Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Neujahrstag, 1. Januar 2005
Predigt über die Jahreslosung Lukas 22,32, verfasst von Dörte Gebhard
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Lied vor der Predigt: EG 182, 1-4.7


Liebe Gemeinde,
„Suchet zuerst Gottes Reich in dieser Welt ...“ – Das singt sich so schön, aber was suchen wir genau?
„Klopft an, und euch wird die Türe aufgetan ...“ – Aber wo?
„Laßt Gottes Licht durch euch scheinen in der Welt ...“ – Aber wie?
Das Lied klingt leicht, aber konkret ist es nicht. Oder doch?
„Betet, und ihr sollt es nicht vergeblich tun ...“
An das Gebet können wir uns halten. Wenn ich bete, suche ich nach dem Reich Gottes in dieser Welt. Wenn ich bete, klopfe ich an viele Türen gleichzeitig: bei mir selbst, bei anderen, bei Gott.
Das Lied besteht aus vielen, schönen Wortbildern und das Gebet ist des Rätsels Lösung.
Beten ist die Empfehlung für das neue Jahr, denn die Jahreslosung für 2005 steht bei Lukas im 22. Kapitel: Ich aber habe für dich gebeten, daß dein Glaube nicht aufhöre. (Lk 22,32)

Das Jahr 2005 und das Beten passen aber noch lange nicht zusammen!
Beten ist gegenwärtig relativ tabu. Eigentlich kann man sich nicht vorstellen, daß in unserer Medienwelt überhaupt noch irgendetwas unbeobachtet und unkommentiert bleibt und nicht im allgemeinen Blickfeld ist. Alles scheint öffentlich stattzufinden. Offensichtlich muß es aber doch immer irgendetwas Verborgenes und Privates geben. Statt der Sexualität sind heutzutage religiöse Praktiken einigermaßen geheimnisumwittert.

Es muß wirklich nicht alles hinausposaunt werden, wir erfahren ohnehin mehr, als wir je wissen wollten. Wenn aber gar nicht mehr vom Gebet gesprochen wird, weiß auch niemand mehr, was er denn beten soll.

Die Evangelische Kirche in Deutschland befragt regelmäßig Menschen nach Gott und der Welt: ob man sich bemüht, ein anständiger Mensch zu sein und wie oft man in die Kirche geht; ob die Kirche politisch sein muß und sich mehr um Alte, Kranke, Ostdeutsche, Frauen, Ausländer, Kinder, Arbeitslose oder um bessere Gottesdienste kümmern soll; kurz nach allem, was in Kirche und Gesellschaft strittig ist, und das ist bekanntlich fast alles. Aber die evangelische Kirche fragt niemanden nach dem Beten, nicht was, nicht wie, nicht für wen, nicht wozu. Das scheint tabu.
Dennoch ist die gegenwärtige Gebetspraxis nicht gänzlich verborgen, sondern in ihrer Fülle öffentlich präsent: nicht nur im Internet auf den Seiten der Kirchen und Gemeinden, sondern auch in den ausliegenden Gästebüchern von Krankenhauskapellen, Autobahnkirchen, von touristisch attraktiven Gotteshäusern, an Wall­fahrtsorten und in Gipfelbüchern höherer Berge. Bei diesen Gebetbüchern der Gegenwart bereue ich stets, daß ich nicht mehr Zeit zum Lesen und Studieren habe.

Die überbordende Fülle von Klage, Leid und Verzweiflung, aber auch von Glück, Dank und Jubel steht dem biblischen Psalter in nichts nach. In diesen Offenbarungen des Persönlichen liest man von allen erdenklichen Anfechtungen, von verlorenem Glauben und verzweifeltem Hoffen, Rechthaberisches, scheinbar aufgeklärte Aufmüpfigkeit gegen Gott und von enttäuschter Liebe. Keine Angst, kein Argument gegen Gott bleibt unausgesprochen und all das steht unmittelbar neben der Erfahrung von Hilfe, Beistand und Rettung aus der Not, – wie im biblischen Psalter, wo die gegensätzlichsten Erfahrungen oft nur einen Vers weit auseinander stehen.

In diesen Gebetbüchern der Gegenwart fallen drei Betende besonders auf, die fast überall anzutreffen sind: die Spötter, die Kritiker und die Verzagten.(*)

Von Spott und Hohn, der über friedliche Christenmenschen in der Gegenwart ausgegossen wird, sprechen wir vielleicht noch seltener als vom Gebet. Daher möchte ich mit diesem Phänomen beginnen.
Zwischen den Bitten zu Gott lese ich immer wieder Verhöhnungen des Christentums, Häme gegen alles, was ein Spötter für christlich oder kirchlich oder fromm hält.
Sie kennen vielleicht auch bestimmte Reaktionen, wenn sie erzählen, daß sie sonntags in die Kirche gehen: Da gibt es unwissende Gleichgültigkeit, getarnt als vornehme Zurückhaltung, leicht überheblich: „Das hab’ ich normalerweise nicht nötig.“ oder gönnerhaft-abschätziges Geschwätz: „Wer’s halt braucht, muß da wohl hin ...“
Weil solche dummen Sprüche immer schmerzen, will ich Ihnen und mir weitere aktuelle Beispiele ersparen.

Spott über Gott und seine Getreuen ist aber sehr, sehr alt. Schon die Beter der Psalmen klagen Gott dieses Leid:
Du machst uns zur Schmach bei unsern Nachbarn, zu Spott und Hohn bei denen, die um uns her sind.
Du machst uns zum Sprichwort unter den Heiden, läßt die Völker den Kopf über uns schütteln.
Täglich ist meine Schmach mir vor Augen, und mein Antlitz ist voller Scham, weil ich sie höhnen und lästern höre und muß die Feinde und die Rachgierigen sehen. (Ps 44, 14-17)

Auch die neutestamentlichen Geschichten sind voller Berichte über spottende, höhnende Zaungäste. Gemäß den Evangelisten war Jesus immer wieder übelster Häme ausgesetzt. Jesus mußte erfahren, daß ein Prophet nichts gilt in seiner Vaterstadt. Jedenfalls wurde er verstoßen, nachdem er in Nazareth in der Synagoge gepredigt hatte - über Gottes Liebe und ein Jahr der Gnade. Irgendwer spottet immer, bis fast zuletzt, am Kreuz: Er hat andern geholfen; er helfe sich selber, ist er der Christus, der Auserwählte Gottes. Es verspotteten ihn auch die Soldaten, traten herzu und brachten ihm Essig und sprachen: Bist du der Juden König, so hilf dir selber! (Lk 23,35f) Das Kreuz wird beschriftet: Dies ist der Juden König. (Lk 23, 38) und einer der Übeltäter, die am Kreuz hingen, lästerte ihn und sprach: Bist du nicht der Christus? Hilf dir selbst und uns! (Lk 23, 39)

Liebe Gemeinde,
ein Spötter schreibt selten allein in den Gebetbüchern der Gegenwart. Eifrig ist stets auch ein Kritiker an Gott und der Welt am Werk, ein sehr abgeklärter und vermeintlich aufgeklärter Mensch, der für alles gute Gründe hat, vor allem gegen Gott. Menschliches Leid bietet ihm den Anlaß für Argumentationen, warum denn kein Gott sein kann. Für alle Gebete gilt dann logischerweise:
Wenn Gott allmächtig sein soll, dann kann ihn doch ein menschliches Gebet nicht bewegen. Dann darf man Gott auch gar nichts bitten, das widerspräche seiner Allmacht. Beten, so glaubt der Kritiker, nützt allenfalls einem selbst. Es gibt sehr egoistische Gründe für ein Gebet – und am wenigsten scheint dazu ein Gott vonnöten zu sein. „Es erhebt das Gemüt.“ oder auch: „Ich werde mir selbst beim Beten darüber klar, was ich will und was ich tun muß, um es zu erreichen.“

Der Spötter und der Kritiker haben meist noch einen Dritten im Bunde: den Verzagten, Enttäuschten, der einstimmt in den Chor der Klage über das Gebet: „Was soll es denn noch, wenn es eh’ nichts bringt!“ Eine 15jährige schreibt: „Gott. Du weißt genauso gut wie ich, daß ich schon seit langem nicht mehr richtig an dich glaube!“ Immer und immer wieder habe sie gebetet, aber, so schreibt sie weiter, „es kam nichts! Einfach gar nichts! Daher kann ich nicht mehr an Dich glauben.“
Sie glaubt nicht mehr an Gott, aber sie ist mit ihm noch immer per Du, setzt voraus, daß er sie kennt und um sie weiß, nur, daß er sich nicht zu erkennen gibt. Wie Hiob, der den Mut behält, mit Gott zu hadern bis zuletzt.
Diese Spannung von hoffnungslosem Dennoch-auf-Gott-vertrauen hält nur ein Gebet aus.
Ein Gebet und Gott halten aus, was Spötter, Kritiker und Verzagte aus ihm machen. Trotz allem läßt Gott sich bitten, beten Menschen und ist schon lange für uns alle gebetet:
Jesus sagt zu Petrus: Ich aber habe für dich gebeten, daß dein Glaube nicht aufhöre.

Liebe Gemeinde,
Petrus ist – zunächst einmal – nicht der Typ für so eine Fürbitte Jesu. Sie klingt wohl beim ersten Hören gängelnd und bevormundend in seinen Ohren. Er kann schließlich selbst beten, sogar ein richtiges Bekenntnis zu Christus, seinem Herrn, ablegen, während andere Leute noch glauben, sein Herr sei der wiedergekehrte Elia oder ein anderer Prophet.
Heute wäre Petrus ein Mensch mit dem Motto: „Selbst ist der Mann.“ und entsprechend „Ich bin eine emanzipierte Frau!“ Wenn ich etwas will, muß ich mir eben Mühe geben, es erarbeiten, konsequent sein zu mir selbst - und was die Parolen derer sind, die an sich selbst glauben möchten und nicht denken wollen, daß sich so doch nicht alles im Leben erreichen läßt. Auf keinen Fall möchte ich irgendwen um etwas bitten. Schon gar nicht muß ein anderer für mich bitten. Petrus läßt Jesus nur knapp ausreden und brüstet sich: Herr, ich bin bereit, mit dir ins Gefängnis und in den Tod zu gehen. (Lk 22,33)
Ein Fürbittegebet scheint völlig fehl am Platze zu sein.

Auf den zweiten Blick ist die Jahreslosung aber genau für solche Menschen wie Petrus passend. Jesus läßt Petrus seine Freiheit und Unabhängigkeit. Er bevormundet ihn nicht. Er schreibt ihm nicht vor, was er zu beten hat. Er gibt keine weisen Ratschläge, sondern er hofft und betet für sein Gottvertrauen, weil er die Momente kennt, in denen der Glaube verloren geht.
Ich aber habe für dich gebeten, daß dein Glaube nicht aufhöre.

Liebe Gemeinde,
Petrus erlebt sehr bald nach dem Fürbittegebet Jesu den Augenblick, in dem der Glaube aufhört. Es geht weder ins Gefängnis noch in den Tod. Petrus, der tapfere Held, erleidet den Spott einer Magd. Sie lästert etwas und ein paar andere, die am selben Feuer sitzen, machen auch noch eine hämische Bemerkung.
Ein Glaubensbekenntnis bringt Petrus nicht hervor, er verleugnet seinen Herrn. Dabei ist die Situation ungefährlich; Frauen hatten damals kein Zeugenrecht, es konnte ihm nichts weiter passieren.

Der Glaube an Gott stirbt selten beim Sterben, der Glaube hört eher auf bei Hohn und Häme. Es ist schrecklich, als Kind ausgelacht und gehänselt zu werden. Ist es nicht auch grauenvoll, wenn sogenannte Erwachsene einander heimlich und milde belächeln oder so gar lästern über den Glauben, den sie haben?
Jesus erzählt Petrus von seiner Fürbitte, als dieser selbstbewußt und kritisch gegen jeden scheinbaren Paternalismus ist. Aber er sagt es für diesen ganz anderen, für diesen elenden Augenblick, für Petrus, den Verhöhnten und Verspotteten, der allein ist mit sich.
Gottvertrauen ist etwas, was Petrus immer gern hätte, was aber als Besitz nicht zu haben ist; Glaube ist etwas Fragiles, das immer wieder zerschlagen werden kann und immer wieder neu zusammengefügt werden muß.
Petrus, so ist überliefert, weint bitterlich nach dem Hahnenschrei, er ist nun ganz verzagt.
Jesu Fürbitte, daß der Glaube nicht aufhöre, gilt nicht nur dem Kritiker und dem Verspotteten, sie gilt Petrus in jeder Lebenslage, dem Verzagten und von sich und Gott Enttäuschten erst recht.
Petrus ist verzweifelt, weil er nur an die Prophezeiung denkt, daß er verleugnen wird. Aber davor hat Jesus schon für ihn gebetet.

Wenn wir selbst nicht mehr beten, nicht mehr beten wollen oder können, wenn kein Mensch mehr für uns betet, dann ist uns gesagt: Christus ist unser Fürsprecher, er hat lange schon für uns gebetet.
Der Geist hilft unserer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sichs’s gebührt; sondern der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen. (Röm 8,26)

Die Güte Gottes bricht die Härte der Realität auf. Jesus deprimiert Petrus nicht weiter: „Ich habe es kommen sehen ...“, er gewährt auch nicht herablassend eine zweite Chance, sondern er tröstet Petrus mit der Wurzel für einen wachsenden, reifenden Glauben, mit einer Fürbitte.

Liebe Gemeinde,
lohnt es sich zu beten? So fragen aus verschiedenen Gründen der Kritiker, der Spötter und der Verzagte. – Ja, es lohnt sich zu beten für solche wie Petrus, für selbstbewußte Kritiker jeder Bitte, für Spötter, auch wenn es schwerfällt, für Opfer von Hohn und Häme sowieso und für Verzagte und Enttäuschte erst recht. Es lohnt sich zu beten für alle und auch für uns. Es lohnt sich immer wieder zu beten wie Jesus: daß der Glaube nicht aufhöre in unserer alten Welt.
Es lohnt sich zu beten für ein gutes, neues Jahr, das wir einander heute wünschen. Ein Jahr wäre wirklich neu, wenn es weniger Gründe gäbe, mit dem Glauben aufzuhören. Ein Jahr wäre wahrhaftig neu, in dem Kritiker und Spötter und Verzagte wieder mit dem Beten anfangen würden.
Und wenn das neue Jahr 2005 bald genauso alt aussieht wie die letzten Jahre?
Wenn uns selbst das Beten vergeht? Dann verlassen wir uns auf Jesus Christus, der gesagt hat: Ich aber habe für dich gebeten, daß dein Glaube nicht aufhöre.

Der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Lied nach der Predigt: EG 378


Dr. Dörte Gebhard
doerte.gebhard@web.de

(*) Vgl. Schneider-Flume, Gunda: Grundkurs Dogmatik, Göttingen 2004, 197 und Huber, Wolfgang: Jahreslosung 2005, in: GPM 59 (2004), 68-74.


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