Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

4. Advent, 19. Dezember 2004
Predigt über
Lukas 1, 26-33.38, verfasst von Dankwart Arndt
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Versuchen Sie, sich an einen Abend im Theater zu erinnern. Im Zuschauerraum wird es dunkel; Gespräche verstummen; dann hebt sich der Vorhang und gibt den Blick frei auf die Bühne. Ähnlich der Augenblick, wenn in einem Konzertsaal der Dirigent vor sein Orchester getreten ist und dann seinen Dirigentenstab erhebt. Dann wird eine letzte konzentrierte Stille hörbar, bevor der erste Ton gespielt, das erste Wort gesagt ist.

Diesem Augenblick gleicht der 4. Advent. Eine große innere Ruhe verbindet sich mit gespannter Aufmerksamkeit. Wer von dem, was nun beginnen will, auch nur ein wenig ahnt, wird still; er wird sich ganz hingeben dem, was nun einsetzen, was nun anheben wird; er wird sich konzentrieren auf das Geschehen, das sich vor seinen Augen und Ohren abspielt und – doch tiefer gehen will als nur ans Ohre und nur ins Auge. Der entscheidende Augenblick ist gekommen; vor unseren Augen öffnet sich der Vorhang:

„Im sechsten Monat der Schwangerschaft der Elisabeth“, die Johannes, den Weg-bereitenden Täufer, zur Welt bringen soll, „wurde der Engel Gabriel von Gott gesandt.“ Ein Engel – wer denn auch sonst? – muss ansagen, was kein Mensch sich selbst oder anderen sagen kann. Ein Engel – wer denn auch sonst ? – muss verkünden, was keines Menschen Auge je gesehen und keines Menschen Ohr je gehört hat: Gottes unbedingten guten Heilswillen verkündet ein Engel.

Wer wollte fragen, gar rechten, - wer wollte mit den stumpfen, groben Instrumenten historischen Nachstöberns herangehen an das tiefgründige, vielschichtige, geheimnisvolle Zeugnis von der Erscheinung eines Engels? Wer’s versuchte, könnte nicht einmal die Richtigkeit, geschweige denn die Wahrheit der Überlieferung prüfen.

„Gabriel“ – „Kraft Gottes“ bedeutet sein Name – gesandt in eine Stadt in Galiläa, die heißt Nazareth.“ Keine Metropole, keine von großstädtischem Lärm erfüllte Metropole, die am Gefühl der eigenen Wichtigkeit erstickt; vielmehr ein kleines, unbedeutendes, sozusagen verschlafenes Dorf-Städtchen in einem vergessenen Winkel der damals bekannten Welt – das ist Nazareth. Höchstens durch traurigen Lokalruhm war dieser Winkel Galiläa bekannt. Außer Nazareth lag dort auch Kapernaum; und das war ein Zentrum der römischen Steuereintreibungsbehörden und Zollrechnungsstellen. Deshalb war Galiläa zum Ausgangspunkt geworden des Widerstands gegen griechische und römische Oberherrschaft, - Ausgangspunkt mancher Rebellion gegen die von den Oberherren verfügte Steuerveranlagung, die man im zeitgenössischen jüdischen Schrifttum die „Aussaugung des Landes“ nannte; eine treffende Formulierung, wenn man bedenkt, dass „die oben“, die in der Hauptstadt Rom, keine Steuern zahlten, dagegen vermutlich ab und an ihre Diäten erhöhten, während „draußen im Lande“, im besetzten Land, die Kopfsteuer auch von den Armen bezahlt werden musste.

„Ein Engel gesandt zu Maria, die vertraut war einem Mann aus der Familie Davids“: Nun öffnet sich der Blick auf die Bühne der Welt. Sie zeigt ein von Terror verwüstetes Fleckchen Erde, verdunkelt durch Tränen und Schmerzen; sie zeigt eine einfache junge Frau, keinesfalls älter als zwanzig Jahre; sie zeigt einen Mann, zu dessen Vorfahren – aber das ist schon so lange her, dass es fast schon nicht mehr war sein kann -, - zu dessen Vorfahren also der sagenhafte und legendenumwobene König David zählt; neuneinhalb Jahrhunderte war es her, dass er lebte. Und doch: man erinnert sich lebhaft, und unter der Knute der Fremdherrschaft noch einmal mehr und intensiver: Es war Davids Regierungszeit, in der man sicher wohnte im Land, respektiert, ja, gefürchtet von den Nachbarreichen, niemandem untertan oder tributpflichtig.

„Joseph vom Haus Davids“ – ein erstes Mal blitzt dieser Name auf; er alarmiert; die Erinnerung an David lässt Sehnsucht geradezu hoch-kochen, das sehnsüchtige Verlangen nach Freiheit, nach Würde, danach, geachtet zu sein und nicht geächtet.

Die Welt als Bühne liegt offen da: Nazareth – Mann und junge Frau – und der kündende Engel. Gottes heiliges, ernstes, blutig-ernstes, endgültiges Spiel mit seiner Welt kann beginnen. „Der Engel sprach zu Maria: Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir!“ So kündigt der Allmächtige seine Gegenwart an, sein Kommen zu den Menschen, seine Zuneigung, seine Heim-Suchung. So sagt er sich an: „Begnadet bist du.“ Seine Ferne – Ungnade; seine Verborgenheit – Gericht; seine Nähe – Gnade; sein Kommen – Erbarmen.

„Maria aber erschrak über diese Anrede, über diesen Gruß.“ Eine echte religiöse Ergriffenheit scheint auf; ein heiliger Schauder – nicht ein köstliches Prickeln – erfasst Maria. Denn: der über allem ist, tritt neben sie. Er lässt sich auf die Welt ein, und er bleibt doch ihr gegenüber als der Schöpfer. Er verliert sich an die Menschen, und er bleibt doch der Erhabene. „Maria erschrak“, und das zeigt, sie ist in der Tiefe berührt, in einer Tiefe, in der die Frage, „ob einer Religion brauche“ und „wozu sie nützlich sei“ nur noch lächerlich wirkt, weil völlig unangemessen. Maria ist in einer Tiefe berührt, die ihr selbst nicht zugänglich war, die sie aus Eigenem nicht hätte erreichen können; sie ist in einer Tiefe berührt und ergriffen, die nur dem Schöpfer ihres Daseins verfügbar ist.

In dieses Erschrecken hinein „sprach der Engel zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria; du hast Gnade bei Gott gefunden, siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären. Der wird groß sein und ein Sohn des Höchsten genannt werden. Und Gott wird ihm den Thron seines Vorvaters David geben, und er wird König sein, und sein Reich wird kein Ende haben.“ – Jetzt nun wird endgültig deutlich: Was hier gesagt ist, kann kein Mensch deuten, künden, gewichten; dies ist vielmehr wahrhaft Engels-Botschaft: eine junge Frau von schlichter Herkunft wird Königin-Mutter, „Himmelskönigin“, wie sie in alter Zeit auch wohl genannt wird. Sie wird es, indem ihre Schwangerschaft von Gott angenommen, aufgenommen, gesegnet und begnadet wird. So tief beugt der Höchste sich herab, dass er so ganz und gar menschlich zur Welt kommen will. Und – so sehr erhebt er, achtet er, würdigt er Menschlichkeit, dass er sich in einem Kind aus menschlicher Geburt zeigen, schenken, geben wird.

„Fürchte dich nicht, Maria“, sagt der Engel. Nicht nur, dass es in dieser Welt – ob um das Jahr 0 oder in diesem Jahrhundert -, - nicht nur, dass es immer ein Wagnis ist, ein Kind zur Welt zu bringen, hinein in ihre Unwägbarkeiten und Ungerechtigkeiten, hinein in ihre Ungesichertheit und ihre drohenden Schrecken; sondern dieses Wagnis, das Maria zugemutet wird, ist noch einmal mehr unkalkulierbar: Mit einem hohen Anspruch nämlich und doch schutz-los, mit einer einzigartigen Friedensmission und doch ohne glanzvolle, ohne abschreckende, gewalttätige Macht, wird der Auftreten, der durch Maria das Licht er Welt erblicken soll. „Fürchte dich nicht, Maria“, auch dann viel später, unter dem Kreuz, „Fürchte dich nicht; in wundersamer Weise bist du begnadet.“

„Maria aber sprach: Siehe, ich bin des Herren Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast.“ Keine Floskel, keine weibische Unterwürfigkeit in patriarchaler Umgebung, sondern: dieser Herr, der selbst dienen wird – wie sollte er eine andere Mutter haben können?! Dieser, der – wie es später heißt – „bis zum Kreuz den Gehorsam lernte und litt“ – wie sollte er eine andere denn gehorsame Mutter haben?! Luther hat’s schon gut gesagt: „Was sind all Mägde, Knechte, Herren, Frauen Fürsten, Könige, Monarchen auf Erden gegen die Jungfrau Maria, welche Gottes Mutter ist, die höchste Frau auf Erden? Sie ist das edelste Kleinod nach Christo in der ganzen Christenheit; und diese höchste Frau auf Erden soll mir und uns allen dienen, dass sie dies Kind gebieret, und gibt, dass es unser eigen sei.“

Maria sagt: „Mir geschehe, wie du gesagt hast.“ Das ist auch nicht Ausdruck dumpfer Passivität, vielmehr: dass sie durch sich geschehen lässt, was Gott auf der Bühne der Welt sich zu unserem Heil ereignen lassen will – das fordert ihre vollen, leiblichen, geistigen, seelischen Kräfte heraus. Wie denn auch anders könnte eine Mutter ihr Kind austragen?!

Vierter Advent – der Augenblick, in dem alles gespannt, ruhig, wach, konzentriert den Beginn eines großen Ereignisses erwartet.

Wir gehen in der Tat Großem entgegen. Dafür sei Gott von Herzen Dank!

Dr. Dankwart Arndt
Pastor i. R.
Auf dem Breckels 1
24329 Grebin
E-Mail c/o angelikatanha@hotmail.com

 


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