Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Neujahrstag, 1. Januar 2005
Predigt über Johannes 14, 1-6, verfasst von Udo Schnelle
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(1) Nicht erschüttern lasse sich euer Herz! Glaubt an Gott und glaubt an mich! (2) Im Hause meines Vaters sind viele Wohnungen; wäre es nicht so, hätte ich euch sonst gesagt: Ich gehe hin, um euch eine Stätte zu bereiten? (3) Wenn ich hingegangen bin und euch eine Stätte bereitet habe, dann komme ich wieder und werde euch zu mir holen, damit auch ihr seid, wo ich bin. (4) wohin ich fortgehe – den Weg dorthin wisst ihr. (5) Sagt zu ihm Thomas: Herr wir wissen nicht, wohin du fortgehst. Wie können wir den Weg wissen? (6) Jesus spricht zu ihm: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich.

Liebe Gemeinde!

Das neue Jahr liegt vor uns wie ein unbekannter Weg. Ein Weg kann verschlungen sein, steinig und dornig, er kann an Abgründen vorbeigehen und ins Leere führen. Es gibt Umwege, Holzwege und Irrwege. Auf jedem Weg kann es Höhen und Tiefen, Licht und Schatten geben; es können Kreuzungen auftauchen, die eine Entscheidung für eine Richtung schwer machen. Der Weg kann gerade und eben sein, wenn alles glatt geht im Leben. Meistens muss man aber auch krumme und steile Strecken gehen; es geht aufwärts und abwärts, mal leicht und mal mühsam. Man kann sich sogar selbst im Weg stehen, vom rechten Weg abkommen oder auf halbem Weg stehen bleiben.

Die Jahreswende ist ein Orientierungspunkt, an dem wir uns besinnen auf die Wegstrecke, die hinter uns liegt und wo wir nach vorne schauen. Welchen Verlauf wird unser Lebensweg im kommenden Jahr nehmen? Wie wird er beschaffen sein? Wer führt uns auf diesen Weg? Wer gibt auf diesem Weg die Richtung an? Von wem lassen wir uns bewegen? Und vor allem: Was ist das Ziel unseres Weges? Unsicherheiten können dabei nicht ausbleiben. Wie bei den Jüngern. Sie sind unsicher, kennen nicht den Weg, den Jesus gehen wird. Die Jünger haben sich mit Jesus auf den Weg gemacht, ihn begleitet, an ihn geglaubt und mit ihm gelebt. Nun scheint der Weg Jesu zu Ende zu gehen. Besorgt fragen sie Jesus, wohin er gehen wird. Ihre Angst ist groß, allein zurückgelassen zu werden. Es ist eine Urangst des Menschen, allein und verlassen zu sein, ohne das Ziel des Weges erkennen zu können. Thomas macht sich hier zum Sprecher der Jünger. Er will es wissen, gibt sich nicht mit Andeutungen zufrieden. Jesus antwortet auf diese Angst der Jünger in überraschender Weise. Er stellt ihnen Wohnungen im Himmel, bei Gott in Aussicht. Die Wohnung, das Haus waren in der gesamten Antike Sinnbilder für religiöse Geborgenheit. „Nicht erschüttern lasse sich euer Herz“ heißt es zu Beginn des Textes. Jesus will die Jünger zu Gott bringen, wenn er vom Vater zurückkommt, er verheißt ihnen Geborgenheit und bleibende Gemeinschaft.

Bis hierhin ist der Text verständlich, verbleibt in bekannten religiösen Bildern und stört auch niemanden. Dies ändert sich schlagartig mit V. 6: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater, denn durch mich.“ Jesus bezeichnet sich nun selbst als den Weg. Die Wahrheit des heilvollen Lebens erschließt sich im Gehen des Weges, den Jesus eröffnet und der er selber ist. In Jesus sind Weg und Ziel vereint, er ist die Orientierung für wirkliches Leben. Wer den Weg zu Gott einschlagen will, kann keinen beliebigen Weg gehen, sondern er ist an Jesu gewiesen.

Wenn Jesus sich selbst als den einzigen Weg zu Gott, als die Wahrheit und das Leben bezeichnet, dann gibt es nur ihn als Weg zu Gott. Während diese Aussage für viele Menschen über Jahrhunderte eine tröstliche Versicherung war, wirkt sie heute wie eine Provokation. Sie verstößt gegen das 1. Gebot unserer Zeit: Toleranz. In einer durch und durch individuellen Welt darf es keine Absolutheitsansprüche mehr geben, alles muss gleich sein und als solches auch anerkannt werden. Toleranz ist schon längst zu einem politischen und intellektuellen Schlagwort in der kulturell-politischen Debatte geworden. Zumeist wird Toleranz von den anderen gefordert; als Anerkennung anderer Religionen und Lebensweisen, eine Anerkennung ohne Wenn und Aber. Nichts ist heutzutage schlimmer, als in die Ecke der Intoleranz gestellt zu werden. Deshalb haben viele Menschen Angst, die Meinung der anderen zu hinterfragen und ihre Kritik am Absolutheitsanspruch der Toleranzforderung zu formulieren.

Dabei ist ein Vorgang besonders auffällig: Vom Christentum wird selbstverständlich Toleranz gefordert; es soll von allen Vorstellungen Abstand nehmen, die als intolerant gelten können. Viele Christen, ja sogar Kirchen tun dies auch. Das Wort Mission steht ohnehin unter einem Generalverdacht und wird am besten vermieden. Dabei war und ist wirkliche Mission nichts anderes als das Bekenntnis des eigenen Glaubens gegenüber anderen Menschen. Die eine, endgültige Offenbarung Gottes in Jesus Christus: Sollte man nicht von ihr Abstand nehmen, um den Dialog mit den Religionen zu fördern? Wäre es nicht sinnvoll und friedensfördernd, alles Trennende beiseite zu lassen?

In anderen Religionen, speziell im Islam kommt niemand auf solche Gedanken. Die höchst intoleranten Aussagen über Anders- und Nichtglaubende im Koran scheinen niemanden aufzuregen. Die Rechtfertigung von Gewalt gegenüber Frauen, Juden und Christen im Koran hat offenbar noch niemand zur Kenntnis genommen. Meistens wird in diesem Zusammenhang auf die auch höchst gewaltsame Geschichte des Christentums hingewiesen. Ungesagt bleibt dabei ein gravierender Unterschied: Im Christentum ist die Gewalt Vergangenheit, im Islam ist sie an immer mehr Orten der Erde Gegenwart. Wer dem Christentum einen Absolutheitsanspruch vorwirft, muss dies auch gegenüber dem Islam tun. Traut sich dies noch jemand nach dem Mord an dem holländischen Filmemacher Theo van Gogh?

Dabei gehört es zum Wesen jeder Religion, einen Absolutheitsanspruch zu stellen. Wer Lebenssinn verheißt, kann nicht zugleich beliebig viele Möglichkeiten für gleichartig und gleichwertig erklären. Die Frage ist vielmehr, wie man diesen Absolutheitsanspruch definiert. Das Christentum stellt zweifellos einen inneren Absolutheitsanspruch, denn jede Religion lebt von ihrer inneren Überzeugungskraft. Wenn diese innere Überzeugungskraft in Frage gestellt wird, kann eine Religion auf Dauer nicht existieren. Innerer Absolutheitsanspruch heißt, Jesus als den einen und einzigen Weg zu Gott zu glauben und zu bekennen. Es bedeutet, die Zusage Jesu, dass er den einen wahren Weg zu Gott eröffnet, wirklich ernst zu nehmen und nicht von vornherein zu relativieren. Ein äußerer Absolutheitsanspruch wäre, diesen Wahrheitsanspruch unter allen Umständen durchzusetzen, möglicherweise sogar mit Gewalt. Davon ist das Christentum der Gegenwart aber weit entfernt, denn es ist eine Religion der Liebe. Schon im Anfang liegt hier ein ganz entscheidender Unterschied zum Islam. Jesus von Nazareth war ein Prophet der Liebe und des Friedens, die er verkündigte und lebte. Mohammed war kriegerischer Anführer von Stämmen und der Islam von Anfang an eine kriegerische Religion. Bis heute hat sich der Islam von der Gewalt als Mittel der Mission in den meisten Gebieten der Welt nicht wirklich losgesagt. Einen echten Dialog zwischen den Religionen wird es erst geben, wenn sie ihren inneren Absolutheitsanspruch beibehalten und zugleich auf jede Durchsetzung ihrer Interessen mit Druck oder Gewalt verzichten. Das gilt für alle Religionen. Es wird ein schwieriger und langer Weg, aber er muss gegangen werden.

Zugleich muss jeder einzelne Mensch seinen Lebensweg gehen. Wir überblicken von unserem Lebensweg immer nur eine gewisse Strecke. Darum brauchen wir Wegweiser, müssen uns vergewissern, dass es der richtige Weg ist. Dabei helfen uns andere, die mit uns gehen. Wir sind angewiesen auf die Zusage, dass der Weg sinnvoll ist und ein Ziel haben wird. Diese Zusage gibt uns Jesus in dreifacher Form: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“. Jesus auf dem Weg nachzufolgen, mit Jesus auf dem Weg zu sein bedeutet, auch im neuen Jahr den eingeschlagenen Weg weiter zu gehen, sich auch auf den Weg ins Unbekannte zu machen und Neues zu entdecken. Jesus ist der einzige wahre und vertrauenswürdige Weg zu einem Sinn erfüllten Leben.

Jesus ist aber nicht nur der Weg zu Gott, er ist die Verkörperung göttlicher Wahrheit und göttlichen Lebens. Wahrheit ist etwas anderes als Richtigkeit; Wahrheit bedeutet Verlässlichkeit, Treue, Gültigkeit und Wahrhaftigkeit. Wahrheit ist aber auch Orientierung. Sich orientieren heißt, sich auf den Orient ausrichten, auf das Heilige Land, wo Jesus wirkte und starb. Vielen Menschen ist jegliche Orientierung verloren gegangen. Wir leben in einer Welt, die immer mehr Möglichkeiten und zugleich immer weniger Sicherheit und Geborgenheit bietet. Der Weg der Menschheit und auch der eigene Weg wird immer unübersichtlicher. Jesus ist der Weg, weil er selbst die Wahrheit ist und das Leben spendet. Der Evangelist bindet das Ver­ständnis Gottes exklusiv an die Person Jesu; wer Gott ist, kann nur an Jesus abgelesen werden. Wahrheit und Leben im umfassenden Sinn sind für die Menschen nicht verfügbar, es gibt sie nur bei Jesus Christus. Es sind Geschenke, die für uns bereitgehalten werden.

Die dritte Zusage unseres Textes: Wo Jesus ist, da ist Leben. Er ist das Leben, er bringt die Fülle und lässt Leben gelingen. Das gesamte Johannesevangelium zeugt davon, dass Jesus Lebensspender ist. Auf der Hochzeit von Kana verwandelt Jesus Wasser in Wein und zeigt, wie lebensfroh der Glaube ist. Die Frau am Brunnen in Samaria erhält von Jesus lebendiges Wasser, das den Lebensdurst wirklich stillt. Das Leben siegt über den Tod bei der Auferweckung des Lazarus. Dem Blindgeborenen gibt Jesus eine neue Lebensperspektive, und der Gelähmte am Teich Bethesda kann wieder gehen und kehrt in das Leben zurück. Glaube ist bei Johannes das unbedingte Zutrauen in die Lebensmacht Jesu. Wir Christen sind davon überzeugt, dass Jesus wirklich Leben schenkt, das jetzt beginnt und auch mit dem Tod nicht endet. Jesus hat uns gezeigt, wie Leben gelingen kann, in Gemeinschaft mit Gott und in Liebe zu den Menschen. Ein Leben, das einen festen Grund, eine klare Richtung und ein erstrebenswertes Ziel hat. Mit Jesus auf dem Weg zu sein heißt teilzuhaben an Gottes Lebensfülle.

Amen

Prof. Dr. Udo Schnelle (Halle)
Profschnelle@aol.com


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