Frieden, Gerechtigkeit und Stabilität der Schöpfungssituation, die wir Menschen zusammen mit den Tieren und Pflanzen um uns brauchen.
Wir erleben, dass uns in all’ diesem der Jesus aus Nazaret ernst nimmt, wahrnimmt, ansieht.
Wir begreifen, dass mit ihm und nur durch ihn diese Hoffnungen Chancen der Erfüllung bekommen.
Und wir ahnen, dass am Ende dieses Weges die Erfüllung in Gott stehen wird.
Diesen Weihnachtsprozess wünsche ich Ihnen. Ich drücke diesen Wunsch aus mit einer Strophe eines bekannten Weihnachtsliedes, die leider in Vergessenheit geraten ist:

„Stille Nacht, heilige Nacht,
die der Welt Heil gebracht,
aus des Himmels goldenen Höhn,
uns der Gnaden Fülle läßt sehn:
Jesum in Menschengestalt,
Jesum in Menschengestalt.“

Amen.

Pfarrer Dr. Rainer Stahl
Erlangen, Martin-Luther-Bund
rs@martin-luther-bund.de


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