Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

2. Weihnachtstag, 26. Dezember 2004
Predigt über
Johannes 8, 12-16, verfasst von Reinhard Weber
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Joh 8:12 Da redete Jesus abermals zu ihnen und sprach: Ich bin das Licht der Welt; wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wir das Licht des Lebens haben.
Joh 8:13 Da sprachen die Pharisäer zu ihm: Du zeugst von dir selbst; dein Zeugnis ist nicht wahr.
Joh 8:14 Jesus antwortete und sprach zu ihnen: So ich von mir selbst zeugen würde, so ist mein Zeugnis wahr; denn ich weiß, woher ich gekommen bin und wohin ich gehe; ihr aber wißt nicht, woher ich komme und wohin ich gehe.
Joh 8:15 Ihr richtet nach dem Fleisch; ich richte niemand.
Joh 8:16 So ich aber richte, so ist mein Gericht recht; denn ich bin nicht allein, sondern ich und der Vater, der mich gesandt hat.

Das ist eine Provokation! Dieser Text ist eine Provokation, und er ist damals auch so empfunden worden, wie sich an der Reaktion der Pharisäer zeigt. Die haben durchaus verstanden, worum es hier geht, denn sie waren nicht auf den Kopf gefallen und hatten für derlei Dinge einen feinen Riecher, zumal wenn es um Gegner ging. Da ist man besonders aufmerksam und sensibel.

Es ist ja überhaupt die Eigenart Jesu gewesen zu provozieren, nein, eine lebendige Provokation zu sein! In persona sozusagen. Er stellte nämlich seine Mitmenschen in die Entscheidung, sogar seine eigene Familie! In die Entscheidung über seine Sache, sein Gottesbewußtsein, seinen Gott, der mit ihm zunehmend identisch geworden war. Wir wissen ja, daß die, seine Angehörigen, ihn für verrückt erklärt haben, für meschugge, ein bißchen überzwerg, und ihn am liebsten zuhause eingesperrt hätten. Er fiel aus allen üblichen Kategorien und Rollenzuweisungen heraus, er befriedigte nicht die üblichen bürgerlichen Erwartungen: keine Familie, nicht einmal verheiratet, keinen anständigen bürgerlichen Beruf, kein Haus, keinen festen Wohnsitz, ein Obdachloser sozusagen, angewiesen auf das Wohlwollen von Fremden oder Sympathisanten, zog er als einkunftsloser Wanderprediger mit einer ziemlich abstrus erscheinenden Botschaft durch die Gegend, sammelte allerhand zwielichtige Leute um sich herum, pflegte gegenüber Frauen einen für damalge Verhältnisse äußerst freien und ungewöhnlichen Umgang und tat sich schließlich auch noch als Exorzist und Thaumaturg hervor.

Man kann es durchaus nachvollziehen, daß sie ihn haben einfangen wollen, damit er nicht weiter Aufsehen errege und die Familie in einen schlechten Geruch bringe und bei den Nachbarn, Verwandten und Bekannten unmöglich mache. „Draußen sind deine Brüder und Schwestern und wollen dich holen, du sollst zu ihnen kommen“, so heißt es, er aber erklärt seine Zuhörer, die seiner Botschaft lauschen, zu seinen Brüdern und Schwestern. Ja, die Familie, die muß mit einem solchen Menschen Probleme haben. Da läuft nicht alles in den gewohnten Bahnen, der ist nicht mit normalen Maßstäben zu messen; aber die normalen Menschen haben keine anderen. Jesus war und ist eine lebende Provokation für die Bürger aller Zeiten, die nichts anderes als Bürger sein wollen. Und die Pharisäer wollten ja auch Bürger sein, auch Bürger des Himmelreiches, das sie sich in Entsprechung zu ihrer weltlichen Bürgerschaft vorstellten mit den irdischen Normen. So machen wir es ja normalerweise auch. Wir konstruieren das Himmelreich in Analogie zu den menschlichen Weltreichen, nur alles etwas überhöht und idealisiert.

Jesus sprengt diesen Zusammenhang auf, es tut sich ein Riß zwischen der Bürgerschaft im Reich der Welt und im Reich Gottes auf. Wenn nun das Gottesreich auf die Welt herunterkommt, wie das ja an Weihnachten geschieht, dann muß es zum Eklat kommen, zur Spaltung, zur Entscheidung.

Entweder wird man dann Jünger und Nachfolger Jesu oder Gegner und Opponent: „Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich.“ Kein Drittes, keine desinteressierte Gleichgültigkeit war da möglich: „Eure Rede sei ja, ja, nein, nein, was darüber ist, das ist von Übel!“ Keine Neutralität, keine désinvolture, kein Sich-Heraushalten konnte es da geben, keine vornehme Zurückhaltung, keine Nonchalance, man kann keinen Standpunkt daneben oder darüber einnehmen. Das haben die Pharisäer auch gesehen, und sie haben es erkannt, sie haben ihn ernst genommen. Wenn jemand herkommt und behauptet von sich, er sei das Licht der Welt, was ja ein Gottesprädikat war (Israels Gott Jahwe war ja das „Licht der Völker“), dann war das eine unglaubliche Anmaßung, ein durch und durch ungedeckter Scheck, ein fast blasphemischer Anspruch, an dem man nur Anstoß nehmen konnte, ebenso wie daran, daß ein Krippenkind armer Leute der Herrscher und Heiland der Welt sein soll. Was soll da Eindeutigkeit und unhintergehbar radikale Entscheidungshaftigkeit!?

Denn, wie ist es: Ist nicht das Leben prinzipiell ein Kompromiß! Und die in der politisch korrekten Öffentlichkeit von uns so hochgeschätzte Demokratie - basiert sie nicht durchgängig auf Kompromissen, auf Halbheiten und Halbherzigkeiten?! So heißt es doch! Wollen wir denn einen Gottes- oder ein Führerstaat?! Wir wollen doch nicht zur mittelalterlichen Inquisition zurück und auch in keine islamistische Theokratie wie im Iran oder anderswo mit Meinungsverfolgung und Gesinnungs-KZs, mit Fatwas gegen Andersdenkende. Das hatten wir doch und wissen, was es bedeutet. Was soll also dieser Radikalismus!? Ist Kompromißfähigkeit nicht ein Zeichen der Reife?!

Ja, das ist wohl alles richtig auf der Ebene unseres weltlichen, politischen und sozialen Lebens, in den gefügten gesellschaftlichen Ordnungen, die unser Zusammenleben tragen, vollziehen und garantieren.

Aber ein anderes ist es in Fragen des Heils, d.h. wo es um ewiges Leben oder ewige Verdammnis geht, um Gottesnähe oder Gottesfremde, um unser Verhältnis zum Lebensgrund, um die Fundamente unseres Daseins: da kann es keine Kompromisse geben, da müssen wir radikal sein, um an die Wurzel zu kommen. Und an die Wurzeln müssen wir da, wenn wir an die Ausgangsbedingungen des Lebens kommen wollen, da wo es seine Kraft schöpft und seinen Segen oder Unsegen empfängt, seine Richtung erhält. Da gibt es nicht dieses und jenes, da kann es nur eines geben, nur ein Entweder-Oder. Für diese Dimension steht Jesus. Für Licht oder Dunkelheit. Es ist die Dimension der Herkunft und Bestimmtheit des Lebens, die Eindeutigkeit verlangt. So dualistisch hat es der Johannesevangelist jedenfalls gesehen.

Ein Beispiel: die Entscheidung des Arztes ist gefordert bei Katastrophen oder im Krieg, bei Unglücksfällen und ähnlichen Ereignissen, wer von den Verletzten zuerst oder überhaupt noch in Notlage behandelt wird, wenn nicht genügend Rettungsmittel für alle gleichzeitig zur Verfügung stehen; dann muß ausgesiebt werden, der dorthin, der dahin. Da muß der Arzt dann Prioritäten setzen, über Leben und Tod vielleicht entscheiden. Und das wird auch im Studium gelernt und geübt für Notfälle. Hier ist manchmal kein Kompromiß möglich; es geht nicht beides zugleich, sondern nur dies oder jenes, der oder die: „In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod.“ Würde man alles gleichzeitig machen wollen, würde man vielleicht gar keinen retten. Mutter oder Kind. Das sind Entscheidungen! Das klingt fruchtbar und sittlich äußerst bedrängend, wenn nicht überfordernd, es erinnert an schlimmste Praktiken; wir sind uns dessen alle bewußt und wissen darum; und dennoch gibt es diese Situationen, in ihnen fällt man auch dann Entscheidungen, wenn man keine fällt und sich entzieht.

Darum handelt es sich bei Jesus, die Frage von Heil oder Unheil, Leben oder Tod. Darum ist er in dieser Sache ganz kompromißlos. An der Stellung zu ihm fallen Entscheidungen: ist er der irdische Repräsentant Gottes und seiner ewigen Wahrheit oder ist er ein Lügner?

Weshalb Jesus zu Tode gekommen ist, das liegt sicher auch in seiner Kompromißlosigkeit in den göttlichen Dingen des Lebens. „Ich bin nicht gekommen Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ Der Weihnachtsfriede kann und darf also kein fauler Friede sein, der auf einem faulen Kompromiß beruht. Sonst erreichen wir die Dimension gar nicht, um die es hier geht.

Es ist ja ersichtlich: das Kommen Jesu teilt die Weltgeschichte in zwei Teile: die vorchristliche Zeit endet mit dem Erscheinen Jesu im Jahr „Null“: da ist die Weltwende angesiedelt, die Zeitrechnung ist danach ausgerichtet. Wir kommen nie wieder dahinter zurück. Das ist die geschichtliche Einmaligkeit, Singularität. Auch eine Entscheidung! Wir können nie wieder ganz Heiden werden, auch wenn wir uns heute gegen Christus entscheiden. Dann sind wir eben Gegner, Feinde Christi, aber jedenfalls nicht mehr unbedarft, nicht mehr naiv, unwissend, kindlich.

Weihnachten ist also ein Entscheidungsdatum. Da hat sich etwas entschieden, für die Menschheit und ihre Geschichte, für den einzelnen in den großen wie kleinen Zusammenhängen seines Erdendaseins, und nicht zuletzt für Gott selbst: Gott hat eine Entscheidung gefällt, auch über sich selbst! Menschwerdung! Johannes 1, der Wochenspruch: Das Wort ward Fleisch! Das ist eine geschichtliche Entscheidung: sie ist kontingent! Sie war nicht notwendig, sie kommt vielmehr aus Gottes Freiheit, sie ist ein freier Entschluß, aber der ist ein für allemal gefällt, man kann ihn nicht wieder zurücknehmen, er gilt, er ist mitgeteilt, damals, und er wird heute immer noch mitgeteilt, jedes Jahr an Weihnachten: Gott will sein ewiges und unendliches Leben mit einem endlichen, sterblichen Geschöpf teilen, mit uns Kreaturen aus Staub und Geist. Das ist die Weihnachtsbotschaft! Gott kommt zur Welt, zu seiner Welt, und darin kommt er zu sich. Es ist entschieden.

Indem Gott sich für uns entschieden hat, hat er sich aber zugleich in einer ganz bestimmten Weise für sich entschieden. Das ist Liebe, diesen Vorgang nennt man Liebe. Wir haben kein anderes angemessenes Wort dafür, nur dieses so oft gemißbrauchte. Man muß dieses Menschenwort, wenn man es denn als Gotteswort erfassen will, von dem hier im Evangelium beschriebenen Vorgang aus denken. Und das, was in ihm zum Ausdruck kommt, ist ja auch das innerste Wesen der Liebe: Daß sie sich für den anderen entscheidet und zu ihm „Ja“ sagt, aber es so sagt, daß sie darin zugleich sich selbst entspricht, daß sie also darin zugleich zu sich selbst „Ja“ sagt, sich für sich selbst entscheidet und zu sich selbst. Nur dann kann man einen anderen wahrhaft lieben, wenn man in dieser Liebe zu ihm als einem Anderen zugleich sich selbst lieben und bejahen kann. Daß das eine Ja das andere immer schon in sich schließt, impliziert, mitsagt und eben darin jene höhere wie tiefere Einheit zum Ausdruck bringt und erzeugt, welche die Liebe ausmacht, daß sie es eben nämlich vermag, zwei in eins zu machen, sie zu vereinen, ohne sie zu vereinerleien, das Unterschiedene nicht mehr geschieden sein zu lassen, sondern so zu vereinen, daß es zu einer in sich selbst unterschiedenen Einheit wird und gerade damit lebendiges Leben, also Trennungen zu überwinden, um Unterscheidungen recht leben zu lassen, das Eigene zu wahren, ohne das Fremde zu verneinen, sondern sich selbst und den anderen unter einem neuen, größeren Begriff zusammenzufassen, in ein übergreifendes Drittes zu integrieren, darin wird das Phänomen „Liebe“ anschaulich und konkret. Das dem anderen zugesprochene Ja muß und soll also zurücktönen in Richtung auf das eigene Ich, damit dieses zum Selbst werde. Daß sich eines im anderen finde und so aus dem Zusammenschluß die Einigkeit eines neuen Seins sich gebäre.

Weihnachten wird Gott geboren, wird Gott zur Welt geboren. Aber er wird als Mensch geboren, als das, was er nur so ist, daß er es zugleich nicht ist, sondern davon unterschieden. Gott wird Mensch uns Menschen zugute, aber in uns Menschen findet Gott auch sein göttliches Wesen als Liebe, hat er sein Selbstbewußtsein als Gott des Menschen. Seine Menschengeburt ist zugleich seine Selbstgeburt. Der Vater gebiert sich in seinem Sohn, und insofern er dafür die Jungfrau Maria nutzt, wird diese zur Gottesgebärerin. Weihnachten ist also nicht nur ein Geschehen an der Welt, sondern auch ein Geschehen in Gott. Hier findet Gott zu seinem Wesen, indem er zu sich so Ja spricht, daß darin Jesus als das Licht der Welt erkenntlich wird und d.h.: daß darin Gott sich als der Gott der Menschen definiert, als der menschensuchende Gott, der nicht mehr anders Gott sein will als so, daß er in und mit seinem Gottsein zugleich in und beim Menschen ist, daß er mithin sein göttliches Leben nicht mehr für sich allein haben will, sondern es willens und bereit ist, mit seinem Geschöpf zu teilen, es also nur noch so zu besitzen, daß er es in der Einheit von Vater, Sohn und Geist und d.h. als der mitteilsame, der lebendige, der Dreieine, der in sich selbst unterschiedene, der die Gegensätze in sich einbegreifende, der barmherzige, der liebende, der unter das Lebens- und Todesgeschick des Geschöpfes tretende Gott besitzt. Das ist das Weihnachtsevangelium von dem göttlichen Geschenk an die Menschheit. Und das göttliche Weihnachtsgeschenk ist Gott selbst. Sein Kommen vom Himmel herab auf die Erde.

Eine Bewegung von oben nach unten also. Wir aber streben immer umgekehrt von unten nach oben. Zum Licht hin, aus der Dunkelheit weg; Gott aber kommt vom Licht her in die Dunkelheit. Das ist die gegenläufige Richtung. Wir tendieren von der Finsternis in das Licht wie die Pflanzen; dort suchen wir das Leben. Das ist organisch und normal. Wir sind Sonnenanbeter. Die Millionen Mallorca-Fahrer im mitteleuropäischen Winter legen davon ein beredtes Zeugnis ab. Und die höchste Selbstmordrate liegt deshalb auch am Polarkreis in Lappland. Da geht die Sonne jetzt praktisch gar nicht mehr auf. Mal eine halbe Stunde am Tag läßt sie sich gerade man so am Horizont blicken, das ist aber auch schon alles. Über 23 Stunden Dunkelheit. Und wie würden wir es jetzt ohne elektrisches Licht aushalten. Wenn wir uns abends schon am halb fünf ins Bett legen müßten für 15 gut Stunden.

Wir sind lichthungrige Dunkelwesen! Angeblich galten ja auch Goethes letzte Worte dem Begehren nach „mehr Licht“. Wir haben ja selbst in uns keines.

Gott aber geht mit seinem Licht in die Dunkelheit. Seine Strahlen kommen wie die Strahlen der Sonne heute morgen in die Welt, das ist sein Weihnachtslicht, welches er über der Welt, über denen, die in Finsternis und Schatten des Todes wohnen, angezündet hat. Aus der Fülle des Lichtes kommend geht er zu uns in unsere schattenhafte Zeit, wir aber aus der Fülle des nächtigen Dunkels kommend können seinem Licht entgegengehen, aus dem Dunkel des gelebten Augenblicks, von dem Ernst Bloch gesprochen hat. Da ist ein heller Schein, der sich in unseren Kerzen spiegelt, auf unserem Angesicht spiegeln soll. „Gottes Licht geht da herein, gibt der Welt ein neuen Schein“, so singt es der Liederdichter. Gott hat sich dafür entschieden, ein Gott mit uns, ein Gott für uns zu sein. Das ist seine Entscheidung, und an der hält er fest.

Aber nun noch einmal zurück: Jetzt stellen sie sich vor: da kommt einer unseresgleichen daher und behauptet: ich bin das Licht der Welt....

Das ist schon skandalös, anstößig, arrogant, verrückt, bescheuert, nicht ganz dicht.... Und dann verlangt er noch: Ja oder nein: Glaube oder Unglaube; der spinnt. So haben sie auch damals gesagt, seine Familie: er ist von Sinnen. Und ihn dann schließlich aus der Welt herausgedrängt, das Licht auszulöschen und Gottes Entscheidung nicht ernst zu nehmen versucht. Sie wollten lieber auch einen kompromißlerischen Gott, einen Gott nach bürgerlichen Maßstäben, moralisch genormt, Mittelmaß eben, mit dem man einigermaßen angenehm leben kann. Tue recht und scheue niemand. Ich gebe, damit du gibst ...

Jesus aber will den Glauben an sich als Repräsentant und Akteur des menschensuchenden Gottes, kompromißlos, entschieden bis zur letzten Konsequenz.

Aber doch nicht als dezisionistischen Akt, als „Friß Vogel oder stirb“! Wo also liegt das Kriterium, wenn er doch kein sacrificium intellectus, kein Opfer des Verstandes will? Es ist der größte Unsinn, den es gibt, wenn es immer wieder heißt, den Verstand müsse man an der Kirchentür abgeben, in der Kirche säßen nur die Dummen und die Naiven, die Leichtgläubigen, die sich jeden Humbug, den die Pfarrer erzählen, aufbinden lassen, die Unkritischen, die nicht ganz helle sind. Das ist ein leider ganz und gar hartnäckiges Vorurteil, gegen das man immer wieder wie gegen Windmühlenflügel ankämpfen muß, so hat es sich in den Gehirnen der Vielen festgefressen. Eine bequeme Seuche. Da muß man Seuchenbekämpfer sein. Es ist die Auffassung eine Seuche, der Glaube bringe den Menschen um seinen Verstand, die Priester würden die Gläubigen verdummen und hätten ein Interesse daran, die breite Masse unmündig zu halten. Diese schrecklichen Mißverständnisse und böswilligen Verleumdungen halten sich leider wie ein zähes Übel vor allem unter denen, die nichts von der Sache verstehen und nie oder nur an Weihnachten einmal eine Kirche betreten haben. Also, ich werde es nachher an der Kirchentür kontrollieren, ob da jemand seinen Verstand abgegeben hat, und wehe ich finde einen da herumliegen! Wenn es um Verdunklung ginge, dann würde Jesus bestimmt nicht sagen, ich bin das Licht der Welt.

Also was heißt das: ich bin das Licht der Welt.

Licht! Erleuchtung! Klarheit! Durchsichtigkeit! Wir sind uns gewöhnlich ja selbst am besten verborgen, was haben wir da alles im Keller liegen, wo wir am liebsten gar nicht mehr hinsehen! „Denn sie wissen nicht, was sie tun“. Richtig.

Aber dafür gibt es ja heutzutage die Psychoanalyse, die psychologische Selbsterforschung. In Amerika hat jeder seinen Psychiater, seinen Seelenklempner, es gehört dort zum guten Ton; es geht gar nicht mehr ohne. Das ist der moderne Ersatz des Geistlichen, des Seelsorgers. Was aber ist das Ziel? Selbsterkenntnis! Sich selber kennenlernen und seine Handlungen: Warum so? Warum bin ich so, wie bin ich so geworden? Kann ich nicht anders sein? Ich will mich ändern! Sonst werde ich krank! Warum habe ich mich da so verhalten? Wie komme ich mir auf die Spur? Warum bin ich so unglücklich? Warum passiert mir immer das gleiche Malheur? Warum hakt es in meinen Beziehungen? Usw. usw.

Und dazu gibt es nun den Rückgang in den eigenen Grund, in die eigene Kindheit vor allem, vielleicht sogar noch in vorgeburtliche Zeit. Aufklären der Herkunft, der Ursprünge soll erreicht werden. Die Traumata sollen erkannt und gelöst werden. Was haben die Eltern in der Erziehung falsch gemacht, wo liegen frühkindliche Erlebnisse und Prägungen begraben, die mich heute noch beeinflussen und bestimmen? Alles dies ist wichtig für die Deutung meiner Gegenwart und deren Erkenntnis. Dann, wenn ich etwas weiß, kann ich bewußt damit umgehen, kann es verändern, sonst bestimmt es mich unbewußt. Deshalb ist das erste Ziel der Psychoanalyse die Bewußtmachung, die Aufdeckung der über mein Erwachsenenleben Gewalt ausübenden frühen Erfahrungen. Durch Wiederholung, durch Wieder-hoch-Holen soll das Trauma bearbeitet werden, Wiedererleben als Therapie. Erst dann kann eine Lösung und Befreiung erfolgen, wenn der Zwang in seinem ursprünglichen Zustandekommen erfaßt und erkannt ist. „Wo Es war, soll Ich werden“, hat Freud, der Vater der Psychoanalyse, diesen Vorgang und sein Ziel genannt.

Z.B. bei Phobien. Einer kann keinen Fahrstuhl betreten. Er bekommt Angstzustände. Klaustrophobie. Man geht zurück und findet vielleicht: als Kind wurde er oft zur Strafe im dunkeln, finsteren, abgeschlossenen Keller eingesperrt. Dieses wiedergewonnene Wissen ermöglicht, sich von dem Trauma zu distanzieren und seine Relativität zu durchschauen.

Sich selber über sich klar werden durch Eintauchen in die eigenen prägenden Urspünge und durch diese Klarheit aus dem Verlies der eigenen Ängste und Prägungen, aus dem Gefängnis seines Gewordenseins herausfinden! Selbstdistanz entwickeln, und die Störungen bearbeiten, aus ihrer Zwanghaftigkeit herauswachsen - das ist das Ziel der Psychoanalyse.

Jesus sagt: ich bin das Licht der Welt: in ihm also wird die Welt in ihrem Sosein von ihrem Grund her erhellt: Gott ist der Grund der Welt. Jesus nimmt ihn nun, diesen Grund, in einer ganz bestimmten Weise in Anspruch. Von ihm her sich verstehen lernen, heißt eintauchen in die Ursprünge. Religion in diesem Sinne, christlicher Glaube, ist also ein Aufklärungsprojekt, nicht Verdummung. Religio – Rückbindung, Rückerinnerung, Anamnesis. Das Wissen über sich selbst wird aus den letzten Ursprüngen des Seins gewonnen. Jesus geht zurück auf Gott den Schöpfer, welcher der Neuschöpfer ist, zu dem sich Gott selber bestimmt hat, indem er Jesus als seinen Sohn bestimmte. Und diese doppelte Bestimmung macht Weihnachten aus. Die Welt wird hell in diesem Schein und die Herzen auch. Es umleuchtete sie die Klarheit des Herrn, heißt es von den Hirten in der Weihnachtsgeschichte. Für die armen und ungebildeten, als dumm geltenden Hirten gilt das. Die Welt ist in göttliches Licht getaucht. Jesus kommt in die Welt als deren Licht. Er erleuchtet die Welt von ihrem Ursprung her. Weihnachten geht der Welt ein neues Licht auf.

Wenn das so ist, dann geht es also um das Sich-selber-Verstehen des Menschen: ein neues Selbstverständnis wird dem Menschen durch das Werden der Weihnacht angeboten. Wir verstehen uns immer nur aus dem Verfügbaren, aus den eigenen Werken, aus unserem Leisten. Aus dem, was wir aus uns gemacht haben, wie wir geworden sind. Das sind aber nicht wirklich und letztlich wir, wie nicht ganz und ausschließlich, sondern nur als Empfangene und Empfangende können wir uns verstehen, -die sich von woanders her empfangen haben, die sich nicht in erster Linie selber machen, ja deren Machen, wo es recht ist, noch ein Empfangen ist. Um Wesen und Sein geht es zu Weihnachten statt um Werke. Nur davon soll die Schenkerei ja eigentlich künden, als symbolische Weitergabe des eigenen Beschenktseins. Jesus bietet uns eine neue Möglichkeit an, uns selber in der Welt zu verstehen.

Seine Nachfolge soll ein Hellwerden sein, nicht mehr wandeln in der Finsternis, umleuchtet sein von der Klarheit des Herrn, das Licht des Lebens haben, Aufgeklärtsein über sich selbst und über Gott und die Welt. Sehend werden, erleuchtet sein. Nicht selber scheinen wollen, sondern sich erleuchten lassen. „Wer selber scheinen will, wird nicht erleuchtet“, sagt ein östliches Wort.

Dann und nur dann kann man auch die Welt erleuchten mit dem erhaltenen Licht, kann es weitergeben und sein Zeuge sein.

Selber hell werden von den eigenen Ursprüngen in Gott her, heißt aber konkret zu Weihnachten, die Gewißheit der Gotteskindschaft haben. Kein Kind des Teufels mehr sein. Kein Kind der Sünde und des Scheiterns. Sich als Kind Gottes wissen. Der Umgang mit dem Nazarener macht dessen gewiß. Er zeigt mir, wo ich hingehöre. Auf welche Seite. Nachfolge ist ein Lebensweg. Dieser Weg ist: nach dem Licht suchen, welches das Leben erleuchtet, und sich von ihm finden lassen, ihm, das dem Leben eine Richtung gibt und es trägt. Ausgerichtetwerden. Dann die Fackel übernehmen und anderen voranleuchten!

Man kann es klar erkennen: Jesus selber ist der erste Psychoanalytiker gewesen; er wußte um die Bedeutung der Herkünftigkeit, und er sagt es auf die ablehnende Reaktion der Pharisäer hin: ich weiß, woher ich gekommen bin, ich kenne meinen Grund und mein Grund kennt mich, ich bin ein Gekannter, ja, ich bin eins mit meinem Grund. Ihr schaut nur auf den äußeren Augenschein, auf das Fleisch, und bleibt damit blind, unsichtig. Aber ihr müßt durch diesen Augenschein hindurchgreifen auf den herkünftigen Grund. Dieses Hindurchgreifen ist Glaube! Und diese Herkunft ist immer auch Zukunft (Heidegger)! Von Gott her sein, d.h. stets auch: auf ihn, zu ihm hin sein!

Weihnachten hat sich Gott als der Grund der Welt bestimmt, bei uns zu sein: seither ist das Absolute bei uns und läßt uns anteilhaben an seinem göttlichen Leben, indem es als dieses Leben zu uns gekommen ist. Das ist der Ursprung und das Ziel des Christseins: Wissen, daß Gott zu uns gekommen und nun bei uns ist. Und damit: sich trösten lassen in den Dunkelheiten dieser Welt, indem man dem Zeugnis des Zeugen Jesus glaubt, als dem Zeugnis des Sohnes vom Vater. Daß dieser Vater ein wirklicher Vater ist! Der auf seine Machtausübung zugunsten des Kindes verzichtet und sich ihm herzlich zuneigt. Der sich für das Kind seiner Gottheit entleert, der sein Herz opfert, der sich an diese Liebe preisgibt. Und der in dieser opferbereiten Liebe doch mit sich identisch bleibt, sich darin treu bleiben kann, ja sich in ihr erkennt und selber empfängt als Gott, als Gottmensch. Das ist das unbegreifliche Geheimnis! Wie das gehen kann? Aber es ist gegangen! Die Einheit von Heiligkeit und Barmherzigkeit. Das fassen wir nicht. Aber wir dürfen in diese uns so fremde Sohnesgewißheit eintauchen und darin der eigenen ewigen Bestimmung gewiß werden. Das ist Weihnachten, das ist Glaube; es ist Gewißmachung dieses Vaters durch das Kommen des Sohnes. Woher ich gekommen bin und wohin ich gehe? Von Gott, in Gott, zu Gott. So habe ich Klarheit über mich selbst, wenn ich mich so verstehe. Dazu aber bedarf es des Verstandes, denn Verstand kommt von Verstehen. Wo der Verstand so versteht, daß er mit dieser frohen Botschaft ins unvordenkliche Einverstehen kommt, da hat er sich kompromißlos entschieden, indem er über sich entscheiden sein läßt, da geschieht, woran der Glaube glaubt, die Verwandlung der Lebensfinsternisse in das göttliche Licht, die Realisierung der Einheit mit dem dreieinen Gott! Da ist es wahrhaft Weihnachten geworden.

Amen.

PD Dr. Reinhard Weber
Stud.-Pfr. in Marburg
PD.Dr.Weber@gmx.de


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