Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Heilig Abend, 24. Dezember 2004
Predigt über
Johannes 3, 16, verfasst von Claudia Bruweleit
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Liebe Gemeinde!

Weihnachten ist eine ganz besondere Zeit – geheimnisvoll – und das nicht nur deshalb, weil in diesen Tagen Heimlichkeiten besondere Freude machen, Geschenke liebevoll ausgewählt und verpackt ihrer Bestimmung entgegensehen – nein, es ist auch deshalb geheimnisvoll, weil es uns Menschen verwandelt. Auf kaum ein anderes Fest bereiten wir uns so gründlich vor. Wir putzen Häuser heraus, bis sie strahlen, backen, kochen, kaufen ein, decken eine festliche Tafel, ziehen schöne Kleider an – voller Erwartung. Sogar Skeptiker und nüchterne Zeitgenossen, die mit beiden Beinen in der Realität stehen, können sich diesem Geheimnisvollen nicht ganz entziehen. Und ob sie nun an Gott glauben oder nicht – jetzt ist die Zeit, in der auch aufgeklärte Menschen sich ein ganz klein bisschen nach einem Wunder sehnen. Und sei es das Wunder, noch einmal so leicht und unbeschwert diese Zeit genießen zu können wie ein Kind. Als gelte dieser Zauber der Weihnacht uns. So wie damals, als die Gerüche nach Plätzchen und Pfefferkuchen des Weihnachtstellers und das Rascheln der Geschenke, die heimlich ins Wohnzimmer getragen wurden, zu Vorboten einer großen Freude wurden, die dem wartenden Kind bevorstand. Mir ist, als werde in diesen besonderen Tagen vom 24. bis zum 26. Dezember ein Fenster in unsere Kindheit aufgestoßen, und mit den weihnachtlichen Düften und dem Glanz der Kerzenlichter kommen die Erinnerungen und die Sehnsüchte von damals wieder zu uns herein und bereiten uns vor auf die Erfahrung von Weihnachten heute.
Jedes Jahr zu Weihnachten öffnet sich ein Zeitfenster für uns, gibt es diese besonderen Tage, in denen wir wie an keinem anderen Tag sonst im Jahr das zulassen und begreifen können, dass Gott auch zu uns kommen. In unser Herz.
Ein Zeitfenster für die Erkenntnis: Gott ist da – aus der Pädagogik wissen wir von solchen Zeitfenstern für besondere Lernerfahrungen. Es gibt besonders sensible Phase in der Entwicklung eines Menschen, in denen er bestimmte Dinge nahezu mühelos lernt und in sein Leben integriert – zum Beispiel das Sprechen. Das lernt ein Kind in den ersten Jahren seines Lebens ganz nebenbei, wenn es Zuwendung erhält und selbst angesprochen und ermutigt wird. Das Zeitfenster für den Spracherwerb steht in den ersten Lebensjahren besonders weit offen und schließt sich später, so dass es viel, viel mühsamer ist, erst mit sechs Jahren das Sprechen zu lernen. Und fast unmöglich ist es, dieses im Erwachsenenalter zu beginnen.

Ich glaube, Weihnachten öffnet jedes Jahr wieder ein solches Zeitfenster, in dem uns Menschen der Glaube an Gottes Nähe und seine Liebe zu uns Menschen möglich wird, auch wenn wir Gott in der übrigen Zeit des Jahres eher wenig wahrnehmen und er uns weit weg erscheint. An Weihnachten kommt er greifbar nahe. Es wird ein Blick auf unser Leben möglich, der uns sonst versperrt ist.
Darum lade ich Sie ein, heute an dieses geöffnete Fenster zu treten und die Düfte, Bilder und Stimmungen an sich heranzulassen, die durch dieses Zeitfenster zu Ihnen dringen. Jetzt ist Zeit für das Geheimnis der Nähe Gottes in diesem Kind in Bethlehem. Und für seine Nähe in unserem Leben heute. Nehmen Sie dieses Geheimnis in sich auf. Lassen Sie Weihnachten zu, heute, in diesen kostbaren Tagen. In dieser geheimnisvollen Zeit. Sagen Sie allen Widerspruchsgeistern, die sich in Ihren Herzen und in Ihrem Kopfe regen, sie sollen schweigen in diesen Tagen und Ihnen ein schönes Fest gönnen, einfach so. Denn Weihnachten kommt ja erst in 362 Tagen wieder. Und das ist eine lange Zeit, die den Widerspruchsgeistern bleibt und dem kühlen Kopf und der Rationalität. Der
Evangelist Johannes fasst dieses Geheimnis so zusammen:
16 Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.

Gott hat die Welt - und uns in ihr – so lieb, dass er seinen einzigen Sohn gibt, um bei uns zu sein. Das ist die schlichte und doch geheimnisvolle Botschaft von Weihnachten. Gott ist nahe, um zu helfen und zu retten. Gott will für uns da sein, nicht repräsentativ, nicht majestätisch, in Pracht und Herrlichkeit, sondern menschlich. In liebevoller und liebesuchender Nähe. Ich möchte Ihnen das heute mit einer kleinen Geschichte weitersagen:
(Jetzt kann Gott kommen. Von Lene Mayer –Skumanz. Fundstelle: Andere Zeiten e.V. Initiativen zum Kirchenjahr (Hg.): Der Andere Advent. Meditationen und Anregungen vom 1.Dezember 2002 bis 6. Januar 2003. 14.12.)
Ein Mann erfuhr, dass Gott zu ihm kommen wollte. „Zu mir?“, schrie er. „In mein Haus?“ Er rannte in alle Zimmer, er lief alle Stiegen auf und ab, er kletterte zum Dachboden hinauf, er stieg in den Keller hinunter. Er sah sein Haus mit anderen Augen. „Unmöglich!“, schrie er. „In diesem Dreckstall kann man keinen Besuch empfangen. Alles voller Gerümpel. Kein Platz zum Ausruhen. Keine Luft zum Atmen.“ Er riss Fenster und Türen auf.“ Brüder, Freunde!“, rief er. „Helft mir aufzuräumen - irgendeiner! Aber schnell!“ Er begann, sein Haus zu kehren. Durch dicke Staubwolken sah er, dass ihm einer zu Hilfe gekommen war. Sie schleppten das Gerümpel vors Haus, schlugen es klein und verbrannten es. Sie schrubbten die Stiege und Böden. Sie brauchten viele Kübel Wasser, um die Fenster zu putzen. Und noch immer klebte der Dreck an allen Ecken und Enden. „Das schaffen wir nie!“, Schnaufte der Mann. „Das schaffen wir“, sagte der andere. Sie plagten sich den ganzen Tag. Als es Abend geworden war, gingen sie in die Küche und deckten den Tisch. „So“, sagte der Mann, „jetzt kann er kommen, mein Besuch! Jetzt kann Gott kommen. Wo er nur bleibt?“ „Aber ich bin ja da“, sagte der andere und setzte sich an den Tisch. „Komm und iss mit mir!“

Für den Mann in unserer Geschichte hat sich ein Zeitfenster geöffnet für eine besondere Erfahrung. Angestoßen durch die Ankündigung, dass Gott zu ihm kommen wolle, ändert sich sein Blickwinkel auf sein Leben. Er freut sich. Gott kommt. Das ist etwas Besonderes. Plötzlich sieht er sein Haus, sein Leben mit ganz anderen Augen. „Zu mir? In mein Haus? Unmöglich!“, schrie er und machte sich ans Ausmisten und Saubermachen.
Dieses Erschrecken kenne ich auch – da lebt der Mensch so vor sich hin, Arbeit, Einkaufen, Essen, Saubermachen, Freizeit, die kleinen und die großen Kompromisse, die wir im Laufe eines Lebens eingehen, die kleinen und die großen Laster, Schokolade, Rauchen, ein Glas Wein, das wir uns gönnen, kannenweise Kaffee, um wach zu bleiben, lieber mal eine Tiefkühlpizza statt richtig etwas zu kochen – oder Situationen, in denen wir uns durchgeschlängelt haben, ohne uns wirklich zu entscheiden, ohne Klarheit. Freundschaften, die eingeschlafen sind, Menschen, denen wir nicht gesagt haben, dass sie uns etwas bedeuten, Entschuldigungen, die so lange hinausgezögert wurden, bis sie sich fremd und überflüssig anfühlten - kurzum: es gibt in jedem Leben Unaufgeräumtes, Gerümpel, und Dreck an den Wänden. Züge an uns, die wir lieber niemandem zeigen, Wesensarten, die wir an Weihnachten auszublenden versuchen.

In unserer kleinen Geschichte geht der Mann ganz freudig daran, aufzuräumen, die Lasten und Sünden der vergangenen Jahre abzulegen. Eine Menge Arbeit liegt vor ihm – es erscheint ihm angemessen, wenn er an Gott denkt, ihn aufgeräumt zu begrüßen. Doch er merkt: er schafft es nicht allein. So wie wir es allein nicht schaffen, aus unseren eingefahrenen Verhaltensweisen auszuscheren, die Streitmuster – wir kennen sie ja! - zu durchbrechen. „Das schaffen wir nie!“ – schnaufte der Mann. „Das schaffen wir“, sagt der andere. Der Mann ist nicht alleine. Ohne großes Aufhebens darum zu machen, packt einer still mit an. So schaffen sie es, dass der Mann sich und sein Heim vorbereitet fühlt – frisch herausgeputzt, innen wie außen vorzeigbar, erwartungsvoll. Ein bisschen so, wie die festlichen Häuser zu Weihnachten. Oder so, wie es einem leichter fällt, fröhlich zu sein, wenn ein anderer freundlich und liebevoll auf uns zugeht. Nun hat er aufgeräumt, ist erschöpft aber glücklich – und wartet noch immer. „Nun kann Gott kommen – wo er wohl bleibt?“
So fragen wir uns ja auch manchmal, wenn Weihnachten vergeht und sich das Fenster der besonderen Stimmungen langsam schließt – wo er nur bleibt? War das alles? Wo bleibt die echte, tiefe Weihnachtsfreude, auf die wir uns vorbereitet haben?
Und das Schöne an dieser Geschichte ist, dass sich der Blick des Mannes erneut ändert. Von der Eingangstür, zu der er erwartungsvoll schaute, fällt er neben sich auf den, der ihm seit Stunden zur Seite war, mit anpackte und das Gerümpel entsorgte. „Aber ich bin ja da“, sagt der andere und setzt sich an den Tisch. „Komm und iss mit mir!“
War er schon längst da, der erwartete hohe Gast? Gott neben ihm, das Gerümpel zerschlagend, die Stiegen mit Kübeln voll frischem Wassers putzend? Gott hilfreich mit anpackend? Gott so still und bescheiden wie ein wirklicher Freund? Kein vornehmer Herr mit prüfendem Blick? Die Schlichtheit der Antwort lädt ein, alle peinliche Berührtheit und Scham abzulegen und das Angebot anzunehmen. „Setzt dich, iss mit mir. Ich bin ja da.“

Das ist das Wunder der Heiligen Nacht, das sich immer und immer wieder ereignet, das wir erfahren können in diesen Tagen: Gott kommt nicht erst, wenn wir bereit sind, ihn zu empfangen. Er ist schon da. Uns zur Seite. In all dem, was wir lieber vor ihm und den Augen anderer versteckten. Er nimmt uns so, wie wir sind und packt nötigenfalls mit an.
Dieser schlichte Satz: „Komm und iss mit mir!“ lenkt die Aufmerksamkeit ganz neu auf die alltäglichen Erfahrungen. Er vermittelt eine greifbare Geborgenheit. Da ist einer, der unsere Gegenwart erträgt, ja der sie sogar sucht. Der mit uns isst.
16 Denn also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.
Gott kommt auf die Erde. Er sucht die, die sonst sich und anderen verlorengehen könnten. So kommt er als Mensch. Als dieser setzt er sich mit Menschen an den Tisch, die schon längst alle Hoffnung auf Liebe und Anerkennung aufgegeben haben, mit Zöllnern und Sündern und anderen, die sich nicht unter Leute trauen. „Komm und iss mit mir!“ So ist Gott da.

Weihnachten lernen wir wieder, mehr zu sehen als das, was vor Augen ist und im Kleinen, Unscheinbaren Zeichen zu erkennen, die uns gelten. Und in Menschen um uns her den Mensch gewordenen Gott. Der für uns da ist, nicht nur an Weihnachten. Besonders zu finden an Weihnachten. Sein Friede, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.

Ev.-Luth. Heiligengeistgemeinde Kiel
Pauluskirche am Niemannsweg
Pastorin Claudia Bruweleit
bruweleit@heiligengeistgemeinde.de


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