Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Neujahrstag, 1. Januar 2005
Predigt über Johannes 14, 1-6, verfasst von Eberhard Busch
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1.

Ein neues Jahr ist angebrochen. Ein neues? Oder sind nicht vom alten Jahr her so viel Probleme ungelöst geblieben, dass wir nicht gerade frohen Mutes in das Jahr 2005 hineingehen? Liegen jetzt nicht allzu Vielen die Sorgen viel näher? Gibt es heute nicht allzu viele Gründe, zutiefst zu erschrecken? Die Angst, zu kurz zu kommen und betrogen zu werden, breitet sich aus wie ein Krebsgeschwür. Die kriegerische Gewalt hat in einem Maß zugenommen, wie wir das noch vor wenigen Jahren nicht vermutet hätten, und wird erstaunlich behende mit „Terrorismusgefahr“ gerechtfertigt. Scharen von Alten müssen den Gürtel enger schnallen und Scharen von jungen Menschen mangelt es an beruflichen Lebensperspektiven. Die schreckliche Armut in der Dritten Welt, die wir wenig genug Ernst genommen haben, ist uns auf einmal in Sichtweite nahe gerückt. Euer Herz erschrecke nicht? Wir können über all das sehr wohl erschrecken.

Aber, so sagt uns Gottes Wort an diesem Jahresbeginn: wir müssen nicht erschrecken. Nicht weil wir dergleichen mit einiger Gemütsruhe oder Charakterstärke doch erträglich zu finden vermögen. Es gibt Erschreckendes, bei dem gerade mit solchen Eigenschaften Ausgestattete zuerst ihre Nerven verlieren. Und es gibt gefährliche Momente, in denen sonst Ängstliche Mut zeigen: wohl darum, weil sich ihnen eine Realität bekannt gemacht hat, mit der sie nun rechnen. Es ist eine Realität, die den erschreckenden Realitäten überlegen ist. Die haben wohl Macht, aber Er hat die Übermacht. Denn diese überlegene Realität ist eine Persönlichkeit. Jesus sagt: „Glaubt an Gott und glaubt an mich.“ Gott, unser Vater im Himmel und sein Sohn Jesus Christus, ist die Macht, die die Übermacht hat. Es handelt sich dabei nicht um zwei verschiedene Adressen. Jesus sagt: „Wenn ihr mich erkannt habt, werdet ihr auch meinen Vater erkennen“ (V. 7). Wenn ihr ihn erkennt und in ihm, wie unlöslich sich Gott mit uns verbunden hat, dann müsst ihr wirklich nicht erschrecken.

Aber es gibt Eines, das uns gleichwohl erschrecken lassen müsste – und das ist noch erschreckender als jene Verworrenheiten in unsrer heutigen Welt. Es könnte uns nämlich so gehen wie dem Petrus, der auf Jesu Geheiß über die Wasserwellen ihm entgegen lief. Aber als er von ihm weg blickte hin auf die Wellen, da erschrak er und fing an zu versinken. Wenn es tatsächlich etwas zutiefst Bedrohliches gibt, dann steckt das in uns selbst. Dann liegt das an unserer Zögerlichkeit, uns an das zu halten, was uns hält. Was kann uns da anderes helfen als das, was den Petrus über Wasser hielt: „Jesus streckte die Hand aus, ergriff ihn und sprach: O du Kleingläubiger, warum zweifelst du?“ (Mt. 14,30f.)! Der rechte Glaube ist genau das: diese Hand, die den Kleingläubigen hält. Und das sei unser Gebet im Dunkel des neuen Jahres: „dass er mir mein Herz erfülle/ mit dem hellen Glaubenslicht,/ das des Todes Macht zerbricht/ und die Hölle selbst macht stille“ (Paul Gerhardt).

2.

Können wir denn dann den Satz missverstehen, in dem Jesus sagt: „Ich bin der Weg ...“? Aber das ist dennoch oft missverstanden worden. Es gab manche Leute, die unter Berufung darauf die christliche Kirche für die allein berechtigte Vertreterin der Religion verstehen wollten. Und dagegen haben sich andere erhoben, die erklärten: es gebe nicht nur einen, sondern viele Wege zu Gott. Aber im Evangelium wird weder das eine noch das andere gutgeheißen. Jesus sagt: „Ich bin der Weg ... Niemand kommt zum Vater außer durch mich.“ Genau genommen ist es so: Es führt überhaupt kein Weg zu Gott, der der eigenen Religion nicht und der der anderen auch nicht. Wenn nämlich damit ein Weg gemeint ist, den wir von uns aus zu Gott unternehmen! Alle solche Wege, auch wenn sie mit Andacht begangen werden, sind wie der Turm zu Babel errichtet, um von der Erde in den Himmel zu kommen. Solche Wege führen zu netten oder üblen Illusionen, aber nicht zu Gott. Es gibt jedoch einen anderen Weg: einen, auf dem Gott zu uns kommt. Jesus sagt: Dieser Weg bin ich. In ihm greift nicht ein Mensch in hochmütiger Verwegenheit nach Gott. In ihm streckt Gott in hingebender Liebe seine Hand nach uns aus. Darum spricht er: „Wer mich sieht, der sieht (Gott) den Vater“ (Joh. 14,8).

Und er fährt fort: „Ich bin die Wahrheit.“ Er bewegt nicht nur unser Gefühl. Er beschäftigt auch unsere Intelligenz. Er erleuchtet sich mit der Wahrheit - mit der, die nicht wir gefunden haben, sondern die uns gefunden hat. Aber gibt es nicht viele Auffassungen von der Wahrheit? Ja, das ist so und das darf auch so sein. So ist es ja schon in der Bibel, in der neben Paulus ein Johannes und ein Jakobus redet. Wo Bindung ist, an Christus als den einen Weg, da entsteht keine Kaserne, in der alle dieselbe Uniform tragen. Da darf Freiheit walten. Da darf es eine Fülle verschiedener Auffassungen geben. Aber mit einer deutlichen Grenze! Es darf da keiner sich das Evangelium so zurechtlegen, wie es ihm passt. Sondern: Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, er ist die Wahrheit. Wenn wir von der Bibel abweichen, dann ist Christus nicht mehr der Weg, sondern dann geraten wir auf einen Abweg. Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, das ist die Quelle und das der Maßstab für all die Erkenntnisse, die in der Kirche Raum haben dürfen.

Und Jesus sagt weiter: „Ich bin das Leben.“ Das Leben, auf das es für uns ankommt, ist zunächst das, was nicht wir leben, sondern das Christus lebt. Das wahre Leben beruht nicht auf unseren Leistungen, sondern auf seinem Eintreten für uns bis zum Tod und auf dem, was an Ostern als das neue Leben offenbart ist. Und der Auferstandene gibt uns seinen Zuspruch: „Ich lebe und ihr werdet auch leben.“ Wir sollen an seinem Leben Teil bekommen. Aber wenn das geschieht, dann rein aus Gnade. Nicht, weil uns das zusteht. Das gehört mit zu seiner Gnade, dass sie der guten Meinung widerspricht, die wir von uns haben. Aber Gott will den Tod des Sünders nicht, sondern will, dass er lebe. Die Gnade Gottes schenkt uns neues Leben. Und das beweist sich darin, daß das neue Leben Leben in der Dankbarkeit ist. „Dass unsre Sinnen/ wir noch brauchen können/ und Händ und Füße, Zung und Lippen regen, das haben wir zu danken seinem Segen.“

3.

Und die Kirche ist dazu da, dass durch sie Mitteilung gemacht wird von dem, der der Weg, die Wahrheit und das Leben ist: Mitteilung, Verkündigung, Zeugnis von der großen Barmherzigkeit, die Gott uns und allen damit erwiesen hat. Die Botschaft davon ist in verschiedensten Formen auszurichten: sehr wohl auch in klaren Worten, aber auch in schlichten oder mutigen Taten, in der Gewährung von Beistand, in der Bereitschaft zum Zuhören, im Geltendmachen von Kritik und Ermutigung. Ein jeder und eine jede hat dazu eine Gabe. Sie ist die Begabung zu einem Leben als Bote des Einen, der der Weg, die Wahrheit und das Leben ist. Die Begabung dazu wird aber in dem Maße falsch und gefährlich angewendet, wie sich die Boten heimlich oder unheimlich verwechseln mit diesem Einen und dabei an sich selbst und ihre Ideen denken: „Meine Auffassung ist der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Vorsicht! so zu denken, das ist der Irrtum der hochmütigen Kirche und speziell ihrer „Geistlichen“. Was kann sie von dem Irrtum heilen außer die Einsicht, dass sie so gerade ihren Auftrag versäumen, Zeugnis zu geben von dem, der allein der Weg, die Wahrheit und das Leben ist.

Es gibt auch die andere Gefahr: den Irrtum der faulen Kirche und nun speziell ihrer „Laien“. Der Irrtum besteht darin, dass sie nicht tut, was ihr Auftrag ist. Sie verkriecht sich dann in Selbstgenügsamkeit. Ihre Frömmigkeit besteht darin, dass sie „denkt an sich selbst zuerst“. Oder sie versieht ihren Auftrag in verkehrter Weise, in falscher Anpassung an die jeweils herrschenden Mächte und Moden. Kurz, sie bleibt ihre Zeugnisaufgabe schuldig. Schlimm für sie. Aber das bringt Gott nicht in Verlegenheit. „Gott vermag dem Abraham auch aus Steinen Kinder zu erwecken“, wie Johannes der Täufer sagt (Mt. 3,9). Und wie Jesus es sagt: „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen.“ Dass bei ihm Raum ist auch für Menschen außerhalb der Kirche, dass sie bei ihm Sitz und Stimme haben, das muss die Kirche nicht entmutigen in ihrer Zeugnisaufgabe. Aber das darf uns trösten, wenn die Christen in dieser ihrer Aufgabe versagen. Wenn sie versagen, so versagt doch seine Barmherzigkeit nicht.

Und wenn die nicht versagt, dann müssen doch auch wir nicht dauernd versagen. Im neuen Jahr gibt Gott uns neue Gelegenheit, uns in seinem Dienst zu üben – weder hochmütig noch faul, sondern hoffnungsfroh. Probieren wir es! – solange uns Gott dazu Zeit lässt. Es ist ja keine unendliche Aufgabe, sondern eine zeitweilige, eine befristete. Sie hat ein Ziel. Eines, dem wir nun im neuen Jahr erneut entgegengehen. Und dieses Ziel ist richtig verlockend. Es bleibt wohl dabei: Wenn Jesus sagt „Ich bin der Weg“, so handelt es sich nicht um einen Weg eines Menschen zu Gott, sondern es geht um den Weg Gottes zu uns. Aber nun hört das Wunderbare! In diesem Weg Gottes zu uns ist als Ziel eingeschlossen wahrhaftig auch ein Weg von uns zu Ihm. Denn so sagt es Jesus ja: dass er darum zu uns gekommen ist, „damit auch ihr seid, wo ich bin“ (V. 3). Kürzlich hörte ich in Atlanta/ USA, wie eine Schar aus den zahllosen Obdachlosen der Stadt im Gedanken an ihre verhungerten Gefährten sangen: „O when the saints, o when the poor are marching in“, O wenn die Heiligen, die Armen einziehen werden bei Gott ... Im Kommen des Heilands zu uns ist die Hoffnung verbürgt, dass sie und dass wir an unserem Ende nicht verloren, sondern gerettet sein werden. Gott sei Dank. Amen.

Prof. Dr. Eberhard Busch, Göttingen
eberhard.busch@theologie.uni-goettingen.de


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