Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

4. Advent, 19. Dezember 2004
Predigt über
Lukas 1, 26-38, verfasst von Matthias Rein
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde!

1. Vor einigen Tagen begegnete mir eine verwirrende Aufforderung in einer Werbeanzeige.
„Glauben Sie nicht alles, was Sie wissen!“, hieß es da.
Ich stutze: Ich soll nicht alles glauben, was ich weiß?

Nun gut, es gibt Dinge, die weiß ich nicht genau, obwohl ich sie wissen könnte und sollte.
Schüler kennen das: Wenn ein Test geschrieben wird, wenn sie nach Fakten gefragt werden. Sie sollten sie wissen. Und da kommt es dann schon mal vor, dass man eben die Antwort nicht genau weiß.
Aber es gibt Dinge, die weiß ich.
Z.B. weiß ich, dass ich an den Fuß der Zugspitze komme, wenn ich gen Süden fahre.
Ich weiß, wer meine Eltern sind.
Ich weiß, dass ein Kind nur dann entstehen kann, wenn Mann und Frau sich geschlechtlich vereinigen.
Das sind Tatsachen, da gibt es keinen Zweifel.

„Glauben Sie nicht alles, was Sie wissen!“
Mit dieser Aufforderung wirbt eine Tageszeitung um Kunden. Die Zeitung, so wird suggeriert, liefert uns Wissen, das unser bisheriges Wissen in Frage stellt, korrigiert, auf den neuesten Stand bringt. Dazu ist eine Zeitung natürlich da. Aber Skepsis ist angebracht: Gerade die Medien verkaufen uns allzu oft angebliche Fakten als Tatsachen. Und bei genauerem Hinsehen zeigt sich: Das Bild war gefälscht, der Bericht verdreht die Tatsachen, der Beweis ist fingiert. Es gibt immer zwei Ansichten, so scheint es. Die einen sehen es so, die anderen ganz anders. Was heißt da Wissen? Was heißt da Tatsache?
„Glauben Sie nicht alles, was man Ihnen als Tatsache verkaufen will!“ So müsste man umformulieren.

“Glauben Sie nicht alles, was Sie wissen!“
Diese Aufforderung macht mich stutzig und ich frage: Was weiß ich sicher?
Welchem Wissen kann ich vertrauen?
Nach welchen Kriterien beurteile ich angebliche Fakten?

Uns begegnet heute der Bericht von der Ankündigung der Geburt Jesu.
Dieser Bericht stellt unser Wissen, unsere Erfahrung in Frage.
Uns geht es dabei nicht viel besser als Maria.
Auch ihr Wissen wird in Frage gestellt.
Wie gehen wir mit unserem Wissen um, wenn wir diese Geschichte hören?
Welche Bedeutung hat diese unglaubliche Geschichte für unseren Glauben?

2. Gott sendet den Engel Gabriel in die Stadt Nazareth in Galiäa. So geht die Geschichte los.
Und damit geht es auch schon los mit den Fragen - mit Aussagen, die unser Wissen in Frage stellen.
Was sind Engel? Engel werden in der Kunst als Wesen in menschlicher Gestalt mit Flügeln dargestellt. Aber Menschen mit Flügeln gibt es nicht. Gibt es also Engel? Was wissen wir über Engel?
Welche Bedeutung hat das Erscheinen des Engels Gabriel hier?

Viele Geschichten und Berichte in der Bibel erzählen von Engeln. Also gibt es sie wohl.
Aber es gibt sie nicht so, wie es die geschnitzten Taufengelfiguren gibt, die auf den Fotos in diesem Haus zu sehen sind.
Den Engel sieht, erlebt, nimmt nur der wahr, für den die Botschaft des Engels bestimmt ist. Wir können den Engel nicht festhalten, fotografieren, anderen vorführen.
Wir können von ihnen hören über die Erzählung derjenigen, denen sie begegnet sind. Unser Wissen von Engel ist ein mittelbares, ein Besonderes.

Der Engel Gabriel in unserem Bericht hat den Auftrag, der jungen Frau Maria etwas zu sagen. Deshalb erscheint er bei Maria, nur bei ihr. Die beiden begegen sich von Angesicht zu Angesicht - unter Auschluß der Öffentlichkeit gewissermaßen.

Was wissen wir über Maria?
Maria ist ein junges Mädchen, wohl zwischen 12 und 13 Jahren alt.
Mädchen im Alter von 12 Jahren sind heute bei uns Schülerinnen der 6. oder 7.Klasse, mitten in der Pubertät, ernsthafte Familiengründung ist da noch kein Thema, auch wenn es immer mehr um die Ablösung vom Elternhaus, um Jungs, um Sexualität geht.
Über die Herkunft der Maria erzählt das Neue Testament nichts.
Sie hat eine Tante, Elisabeth. Die wiederum ist mit dem Tempelpriester Zacharias verheiratet. Er gehört damit zu einer hochstehenden, angesehenen, einflußreichen Gruppe in Israel.
Maria ist einem Mann versprochen. Sie wird demnächst ihr Vaterhaus verlassen und den Zimmermann Josef heiraten. Josef stammt aus der königlichen Davidfamilie, so erzählen die Evangelien Matthäus und Lukas. Josef ist Handwerker, er gehört sozusagen zum sozialen Mittelstand der Gesellschaft.
Maria wird ihren Sohn Jesus zur Welt bringen und noch weitere Kinder.
Jesus hatte Brüder und Schwestern, besagen andere Stellen.
Sein Bruder Jakobus wird ein wichtiger Leiter der ersten christlichen Gemeinde in Jerusalem nach dem Tod Jesu.

Als der Engel Gabriel zu ihr kommt, ist Maria ein Mädchen von zwölf Jahren und sie ist Jungfrau, so sagt sie selbst in unserem Abschnitt. „Ich weiß, von keinem Mann,“ so sagt sie.
Der Engel überbringt ihr eine unglaubliche Botschaft: Du wirst schwanger werden.
Du wirst einen Sohn gebären und der wird auf dem Thron seines Vorfahren David sitzen.

Maria antwortet mit dem, was sie sicher weiß:
Das ist unmöglich. Ich weiß von keinem Mann.

Nun erklärt Gabriel, wie das Unmöglich möglich wird:
Die Kraft des Höchsten wird sich entfalten in Dir, Maria.
Gottes Geist wird wirken.
Ein Kind wird in Deinem Leib zu wachsen beginnen, ohne dass es ein leiblicher Mann gezeugt hat.
Ist so etwas möglich?
So fragt Maria und so fragen wir bis heute

Und nun bringt der Engel einen Beweis vor.
Du kennst deine Tante Elisabeth, Du weißt, dass sie kinderlos ist, dass sie unfruchtbar ist und nun auch zu alt, um eigene Kinder zu bekommen.
Und nun ist das Unmögliche geschehen. Deine Tante Elisabeth ist schwanger, bereits im 6 Monat.
Nun – diese Geschichten klingt unglaublich, aber sie ist wahr.
Und Maria erinnert diese Geschichte sofort an die alte Geschichte von Sara, Abrahams Frau. Sara kann nur lachen, als ihr ein Sohn verheißen wird. Dann aber hält sie den neugeborenen Isaak überglücklich in den Händen. Und nun also Elisabeth?
Überzeugt der Beweis des Engels? Ist die überraschende Schwangerschaft einer unfruchtbaren Frau vergleichbar mit der Entstehung eines Kindes in einer Frau, ohne das ein leiblicher Mann dabei vorkommt?

Ich ertappe mich bei dem Versuch der Relativierung:
Das kommt schon mal vor, dass ältere Frauen, die als unfruchtbar gelten, schwanger werden. Umsichtige Mediziner werden diese Möglichkeit nie ganz ausschließen. Das können wir mit unserer Erfahrung noch in Übereinstimmung bringen. Auch, wenn es ein Wunder ist.
Aber ein Menschenkind kann nur so entstehen, dass der Mann dieses Kind in die Frau einpflanzt, so die Vorstellung zu Marias Zeit.

Hier füge ich eine Zwischenüberlegung ein:
Wer je auf das Eintreten einer Schwangerschaft gewartet hat, sei es als Frau oder als Mann, weiß, dass die geschlechtliche Vereinigung allein nichts garantiert. Es kann so viel anderes verhindern, dass das Kind entsteht und wächst. Dazu braucht es wohl immer wieder das Wirken des schöpferischen Geistes Gottes, dass ein Kind tatsächlich entsteht, auch heute. Auch wenn von unserer menschlichen Seite alles Mögliche getan wird - eine Granatie für die Zeugung eines Kindes gibt es nicht. Immer mehr kinderlose Paare bei uns müssen erleben, dass sie vergeblich warten.

Nun schließt der Engel mit einem Satz, der es in sich hat, der unser Wissen, unsere Erfahrung in Frage stellt. Ein Satz, der für uns eine Provokation ist:
„Kein Ding ist unmöglich bei Gott!“

Ja, so ist es, so höre ich manchmal, kein Ding ist unmöglich bei Gott.
Ein Glaubenssatz, wahrlich. Ein Satz, der Lebenserfahrung zusammenfasst.
Aber, halten wir an diesem Satz auch fest, wenn er all unser Wissen und unsere Erfahrung durcheinanderbringt? Wenn er gegen unsere Lebenserfahrung steht?

3. Jesus hat einen besonderen Vater, so erzählt uns die Lukas-Geschichte.
Gott ist sein Vater. Gott sucht sich für seinen Sohn eine leibliche Mutter, Maria. Sie bringt den Gottessohn zur Welt.
Dies durchbricht menschliche Erfahrung und menschliches Verstehen. Hier berühren sich Himmel und Erde und eine solche Berührung entzieht sich unserem Erfahrungshorziont.
Dies ist auch in Israels Geschichte neu.

Israel kennt die Geschichten, in denen von der wunderbaren Geburt eines Kinder erzählt wird. Allerdings bleiben dabei beide Elternteile beteiligt.
Israel kennt die Geschichten von besonderen Männern und Frauen, die Gott sich aus seinem Volk erwählt: Mose, Samuel, Hanna, Ruth, David, die Propheten.
Aber von einem leiblichen Gottessohn hat Israel bisher nicht gehört.

Gott wird Mensch in diesem Kind – das ist die Botschaft, das ist das Neue, das Besondere. Und das durchbricht die Regeln der Welt.
Eine Herausforderung für unser Wissen und für unseren Glauben.

Welche Bedeutung hat diese Geschichte für mich, für uns heute?

Zunächst: Gott sucht eine einfache Frau.
Gott sucht sich keine Königin, keinen Superstar, keinen Übermenschen, um in die Welt zu kommen.
Gott wird Mensch im Schoß der Maria, des 12jährigen Mädchens aus diesem völlig unwichtigen Dorf Nazareth. Das hat Bedeutung.
Gott hat eine Schwäche für die Einfachen, für die Bedeutungslosen, für die, die nicht im Scheinwerferlicht stehen, sondern vom dunklen Rand aus zusehen.

Und weiter: Gott wird Mensch mit Haut und Haaren. Jesus litt Schmerzen, weinte, schrie, war verzweifelt und scheiterte. So erzählen die Evangelien. Gott wird Mensch und hat nun am eigenen Leib mit den Grenzen der Welt, mit den Grenzen des Verstehens und Begreifens zu tun. Dies endet mit seinem menschlichen Sterben am Kreuz.

Und drittens: In Jesus berühren sich Himmel und Erde, Maria ist erste Zeugin dessen.
Überdeutlich wird dies bei seiner Auferstehung. Von der Auferstehung her ist auch seine besondere Entstehung im Mutterleib zu verstehen. Was bislang keinem Menschen widerfuhr, tut Gott an Christus, seinem Sohn. Er führt ihn aus dem Totenreich. Für uns unvorstellbar, nicht verstehbar, denn es sprengt unser Wissen, unsere Erfahrung.
Von der Auferstehung Jesu her ist seine wunderhafte Zeugung in Maria zu verstehen.
Das Wunderbare war, so erzählt Lukas, von Anfang an da.

Und am Schluß:
Wie geht das alles vor sich? Wie macht Gott das?
Der Engel sagt: Durch Gottes Geist.
Gott wirkt durch seinen Geist in Maria. Er schafft neues Leben. Durch den Geist.
Wir erinnern uns an die Schöpfungsgeschichte. Auch da haucht Gott den lebendigen Geist in einen Klumpen Erde und so entsteht der Mensch.
Gott wirkt durch seinen Geist in der Welt.
Er macht Unmögliches Möglich in dieser Welt.

Gott wirkt durch seinen Geist in uns.
Er beeinflusst uns.
Er bewegt uns zu Dingen, die wir nicht für möglich halten, die nicht aus uns kommen.

Können wir dem Geist wirklich soviel zutrauen?
Muß die Welt nicht vielmehr durch Macht, durch das Schaffen von Fakten, durch die Anwendung von Gesetzen verändert werden?

Was ändert die Welt wirklich?
Da hat Israel, da haben wir Erfahrungen gemacht, über die sollten wir uns austauschen.

Dem Geistwirken sollen wir uns öffnen, so die Botschaft dieser Geschichte.
Für dieses Geistwirken sollen wir uns offen halten.
Auf diesen Geist sollen wir lauschen, ihn erspüren, ihn wirken lassen.
Dazu haben wir Maria, das zwölfjährige Mädchen, als Vorbild.
„Mir geschehe, wie du gesagt hast.“, antwortet sie dem Engel.
Dieser Geist schafft neues Leben in der Welt, gegen alle Erfahrung und gegen alles begrenzte Wissen.

Wo bleiben wir mit unserem Wissen und unserem Glauben bei dieser Geschichte?
„Kein Ding ist unmöglich!“ Dieser Satz bleibt eine Provokation.
Dieser Satz braucht Vertrauen, braucht Glauben – Glauben in den, der über die Welt hinaus geht.
„Kein Ding ist unmöglich, auch Gott kann Mensch sein.“
Dieser Satz verändert unser Wissen.
Gott lässt uns wissen, dass er selbst in der Welt wirkt und sie umgestaltet.
Mit diesem Wissen sollen wir leben, getröstet und hoffnungsvoll.

Amen

Kanzelsegen


Dr. Matthias Rein
Studienleiter am Theologischen Studienseminar der VELKD
Bischof-Meiser-Str. 6
82049 Pullach
Tel. 089/74442428
Email: Matthias.Rein@t-online.de



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