Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Altjahresabend, 31. Dezember 2004
Predigt über Jesaja 30, 15-17, verfasst von Maria Widl
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In der Ruhe liegt die Kraft

Jes 30, 15-17
Denn so spricht der Herr, der Heilige Israels: Nur in Umkehr und Ruhe liegt eure Rettung, nur Stille und Vertrauen verleihen euch Kraft. Doch ihr habt nicht gewollt, sondern gesagt: Nein, auf Rossen wollen wir dahinfliegen. Darum sollt ihr jetzt fliehen. Ihr habt gesagt: Auf Rennpferden wollen wir reiten. Darum rennen die Verfolger euch nach. Tausende werden zittern, wenn ein Einziger droht, wenn nur fünf euch drohen, ergreift ihr alle die Flucht, bis das, was von euch übrig ist, aussieht, wie ein Fahnenmast auf dem Gipfel eines Berges, wie ein Feldzeichen auf dem Hügel.

Wer zu Silvester nicht nur die Sektkorken knallen und die Böller krachen lässt, sondern sich etwas Zeit zum Nachdenken nimmt, kommt dabei in der Regel auf drei Themen:

Rückblick auf das Vergangene, Versöhnung und Dankbarkeit
Ausblick auf das Kommende, Hoffnungen und gute Vorsätze
Feier des Übergangs, liturgisch und privat

Was haben wir nicht alles erlebt im letzten Jahr: einen ungerechten Krieg im Irak und ein neues Aufflammen der Friedensbewegung, den Beitritt zahlreicher Ostblock-Nachfolgestaaten zur EU und eine neue Verfassung, einen Höchststand der Ölpreise und einen Tiefststand des Dollar, schon wieder eine Ökokatastrophe durch ein Tankerunglück in Alaska, wie immer viele Tote auf der Straße, durch Krebs und Aids, durch Hunger und Elendsseuchen; olympische Sommerspiele in Athen und kein Ende ethnischer Kriege in Palästina, Kurdistan, Asserbeidschan; die Debatten um Pensionsreformen und immer neue Rekorde an Arbeitslosigkeit.; und so weiter, und so weiter.

Und privat? War es ein gutes, ein friedliches Jahr? Oder standen private und berufliche Konflikte im Vordergrund? War es ein arbeitsreiches und erfolgreiches Jahr? Oder ging an allen Ecken und Enden nichts so richtig zusammen? Gab es freudige Ereignisse des Lebens? Oder standen Tod und Trauer im Mittelpunkt? War das Jahr von Neuansätzen oder von Abschieden geprägt? Hat Gott eine Rolle gespielt in meinen Lebensentscheidungen und in meinem Alltagsablauf? Oder ist Er zurückgetreten hinter all die Umtriebigkeit, die Sorgen und die vielfältigen Ablenkungen, die das heutige Leben zu bieten hat? Bin ich versöhnt mit diesem Jahr, mit mir, mit meinen Verwandten, Freunden und Kollegen, mit Gott? Oder habe ich noch einige Rechnungen offen? Werde ich heute Nacht unbeschwert feiern können, oder wird manche Altlast meine Stimmung trüben? Kann ich Gott aus ganzem Herzen danken für das Gute, das mir geschenkt wurde und das ich schenken konnte? Oder steckt mir noch manches Problem wie ein Kloss im Hals? Kann ich auf die Zukunft des Neuen Jahres offen, freudig und mit engagierter Gelassenheit zugehen? Oder ist mir bange vor dem, was da kommen soll oder kommen wird?

Der Text aus Jesaja, den wir gelesen haben, ist nicht gerade eine tröstende Ermutigung oder eine freudige Ankündigung für den Schritt in das Neue. Gott hält Abrechnung mit seinem Volk. Es wollte nichts mehr wissen von den Spielregeln des guten Leben, die Gott ihm gegeben hatte. Es wollte sich nicht mehr zumuten lassen, als „Heiliges Volk“ gekennzeichnet und darin verflichtet zu sein. Es wollte sich ein schönes Leben machen, einfach und aufregend zugleich: „auf Rossen dahinfliegen“ und „auf Rennpferden reiten“. Damals wie heute war der Reit- und Rennsport wohl ein Sinnbild für das vergnügliche und oberflächliche Leben einer „High Snobiety“. Wir können aber heute gleichermaßen an all die anderen Vergnügungen in Sportspektakeln und Spaßgesellschaft denken, die uns wie eine Droge gefangen nehmen und uns danach nicht erholt, sondern erschöpft und leer in den Alltag zurück entlassen.

Wer sich den modernen Drogen der Spaßgesellschaft überantwortet, braucht immer neue Kicks, immer größere Sensationen, immer waghalsigere Aktionen, um „sich noch zu spüren“, um noch eine gewisse Befriedigung zu finden, wenigstens kurzzeitig. Und danach kommt der große Kater, der blaue Montag, die erschöpfte Leere. Dieses Phänomen ist inzwischen nicht mehr auf Erwachsene beschränkt: immer jünger sind die Kinder, die sich am Wochenende bis zum Umfallen besaufen, einrauchen, extasy-schwanger ins Dilirium tanzen. Danach geht es ihnen, den Jungen wie den Erwachsenen, wie in der Bibelstelle: Sie sind den Belastungen des Alltags nicht mehr gewachsen, laufen vor den kleinsten Problemen kopflos davon, erfahren das ganz normale Leben als untragbare Last, befinden sich permanent im Überlebenstraining. Sicher: die Anforderungen in Berufsleben und Schule sind deutlich gewachsen. Aber wenn man die tatsächlich erbrachten Leistungen betrachtet, die zahllosen Fehler, die dauernd gemacht werden, die unheimlich vielen leeren Kilometer aus Desinteresse und Schlamperei, die Hast und Rücksichtslosigkeit, die unsere Gesellschaft prägen – „Wohlstand“ sieht anders aus. Zugleich werden selbst die reichen Gesellschaften immer ärmer, weil wir bereits einen beträchtlichen Teil unserer Arbeitskraft auf die notdürftige Beseitigung jener Schäden investieren müssen, die wir durch unsere Lebens- und Wirtschaftsweise permanent erzeugen: gesundheitlich, sozial, ökologisch, spirituell.

Doch es gibt einen Ausweg aus diesem Teufelskreis süchtiger Wohlstandsgier und hastiger Pro-forma-Arbeit; und Jesaja benennt ihn als Wort Gottes: „Nur in Umkehr und Ruhe liegt eure Rettung, nur Stille und Vertrauen verleihen euch Kraft.“ Vier Punkte bezeichnen hier die Alternative:

Umkehr: Es geht darum, aus der teuflischen Logik der hastigen Stress- und Vergnügungsspirale auszubrechen. Die Alternative ist

Ruhe: Sich dem Augenblick, den eigenen Gedanken, den Widerfahrnissen des Lebens so stellen, wie sie kommen.

Stille: Die permanente Reizüberflutung – die dauernde Musikberieselung, das dauernde Trinken und Herumnaschen, die uns überflutenden und immer schnelleren Bilder der Werbung und des TV – einfach abschalten. Die Stille ertragen, das Nichts aushalten. So lang, bis wir fähig werden, es zu genießen. Dann fluten die Gedanken und Gefühlen wieder, wir sind wieder fähig zu träumen und zu hoffen. Neue Pläne entstehen und wir wissen spontan, dass wir die Kraft haben werden, sie zu realisieren. Wir erfahren zugleich, dass Ruhe und Stille nicht leer sind, sondern dass wir in ihnen dem Himmel so nahe sind, wie uns Gott in unserem Leben unmittelbar liebend umfängt. Um das zu erfahren, fehlt nur noch eines:

Vertrauen: Wir müssen bereit sein, loszulassen: unsere Vorstellungen vom machbaren Lebensglück, unsere Erwartungen an Erfolg und Karriere, unsere Ansprüche ans Leben wo „nur das Beste für mich gut genug ist“ (und wir dabei an die gehobene Preisklasse der Konsumgüter denken), unsere Fixierung auf den eigenen „Willen zur Macht“. Wir müssen lernen, uns Gott und seinen Plänen mit uns anzuvertrauen. Das bedingt keinen willen- und tatenlosen Fatalismus. Im Gegenteil: Wir entdecken in unseren Fähigkeiten und Charismen, wer wir im Innersten tatsächlich sind und sein können. Wer das findet, sich darauf vertrauend einlässt, es zu seinem Lebensinhalt macht, wird so reich beschenkt, dass alle Prestigeprodukte und Spassangebote daneben verblassen. Erfolg und Karriere verlieren an Wert. Wir haben DAS LEBEN gefunden; und es überragt jeden Vergleich mit anderen Glücksangeboten bei weitem.

Silvester ist traditionell der Abend der guten Vorsätze. Und wir alle wissen, dass sie im Neujahrskater begraben werden. Deshalb machen viele gar keine Vorsätze mehr. Die Bibel lädt uns heute zu einem anderen Weg ein: Tausche die Süchte und Täuschungen der Konsum- und Spassgesellschaft (und ebenso die Betäubungen und Fesselungen des allzu bürgerlichen Wohlverhaltens und Wohlstandes) gegen DAS LEBEN ein – und es wird für dich ein bewohnbarer Ort, wo dich niemand und nichts mehr in die Flucht schlagen kann.

In diesem Sinne: Ein gesegnetes Neues Jahr!

Dr.habil. Maria Widl
Färbermühlg. 13/3/21
A-1230 Wien
Tel/Fax +43/ 1/ 869 57 09
Mail: maria.widl@univie.ac.at

 


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