Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Altjahresabend, 31. Dezember 2004
Predigt über Hiob 38, 1-11 anlässlich der Flutkatastrophe im Indischen Ozean
verfasst von Christoph Dinkel
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde!

(1) Wir stehen an der Schwelle des neuen Jahres. Für gewöhnlich schauen wir an dieser Schwelle zurück, bedenken, was gut war im vergangenen Jahr und was bedrückend. Wir halten Ausschau und überlegen, was die Zukunft bringen wird, wir fassen gute Vorsätze und begießen das Ganze mit einem Glas Sekt oder auch mit zweien.

Doch heute fällt es uns schwer, den Jahreswechsel in normaler Weise zu begehen. Vor unseren Augen sehen wir die Bilder der Ertrunkenen, die an den Strand des Indischen Ozeans gespült wurden. Wir sehen die verzweifelten Blicke der Kinder, die ihre Eltern verloren haben und hören das Schreien der Eltern, die ihre Kinder nicht mehr finden. Mitten in die Urlaubs- und Ferienidylle der Südsee ist eine verheerende Katastrophe eingebrochen. Die Zahl der Toten ist so unbeschreiblich hoch und sie muss ständig nach oben korrigiert werden. In den ersten Stunden war von 1.000 Toten die Rede. Jetzt sind es 100.000 Tote. Und man muss fürchten, dass dem verseuchten Trinkwasser noch viele weitere Menschen zum Opfer fallen.

(2) Anders als bei den Terroranschlägen in New York oder im vergangenen Jahr in Madrid gibt es keine Täter, die für das Leid verantwortlich sind. Anders als bei den verheerenden Erdbeben im persischen Bam oder in der Türkei liegen wohl auch keine schwerwiegenden Baufehler vor, die das Unglück erst möglich gemacht haben. Natürlich hätte manches besser organisiert sein können, natürlich hat der moderne Massentourismus das Unglück noch verschlimmert – aber wirklich schuld ist niemand an dieser Katastrophe und niemand hätte sie wirklich verhindern können. Und damit wird das Erdbeben und seine Folgen zu einer Frage an unseren Glauben. Es stellt sich die Frage, wie ein Gott, der die Welt und seine Menschen liebt, solch ein Unglück zulassen kann.

(3) Man nennt diese Frage die Theodizee-Frage, es ist die Frage, ob Gott wirklich gerecht ist. Der Begriff „Theodizee“ stammt von Gottfried Wilhelm Leibniz. Die Frage ist natürlich viel älter und begegnet der Sache nach in der Bibel vor allem im Buch Hiob. Besonders virulent ist die Theodizee-Frage in der europäischen Philosophie übrigens seit dem verheerenden Erdbeben in Lissabon, dem im Jahr 1755 etwa 100.000 Menschen zum Opfer fielen. Dass sich uns heute nach dem Erdbeben im Indischen Ozean diese Frage wieder aufdrängt, ist mithin kein Zufall. Leibniz hat der Theodizee-Frage die Lösung gegeben, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben. Mit dieser Lösung ging ein gewisser aufklärerischer Optimismus im Blick auf die Entwicklung der Welt und der Menschen einher. Nach dem Erdbeben von Lissabon wurde diese Lösung jedoch als zynisch empfunden. Der Blick auf die Opfer und ihr Leid verbietet eine zu glatte Antwort auf die Theodizee-Frage. Eine Lösung werde ich Ihnen heute Abend also nicht liefern. Wir werden uns aber an Hand des Hiobbuches mit der Theodizee-Frage beschäftigen. Und wir werden dabei im Blick behalten, dass wir hier kein theoretisches Problem bedenken, sondern uns mit dem unvorstellbaren Leid der Menschen in Südasien auseinandersetzen.

(4) Hiob, einer frommer und gottesfürchtiger Mann, ist in schreckliches Elend gestürzt worden. Sein Hab und Gut ist zerstört, seine Kinder sind ums Leben gekommen, er selbst ist von einer schweren Krankheit gezeichnet. Seine Freunde besuchen ihn und trauern mit ihm zunächst lange über den Verlust. Dann aber fangen sie an zu reden und suchen nach Erklärungen für Hiobs Leid. Sie unterstellen, Hiob müsse irgendeine Sünde begangen haben, deshalb habe ihn Gott mit all dem Unglück bestraft. Doch Hiob weist die Erklärungsversuche der Freunde zurück. Er besteht darauf, keine Sünde begangen zu haben, die solches Unglück rechtfertigt. Und Hiob fordert Gott zum Prozess heraus. Im Prozess werde sich zeigen, dass Hiob und nicht Gott Recht hat. Hiob klagt Gott mit aller denkbarer Härte und Schärfe an. Am Ende vieler langer Reden steht dann im Buch Hiob die Antwort Gottes. Gott antwortet im Wettersturm. Er zeigt sich als allmächtiger Herrscher der Welt, dessen Ratschluss von den Menschen nicht erkannt werden kann. In Hiob 38 heißt es (Hiob 38,1-11):

Und der Herr antwortete Hiob aus dem Wettersturm und sprach: Wer ist's, der den Ratschluss verdunkelt mit Worten ohne Verstand? Gürte deine Lenden wie ein Mann! Ich will dich fragen, lehre mich!

Wo warst du, als ich die Erde gründete? Sage mir's, wenn du so klug bist! Weißt du, wer ihr das Maß gesetzt hat oder wer über sie die Richtschnur gezogen hat? Worauf sind ihre Pfeiler eingesenkt, oder wer hat ihren Eckstein gelegt, als mich die Morgensterne miteinander lobten und jauchzten alle Gottessöhne?

Wer hat das Meer mit Toren verschlossen, als es herausbrach wie aus dem Mutterschoß, als ich's mit Wolken kleidete und in Dunkel einwickelte wie in Windeln, als ich ihm seine Grenze bestimmte mit meinem Damm und setzte ihm Riegel und Tore und sprach: »Bis hierher sollst du kommen und nicht weiter; hier sollen sich legen deine stolzen Wellen!«?

(5) Gott ist der übermächtige Schöpfer der Welt. Er hat die Erde gemacht, seiner Weisheit und Stärke verdankt sich alles Leben. Gott hat den Gewalten der Natur und dem Chaos Grenzen gesetzt, damit Leben möglich ist. Gott ist der Herr auch über die Fluten des Meeres. Nichts was hier geschieht, geschieht ohne das Wissen Gottes. Gottes Macht und Weisheit und Größe übersteigt alles Menschenmögliche. Es ist daher absurd, wenn der Mensch versucht, Gott zur Rechenschaft zu ziehen. Hiob sieht dies am Ende ein, spricht sich selbst schuldig und tut Buße in Staub und Asche. Die Lösung erscheint eindeutig: als Menschen steht es uns nicht an, den allmächtigen Schöpfer nach seiner Gerechtigkeit zu fragen. Wir müssen es eben hinnehmen, wenn ein Unglück geschieht. „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen; der Name des Herrn sei gelobt!“ (Hiob 1,21) – so fasst Hiob selbst dieses Ergebnis seiner Auseinandersetzung mit Gott zusammen.

Obwohl diese Lösung uns moderne Menschen empört, kann man sie nicht einfach so von der Hand weisen. Unsere menschliche Perspektive ist tatsächlich zu begrenzt, um alles zu verstehen, was in dieser Welt vor sich geht. Gelegentlich verdanken wir Ereignissen, die zunächst als Unglück erschienen, eine positive Wende in unserem Leben. Wer weiß, wozu es gut ist, sagen wir daher manchmal. Aber wenn wir an das Unglück am Indischen Ozean denken, dann wäre diese Lösung wirklich nur zynisch: aus welcher Perspektive immer man es betrachten mag: was soll am massenhaften Tod zahlloser Unschuldiger sinnvoll und gut sein?

Doch noch ein zweiter Aspekt der vorgestellten Antwort Gottes ist bedenkenswert. Angesichts der Größe und Komplexität der Schöpfung erscheinen die Glücksansprüche eines einzelnen Menschen an sein eigenes Leben reichlich vermessen. Es gibt keine Garantie für ein langes Leben in Gesundheit. Die Ansprüche speziell von uns modernen Menschen an die Länge und Qualität unseres Lebens sind auf die Länge der menschlichen Geschichte gesehen völlig irrwitzig. Keine Generation der Menschheit hat jemals auch nur entfernt so lange, so gesund und mit so viel Wohlstand gelebt wie die gegenwärtige. Das sollte uns bescheidener machen in unseren Ansprüchen und zufriedener mit dem, was uns alles vergönnt ist. – Aber im Blick auf die Opfer des Erdbebens wirkt auch diese Antwort, so richtig sie im Allgemeinen sein mag, wenig angemessen.

(6) Würde das Buch Hiob einfach nur mit dieser Antwort enden, dann wäre es vermutlich nicht zu dem Buch geworden, in dem leidende Menschen bis heute Trost und Stärkung in ihrer Verzweiflung suchen. Auf die donnernde Gottesrede und die demütige Antwort Hiobs folgt nämlich eine überraschende Wendung: Obwohl Hiob Gott so hart angeklagt hat und ihn vor Gericht zitieren wollte, obwohl Hiob klein beigeben musste und alles zurücknahm, was er gegen Gott an Anklagen hervorbrachte, bekommt Hiob am Ende von Gott Recht. Die Freunde Hiobs hingegen, die meinten, Gott verteidigen zu müssen, werden von Gott getadelt. Gott sagt: „Ihr habt nicht recht von mir geredet wie mein Knecht Hiob.“ (Hiob 42,7) Hiob muss für seine Freunde Fürbitte leisten, damit diese nicht vom Zorn Gottes vertilgt werden.

Am Ende ist es also Hiob, der von Gott Recht bekommt. Obwohl der Mensch von Gottes Plänen nichts weiß, obwohl der Mensch im Vergleich zu Gottes Allmacht unendlich klein ist, obwohl der Mensch keinen Anspruch auf Glück hat, hat er doch das Recht, Gott anzuklagen und mit ihm zu hadern, und zwar zu hadern und zu klagen wie es härter nicht geht. Das ist das Befreiende und Tröstende an der Geschichte Hiobs: der leidende und klagende Mensch, der Mensch, der an seinem Unglück und am Unglück in der Welt verzweifelt und zu Gott schreit, dieser Mensch bekommt von Gott Recht. Wie paradox ist das! Der allmächtige Gott ermutigt den leidenden Menschen, auf Gottes Gerechtigkeit, auf Gottes Gnade und Liebe zu bestehen, auch wenn aktuell aller Anlass zum Verzweifeln, zur Anklage und zum Schreien besteht.

Das Buch Hiob bietet keine wirkliche Lösung auf die Frage nach Gottes Gerechtigkeit. Es gibt keine glatte Antwort. Aber das Buch Hiob bestätigt das Recht, diese Frage zu stellen und Gott darauf zu behaften, dass er Liebe und Güte sein will, dass er dem Meer doch Grenzen gesetzt hat und die Zerstörung des Lebens nicht wollen kann. Das Buch Hiob fordert dazu auf, mit Gott gegen Gott anzugehen und darauf zu bestehen, dass Gott zu seinen Verheißungen und zu seiner Gerechtigkeit steht.

(7) Kann man mit dieser Antwort leben? Ihr Trost ist begrenzt, sie fordert von uns einigen Sinn fürs Paradoxe. Die Antwort des Buches Hiob ist nicht wirklich befriedigend. Aber sie hat zwei Vorzüge und diese sollte man nicht gering schätzen: 1. Die Antwort ist realistisch. In der Tat ist der Kosmos unendlich viel komplexer als wir Menschen es uns vorstellen können. Die Größe der Welt und die Macht Gottes übersteigt alles, was wir Menschen erahnen können. Es wäre absurd, hier alles verstehen zu wollen. Es wäre Größenwahn, auf individuellem Glück zu bestehen.

Der 2. Vorzug der Antwort des Hiobbuches ist, dass sie trotz der Anerkennung der Übermacht Gottes und der Kleinheit des Menschen nicht zynisch ist. Sie nimmt das Leiden in jeder Hinsicht ernst. Sie erklärt es nicht weg oder für uneigentlich und unbedeutend. Der Mensch hat ein Recht zu jammern und zu hadern, er hat ein Recht, Gott anzuklagen, auf ihn böse zu sein und ihn zu verfluchen, wenn das Leid übermächtig wird.

(8) Die Antwort des Hiobbuches auf die Frage nach dem menschlichen Leid und der Gerechtigkeit und Liebe Gottes ist paradox. Aber was anders als eine paradoxe Antwort könnte denn auch angesichts einer Katastrophe helfen? Im Blick auf die Flutkatastrophe am Indischen Ozean heißt das, dass wir zum einen begreifen müssen, dass solche Unglücke vorkommen und auch in Zukunft vorkommen werden. Auch bei bester Technik und bei ausgetüfteltsten Vorwarnsystemen werden Menschen immer wieder zu Opfern großer Katastrophen werden. So ist die Welt, so hat Gott sie geschaffen, das ist ein Teil des Entstehen und Vergehens des Lebens auf der Erde.

Zum anderen aber, und das ist wichtiger, können wir uns mit unserem Schmerz und unserer Verzweiflung an Gott wenden. Wir können ihn verfluchen und gegen ihn anrennen so hart wir wollen. Wir können unsere Verbitterung hinausschreien und unseren Tränen freien Lauf lassen. Gott wird uns Recht geben. Er steht auf der Seite der Leidenden und ist ihnen treu mit seiner Liebe.

Zum dritten schließlich, und das ist heute das Wichtigste, können wir helfen. Das Opfer dieses Gottesdienstes ist für die Katastrophenhilfe des Diakonischen Werkes bestimmt. Mit dem Geld, das wir heute Abend sammeln, wird den Opfern der Flutkatastrophe am Indischen Ozean geholfen. So besteht die Chance, dass wenigstens den Überlebenden Hilfe zuteil wird und die Folgen der Katastrophe gemildert werden.

(9) Ach ja, und zum Schluss noch ein Wort zu dem, was man am Altjahrabend sonst bedenkt, zur Vergangenheit und zur Zukunft, zu den guten Vorsätzen und auch zum Schmerz über alles Unglück, das die Welt aber vielleicht auch uns persönlich im vergangenen Jahr getroffen hat. Aller Unsicherheit und allem Kummer stellt der Apostel Paulus ganz ähnlich wie das Hiobbuch die trotzige Zuversicht entgegen, dass Gott der Verheißung seiner Liebe treu bleibt. An die Gemeinde in Rom schreibt Paulus, wir haben es schon als Schriftlesung gehört: „Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist.“ – Wenn uns selbst der Lebensmut verlässt, wenn wir an Gottes Güte zweifeln, wenn wir nicht mehr glauben können, dass Gott uns und diese Welt liebt, dann stellt sich dieses Wort unserer Angst, unserer Wut und Verzweiflung entgegen. Es ermutigt uns mit Gott gegen Gott daran festzuhalten, dass Gott Liebe ist und dass uns nichts von dieser Liebe trennen kann. – Amen.

Prof. Dr. Christoph Dinkel
Pfarrer
Gänsheidestraße 29
70184 Stuttgart
E-Mail: christoph.dinkel@arcor.de
Internet: http://www.uni-kiel.de/fak/theol/personen/dinkel.shtml

 


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