Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

2. Sonntag nach dem Christfest, 2. Januar 2005
Predigt über
Matthäus 2, 13-23, verfasst von Peter Weigandt
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Alle Geschichten um Weihnachten drehen sich um Jesus, um das Kind in der Krippe. Aber dane­ben tauchen in den Weihnachtsgeschichten von Matthäus- und Lukasevangelium noch andere Menschen auf, manche nur schattenhaft zu erkennen: Josef, Maria, Herodes der Große, Arche­laus, Quirinius, Augustus, Hohepriester, Schriftgelehrte, drei Sternkundige aus dem Morgenland ... Von einem dieser Menschen berichtet der Abschnitt aus dem Matthäusevan­ge­lium, der dieser Predigt zugrunde liegt; er soll heute zu Wort kommen: Ich möchte Ihnen etwas aus den Lebenserinnerungen eines alten Mannes erzählen. Diese Lebenserinnerungen sind bis­her nur mündlich überliefert und darum weitgehend unbekannt. Doch lassen wir den alten Mann selbst sprechen:

Ich heiße Josef und bin ein alter Mann. Wenn ich zurückblicke auf mein Leben, dann ist da nicht viel, das wert ist berichtet zu werden. Ich wuchs heran, wie ein Israelit halt heranwächst. Ich besuchte die Schule, bis ich zehn Jahre alt war, und erlernte dann den Beruf meines Vaters. Das war bei uns so üblich. Ich wurde also Bauhandwerker. Damals, zur Zeit Herodes des Großen und seiner Söhne, wurde viel gebaut, und so gab es für mich immer Arbeit.

Wie es bei uns in Israel Sitte ist, habe ich mich schon in jungen Jahren verlobt. Mit der Verlobung wurde nach unserem Gesetz die Ehe geschlossen. Meine Verlobte war Maria. Das Hochzeitsfest sollte anderthalb Jahre später sein, wenn unser Haus fertig war. Aber mitten in der Verlobungszeit war es nicht mehr zu übersehen, daß Maria ein Kind erwartete - und das nicht von mir. Denn wir lebten natürlich noch nicht zusammen, weil ja der Hochzeitstag noch nicht gewesen war. Das war zuviel! Das hätte nicht geschehen dürfen! Das war Ehebruch! Und darauf stand der Tod durch Steinigung. Ich wußte nicht, was ich machen sollte. Ich überlegt hin und her. Schließlich dachte ich daran, sie mit einem Scheidebrief aus der Verlobung zu ent­lassen. Dann würde es so aussehen, als hätte ich die von mir schwangere Maria weggeschickt. Es fiel mir sehr schwer, mich zu diesem Entschluß durchzuringen. Aber ich liebte Maria doch so, daß ich sie nicht der öffentlichen Schande preisgeben mochte.

Ich hatte Maria noch nichts von meiner Absicht gesagt, da geschah etwas Merkwürdiges. In der Nacht träumte ich, ein Engel Gottes sei zu mir gekommen. Wie er aussah? Ich habe nur noch im Ohr, was er zu mir sagte - und das traf mich hart: „Josef, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria als deine Frau zu dir zu nehmen; denn das Kind, das sie erwartet, ist vom Heiligen Geist. Sie wird einen Sohn gebären; ihm sollst du den Namen Jesus geben; denn er wird sein Volk von seinen Sünden erlösen.“

Auf was hatte ich mich da mit Maria eingelassen! Wie konnte ich sie zur Frau haben wollen, wenn Gott sie in seinen Dienst gerufen hatte? Nein, ich mußte mich von Maria trennen. Ich war ihrer nicht mehr würdig. Dies und vieles mehr ging mir in jener Nacht durch den Kopf. Am Ende sagte ich mir, weil ich Maria immer noch so sehr liebte, vielleicht sei es doch am besten, es zu machen, wie der Engel gesagt hatte. Maria habe ich von alledem nie etwas erzählt.

Unser - nein, das war es ja nicht -, also das Kind war geboren, gesund und kräftig, und wie selbstverständlich gab ich ihm den Namen Jesus. Und da war es doch unser Kind; denn weil ich ihm den Namen gegeben hatte, war es nach unserem Recht wie mein leidliches Kind geworden.

Wir wohnten damals noch in Bethlehen. Das heißt, ganz sicher bin nicht, ob wir nicht doch schon umgezogen waren. Es ist ja schon so lange her. Wir freuten uns über unser Kind, das präch­­tig gedieh. Doch es war kaum ein paar Tage alt, da gab es neuen Ärger. Wieder träumte ich, ein Engel Gottes käme zu mir. Ob es derselbe war wie beim ersten Mal? Also, das kann ich nicht mehr sagen. Ich habe nur seine Worte in Erinnerung behalten: „Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter und flieh nach Ägypten; dort bleibe, bis ich dir etwas anderes auftrage; denn Herodes wird das Kind suchen, um es zu töten.“

Da war wieder dieser Stachel: das Kind, seine Mutter, und dabei war es rechtskräftig mein Kind und Maria meine Frau! Herodes will mein Kind töten, das ist doch lächerlich! Alles soll ich aufgeben, was ich hier gerade mühsam aufgebaut habe? Nein, dazu war ich nicht bereit. Aber dann dachte ich, wie froh ich doch darüber war, daß es mir der Engel damals möglich gemacht hatte, mit gutem Gewissen das Hochzeitsfest mit meiner geliebten Maria zu feiern. Zwar war das wegen unseres Kindes - und es ist unser Kind! - alles etwas schnell gegangen, aber nun bin ich so glücklich mit Maria und unserem Kind. Wenn das nun doch richtig wäre, was der Engel gesagt hatte? Dann würde unser Glück zerstört. Und was mir der Engel gesagt hatte, als er das erste Mal kam, das war ja gut gewesen, wie ich bald erkannt hatte. Und dann dachte ich, das Haus könnte ich ja in die Obhut unseres Nachbarn geben, denn der Engel hatte ja die Rückkehr nicht ausgeschlossen. Schließlich war von Herodes schon so viel Schlechtes berichtet worden; da konnte man gar nicht vorsichtig genug sein.

So bat ich mitten noch in der Nacht unseren erstaunten Nachbarn, auf unser Haus aufzupassen, und machte mich mit Maria und unserem Kind auf den Weg nach Ägypten. Ich wußte, nach Ägypten waren schon viele gegangen, die sich vor Herodes in Sicherheit bringen mußten. Wir wanderten abseits der großen Karawanenstraße, die an der Küste entlang geht. Es war sehr beschwerlich. Weil Maria unser Kind stillen und versorgen mußte, brauchten wir viele Pausen. Ach, es war schon sehr anstrengend. Über vier Wochen waren wir unterwegs, bis wir endlich in Ägypten ankamen. Auch in Ägypten wurde damals viel gebaut. So fand ich als Bauhandwerker bald Arbeit und auch eine Wohnung für unsere kleine Familie.

Später habe ich von Reisenden gehört, Herodes habe in Bethlehem und in der näheren Um­ge­bung alle Jungen umbringen lassen, die jünger als zwei Jahre waren. Die es mir erzählten, hatten es auch nur von anderen gehört. Ich weiß nicht, ob es so war. Zuzutrauen wäre es dem Herodes schon gewesen. Er soll ja sogar eigene Kinder umgebracht haben. Und wenn er wirklich die Kinder in Bethlehem umgebracht hatte, dann war es gut, daß wir nach Ägypten gegangen waren. Aber warum Herodes die Kinder umgebracht haben sollte, das weiß ich nicht.

Wir gewannen neue Freunde und fühlten uns eigentlich ganz wohl. Sicher hatten wir dann und wann einmal Heimweh. Aber es gab eine Synagoge in der Nähe, und wir konnten den Gottes­dienst besuchen. Es waren wohl an die drei Jahre vergangen, seit wir nach Ägypten gekommen waren, da hatte ich wieder so einen Traum. Zum dritten Mal erschien mir der Engel Gottes. Nein, ich weiß wirklich nicht mehr, wie er aussah. Aber als ich ihn sah, fiel mir gleich ein, daß er ja beim letzten Mal eigentlich gesagt hatte, daß er wiederkommen würde. Also sollten wir jetzt sicher woanders hinziehen. Und richtig, da sagte er auch schon: „Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter und ziehe in das Land Israel; denn die Leute, die dem Kind nach dem Leben getrachtet haben, sind tot.“ Schon wieder: das Kind, seine Mutter, nicht dein Kind, deine Frau, wie es sich gehört hätte. Das hat mich damals richtig geärgert.

Einige Tage später brachten Reisende die Bestätigung: Herodes der Große war gestorben. Da stand unserer Rückkehr nichts mehr im Wege. Viel einfacher als der Hinweg war der Rückweg ja nicht. Denn unser Sohn war zwar größer geworden, aber den ganzen Weg laufen, das konnte er natürlich noch nicht. Wir schlossen uns einer Karawane nach Gaza an. Von dort würden wir schon irgendwie nach Bethlehem kommen. Denn ich meine mich jetzt richtig zu erinnern, daß wir bei der Geburt unseres Sohnes noch in Bethlehem gewohnt hatten. Unterwegs hörte ich in einer Karawanserei, daß Archelaus in Judäa die Nachfolge seines Vaters angetreten habe. Da bekam ich es mit der Angst zu tun. Sollte ich wirklich nach Bethlehem gehen? Denn schon zu der Zeit, als Herodes noch lebte, hielt man Archelaus für ebenso grausem wie seinen Vater.

Wir waren noch nicht in Gaza, da kam nachts im Traum wieder der Engel. Diesmal erschien er mir wirklich wie gerufen, denn ich wußte nicht, was ich tun sollte. Sollte ich es trotz Archelaus wagen, nach Bethlehem zu gehen? Sollte ich irgendwohin gehen, wo Archelaus nichts zu sagen hatte? Mir fällt gerade ein, daß dieser Archelaus in seinem Land so fürchterlich gehaust hatte, daß die Römer, die ja nicht gerade zimperlich mit uns umgingen, ihn nach zehn Jahren absetzten und in die Verbannung schickten, ganz weit weg. Wo war ich gerade stehen geblieben? Ach ja, beim Engel. Nein, ich kann mich wirklich nicht erinnern, wie er aussah. Aber diesmal befahl er mir, nach Galiläa zu gehen. War ich da froh, denn dort hatte Archelaus keine Macht.

Richtig erleichtert machte ich mich in Gaza auf die Suche nach einer Karawane, die über die berühmte „Straße am Meer“ nach Norden, nach Syrien zog. Sie war bald gefunden, und wir konnten unsere Reise fortsetzen. Eine gute Woche später sahen wir von der Straße aus in den Hügeln, die dem Berg Tabor gegenüberliegen, Häuser eines kleinenDorfes aufleuchten. Das Dorf schien mir abgelegen genug, um endlich nach all den vielen Aufregungen zur Ruhe zu kommen. So verließen wir die Karawane und waren nach zwei oder drei Stunden im Dorf. Nazaret hieß es. Heute heißt es natürlich auch noch so, denn ich wohne ja immer noch in diesem Dorf. Von dem, was ich in Ägypten zusammen gespart hatte, kaufte ich ein kleines Haus mit einem Stück Land. Arbeit, dachte ich, werde ich schon finden. Die habe ich dann auch bald gefunden, nämlich in Sepphoris, der nahegelegenen Bezirkshauptstadt. Kurz bevor wir uns in Nazaret niedergelassen hatten, war diese Stadt von den Römern zerstört worden, weil sich dort Aufrührer festgesetzt hatten; die hatten sich eingebildet, die römische Herrschaft abschütteln zu können. Es dauerte viele Jahre, bis alles wieder aufgebaut war. So kam es also, daß wir Nazarener wurden. Wir lebten zufrieden, und zu dem einen Sohn kamen noch vier hinzu, auch einige Töchter.

Jesus, unser Erstgeborener, ist nun schon einige Jahre tot. Die Römer haben ihn umgebracht. Es war ja in den letzten Jahren schon schwierig mit ihm. Er ging keiner geregelten Arbeit mehr nach, sondern zog mit ein paar Leuten durchs Land und sagte, daß Gottes Herrschaft im Kommen sei. Aber nun ist er tot, und nichts hat sich getan, außer daß sein Tod irgendwie unsere Familie zerrissen hat. Maria und seine Brüder sind jetzt ganz anders als vorher. Sie sagen, er sei gar nicht tot, sondern auferstanden. Sie sehen in Jesus den in der Schrift verheißenen Messias. Aber davon, daß er unser Volk erlöst hat, ist doch nun wirklich nichts zu spüren.

Vielleicht bin ich zu alt, um das alles noch zu verstehen. Manchmal will es mir freilich scheinen, als sei dies und jenes im Leben unseres ältesten Sohnes ganz ähnlich wie im Leben des Mose verlaufen. Das kenne ich ja aus der Schrift. Ich erinnere mich an die Gefahr, vor der er als Kind bewahrt wurde, an die Flucht und spätere Rückkehr. Auch Ägypten spielte dabei eine große Rolle. Und wenn ich so an die ersten Jahre unserer Ehe denke, dann will es mir ab und an scheinen, als habe Gott in jenen Jahren seine Hand in besonderer Weise schützend und geleitend über uns gehalten. Vielleicht hatte Gott mit Jesus doch etwas Besonders vor.

Da fällt mir der Engel ein. Er erschien ja immer nur im Traum. Träume sind Schäume, sagt man. Und ich habe vieles geträumt, von dem nichts Wirklichkeit geworden ist. Aber warum dann dieses schreckliche Ende von Jesus? Es will mir nicht in den Kopf, daß Gott ihn deshalb geschützt und geleitet hat, damit ihn die Römer so grausam hinrichten. Er hatte doch nie Schlechtes oder Unrechtes getan, sondern immer nur Gutes und hat anderen Menschen geholfen.

Ach, ich bin ein alter Mann. Es wird mir zu schwer, dem allen nachzudenken. Aber irgendwie ist es wohl so, daß ohne Gottes Geleit und Schutz, ohne seinen Engel, der mir immer wieder im Traum erschienen war, daß ohne das wohl alles anders gekommen wäre. Ich habe mich damals jedenfalls, wenn ich heute so zurückschaue, ich habe mich damals jedenfalls gut aufgehoben gefühlt, und Maria sicher auch - so befremdlich mir das am Anfang alles war. Es ist gut, wenn Gott uns führt und geleitet, obwohl es manchmal schwer oder gar nicht möglich ist zu erkennen, worauf denn alles hinausläuft. Ich hoffe, daß Gott mich in meinen letzten Jahren ebenso gut schützen und geleiten wird wie damals in den ersten Jahren nach der Geburt meines ältesten Sohnes Jesus, auch wenn er nun nicht mehr unter uns ist.

Dr. Peter Weigandt
o.cello@t-online.de

Anmerkung: Die Predigt ist ZGP 4 (1986) S. 31-33 entnommen. Sie ist gegenüber der damaligen Fassung geringfügig verändert. Ich habe zu Matth. 2,13-23 noch 1,18-25 hinzugenommen, um die Josephsgeschichte abzurunden.


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