Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

3. Advent, 12. Dezember 2004
Predigt über
Lukas 3, 1-14, verfasst von Christoph Dinkel
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Im fünfzehnten Jahr der Herrschaft des Kaisers Tiberius, als Pontius Pilatus Statthalter in Judäa war und Herodes Landesfürst von Galiläa und sein Bruder Philippus Landesfürst von Ituräa und der Landschaft Trachonitis und Lysanias Landesfürst von Abilene, als Hannas und Kaiphas Hohepriester waren, da geschah das Wort Gottes zu Johannes, dem Sohn des Zacharias, in der Wüste.
Und er kam in die ganze Gegend um den Jordan und predigte die Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden, wie geschrieben steht im Buch der Reden des Propheten Jesaja: »Es ist eine Stimme eines Predigers in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn und macht seine Steige eben! Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden; und was krumm ist, soll gerade werden, und was uneben ist, soll ebener Weg werden. Und alle Menschen werden den Heiland Gottes sehen.«
Da sprach Johannes zu der Menge, die hinausging, um sich von ihm taufen zu lassen: Ihr Schlangenbrut, wer hat denn euch gewiss gemacht, dass ihr dem künftigen Zorn entrinnen werdet? Seht zu, bringt rechtschaffene Früchte der Buße; und nehmt euch nicht vor zu sagen: Wir haben Abraham zum Vater. Denn ich sage euch: Gott kann dem Abraham aus diesen Steinen Kinder erwecken. Es ist schon die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt; jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.
Und die Menge fragte ihn und sprach: Was sollen wir denn tun?
Er antwortete und sprach zu ihnen: Wer zwei Hemden hat, der gebe dem, der keines hat; und wer zu essen hat, tue ebenso. Es kamen auch die Zöllner, um sich taufen zu lassen, und sprachen zu ihm: Meister, was sollen denn wir tun? Er sprach zu ihnen: Fordert nicht mehr, als euch vorgeschrieben ist!
Da fragten ihn auch die Soldaten und sprachen: Was sollen denn wir tun? Und er sprach zu ihnen: Tut niemandem Gewalt oder Unrecht und lasst euch genügen an eurem Sold!

Liebe Gemeinde!

(1) „Die Wüste lebt“ – das wissen wir spätestens seit Walt Disneys wunderbarem Film mit diesem Titel. Eindrucksvoll bringt der Film die überraschende Vielfalt des Lebens in der Wüste vor Augen. Wo auf den ersten Blick alles tot und lebensfeindlich erscheint, kommt bei näherem Hinsehen eine ganz unwahrscheinliche Lebensfülle in den Blick.

„Die Wüste lebt“ – so könnte auch die Überschrift über unseren heutigen Predigttext lauten. Alle möglichen Leute tummeln sich in der Wüste. Und nicht nur Leute tummeln sich dort, sogar Gott selbst ist in der Wüste gegenwärtig und teilt sich mit. Jedenfalls redet Gott in der Wüste zu Johannes dem Täufer: „Da geschah das Wort Gottes zu Johannes, dem Sohn des Zacharias, in der Wüste. So erzählt es uns Lukas.

Die Wüste lebt – nicht nur Walt Disneys Film, auch ein Blick in die Bibel führt uns die Lebendigkeit der Wüste vor. Wir brauchen nur an die Wüstenerfahrungen des Volkes Israel denken, als die Israeliten auf dem Zug durch die Wüste Manna und Wachteln zur Nahrung fanden, als sie mitten in der Wüste am Berg Sinai die zehn Gebote bekamen, als sie in der Wüste Oasen mit Quellen zum Trinken entdeckten und Gottesdienste feierten – alles in der Wüste, fernab von der Zivilisation und vom Trubel der Städte, den es auch damals schon gab.

(2) Die Wüste ist ein besonderer Ort. In der Wüste gelten die vertrauten Regeln und Gewissheiten unseres Alltags nicht. Das gilt nicht nur für die Landschaftsform Wüste, sondern auch für die symbolisch gemeinte Wüste, für die Wüste, die wir manchmal mitten im Leben erleiden und durchwandern müssen. Diese Wüsten mitten im Leben fallen sehr individuell, sehr persönlich aus. Für die eine ist es eine Krankheit, die sie oder einen nahen Menschen aus dem Alltag reißt. Für einen anderen zerbricht eine Beziehung, die bislang lebenswichtig war, eine Ehe, eine lange Freundschaft. Die persönliche Wüste erfahren wir auch dann, wenn sich unsere Pläne zerschlagen, wenn wir im Beruf, in der Schule zurückgeworfen werden und wir nicht das erreichen, was wir uns vorgenommen haben.

Die Wüste unterbricht die Lebenszusammenhänge der menschlichen Zivilisation, sie erzeugt eine Leere, die das Leben bedroht. Doch zugleich macht die Wüste auch für Überraschungen, für Neuanfänge für Veränderungen offen, mit denen man mitten in der Fülle und dem Trubel des Alltags gar nicht gerechnet hätte. Wahrscheinlich deshalb begegnet Gott den Israeliten so oft in der Wüste. Und auch von Jesus wissen wir, dass er nach seiner Taufe für vierzig Tage in die Wüste ging und den Versuchungen des Teufels trotzte. Offensichtlich ist es so: wer die Wüste überlebt, der kommt gestärkt und gekräftigt zurück. Wer die Wüste durchwandert hat, der ist gereinigt, der hat etwas zu sagen. Genau damit rechnete auch die Menge, die zu Johannes dem Täufer an den Jordan kam, zu einer Stelle, wo der Fluss durch die Wüste fließt und der fruchtbare Ufersaum des Jordans nur ganz schmal ist.

(3) Die Wüste, das kann der Ort der Besinnung und des Neubeginns sein. In der Wüste kann sich Gott offenbaren und dem Leben eine Wende geben. Doch nicht jeder, der in die Wüste geht, will wirklich den Neubeginn. Man kann auch einfach nur so, um des Kicks willen, in die Wüste ziehen. Modedesigner lassen ihre Models gelegentlich im Wüstensand posieren. Die Farbe des Sandes und die Formen der Dünen machen die Präsentation der Kollektion erst zum werbeträchtigen Event. Die Wüste und ihr Mythos leben. Sie geben der Mode den besonderen ästhetischen Kick.

Aber nicht nur die Modewelt, auch die Motorwelt weiß sich den Mythos der Wüste zu Nutze zu machen. Alljährlich rasen Motorräder, Autos und auch LKW-Trucks durch die Wüste Sahara. Die Rallye Paris-Dakar ist die ultimative Herausforderung für Mensch und Maschine. Man erprobt seine Grenzen in der Zone des Todes. Und wem es nicht bis in die Wüste Sahara reicht, der kann sich zur Not auch hierzulande mit dem Motorrad ins Gelände wagen, um ein wenig die Wüste zu spüren.

Und schließlich weiß auch die Geschäftswelt und das big business um den Wüstenmythos und setzt auf ihn. Manager werden zum Überlebenstraining in den Urwald, ins Gebirge oder eben in die Wüste geschickt und man erwartet, dass sie gestählt und voller Selbstbewusstsein von dort zurückkommen. Wer nach oben will, muss „durch die Wüste“, wie einst schon Kara Benemsi Effendi bei Karl May. Der echte Unternehmensführer ist ein Kämpfer, der jeder Bedrohung trotzt, und die Wüste ist sein Trainingslager.

Die Wüste ist also nicht nur der Ort der Umkehr und der Gottesbegegnung. Die Wüste kann auch ein Ort sein, wo sich Models räkeln oder Manager und Motorradfahrer sich quälen. Die Wüste bietet heute den ultimativen Kick, den vielen der Alltag in seiner Gewöhnlichkeit nicht mehr bieten kann. Die Wüste bietet den willkommenen Kontrast zum normalen Leben, den befristeten Ausstieg aus der Gesellschaft und dient so als dekorative Erweiterung des eigenen Horizonts, ohne dass sich im Leben wirklich etwas ändern muss. Nur die Stimmung wird für kurze Zeit besser, bis man den nächsten Kick braucht.

(4) Was wohl die Menschen suchten, die aus Jerusalem zu Johannes dem Täufer in die Wüste aufbrachen, um sich seine Predigt anzuhören? Immerhin war in die Wüste zu gehen schon damals angesagt. Große Scharen besonders frommer Sekten machten sich zu dieser Zeit auf den Weg in die Wüste, um dort in der Einsiedelei ein Gott wohlgefälliges Leben zu führen. Die Gemeinde von Qumran, die wir vor allem von Ausgrabungen kennen, zog sich aus den verruchten Städten zurück in die Wüste, im Bewusstsein ihrer besonderer Auserwählung und ihrer besonderer Reinheit. Sie verachteten die in den Städten und Dörfern Zurückgebliebenen und rechneten fest damit, dass Gott sie im Gericht vertilgen werde.

Die Wüste war schon damals vor fast 2000 Jahren ein besonders beliebter Weg, um sich aus der Gesellschaft zurückzuziehen und der eigenen Großartigkeit und Besonderheit zu frönen. Genau dieser Verdacht dürfte wohl auch dem Täufer Johannes gekommen sein, als er die Menschenmenge vor sich sah, die zu ihm in die Wüste gekommen war. „Sie suchen bei mir nur den besonderen religiösen Kick, um ihren faden Alltag interessanter zu machen“, wird er überlegt haben. „Na diesen Kick kann ich ihnen schon beschaffen. Die werden sich wundern“, dachte er. Und dann legte er los: „Ihr Schlangenbrut, wer hat euch denn gewiss gemacht, dass ihr dem künftigen Zorn entrinnen werdet?“ poltert der Täufer, und ich stelle mir vor, dass den Zuhörern dabei ganz schön die Ohren geklingelt haben. Nichts da mit „Liebe Gemeinde!“ oder mit „Liebe Schwestern und Brüder!“ Mit „Ihr Schlangenbrut!“, redet der Täufer seine Zuhörer an. An diesen Predigteinstieg hat man sich noch Jahrzehnte später genau erinnert, als Lukas sein Evangelium aufschrieb.

(5) „Ihr Schlangebrut!“ – so beginnt die Predigt des Täufers und dann macht er weiter: „Sagt doch nicht, dass ihr Abraham zu Vater habt. Ich sage euch: Gott kann dem Abraham aus diesen Steinen Kindern erwecken. Die Axt ist den Bäumen schon an die Wurzel gelegt; jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.“ Da werden die Zuhörer ganz schön zu schlucken gehabt haben. Das ganze Bewusstsein der Erwählung und der eigenen Besonderheit wird ihnen vom Täufer genommen. Es zählt nicht mehr die glorreiche religiöse Vergangenheit und die großen Verdienste der Ahnväter. Es zählt allein, ob man gute oder schlechte Früchte bringt, ob man Gutes tut oder nicht. Mit einer solchen Botschaft hatten die religiösen Wüstenpilger nicht gerechnet. Sie dachten, sie fänden in der Wüste zurück zu ihren religiösen Wurzeln, zurück zu Abraham, zum Sinai, zu Manna und Wachteln und nun wird an die religiösen Wurzeln die Axt gelegt und die missratenen Bäume werden abgehauen und ins Feuer geworfen.

Dass die Buße, die Umkehr so gründlich ausfallen sollte, hatten die Wüstenpilger nicht vermutet. Doch die Predigt verfehlt ihre Wirkung nicht. Die Zuhörer sind tatsächlich zerknirscht. Sie fragen ganz ernsthaft: „Was sollen wir denn tun?“ Und Johannes bleibt ihnen die Antwort nicht schuldig. Er gibt ihnen konkrete Anweisungen, zugeschnitten auf ihre jeweilige berufliche Situation.

(6) Zwei Dinge fallen bei diesen Anweisungen besonders auf. Das eine: Johannes will nicht, dass die Menschen in der Wüste bleiben. Er will, dass sie zurück in ihren Alltag gehen. Der Weg der Einsiedelei in der Wüste, den der Täufer selbst gegangen ist, ist nicht der Weg, den andere gehen sollen. Sie sollen die Umkehr vielmehr in ihrem normalen Leben vollziehen. Sie sollen nicht ausbrechen aus der Gesellschaft, sondern beharrlich an sich selbst arbeiten und auf diesem Weg Gottes Willen erfüllen.

Das zweite, was an der Predigt des Johannes auffällt, ist, dass seine Anweisungen für den Alltag gar nicht spektakulär sind: Vom eigenen Überfluss an Ärmere abgeben; andere in finanziellen Dingen nicht übers Ohr hauen; die eigene Macht und Stärke gegenüber Schwächeren nicht missbrauchen – so einfach sind die Regeln, die Johannes seinen Zuhörern mit auf den Weg gibt. Es sind schlicht und einfach die zehn Gebote und das Gebot der Nächstenliebe, die Johannes seinen Hörern zu halten aufträgt. Wer rechtschaffene Früchte der Buße bringen will, wer sein Leben im Einklang mit Gott führen will, der muss gar nichts Besonderes, gar nichts Außergewöhnliches tun: Rücksicht auf andere und großzügiges Abgeben, damit auch andere leben können – was die Zuhörer des Johannes in der Wüste gelernt haben, das hätten sie auch zuhause in ihrer Synagoge hören können, das kann man bis heute von jeder Kanzel hören. Die Gebote halten und Nächstenliebe üben – darauf kommt es Johannes dem Täufer an. Das ist der Inhalt seiner Predigt an die Wüstenpilger.

Der Weg „durch die Wüste“ führt die Pilger wieder zurück nach Hause in ihren Alltag. Die Flucht aus der Gesellschaft und aus dem normalen Leben wird ihnen nicht gestattet. Wir Heutigen können es uns also sparen, selbst in die Wüste zu ziehen. Uns genügt die Predigt des Johannes, der uns an das erinnert, was wir seit dem Konfirmandenunterricht wissen: Wenn wir unser Leben im Sinne Gottes führen wollen, müssen wir darauf Acht haben, dass wir den Geboten folgen und unseren Nächsten mit Liebe begegnen.

(7) Aber vermutlich verspüren nur wenige von uns hier überhaupt das Bedürfnis, in die Wüste zu gehen, und aus der Gesellschaft auszubrechen. Viel eher finden sich Menschen unter uns, die im symbolischen Sinn und ganz unfreiwillig in eine Wüste geraten sind. Pläne sind gescheitert, Beziehungen zerbrochen, Krankheit und Tod werfen ihre Schatten. Die Wüste als Zone des Todes hat sich bedrohlich mitten im Leben ausgebreitet und den Lebensmut ausgetrocknet. Wer unter uns in diesem Sinne in die Wüste geraten ist, der oder die sei daran erinnert, dass Gott einem gerade in der Wüste nahe sein kann. Die Wüste ist nicht nur die Zone des Todes. Die Wüste lebt, sie birgt die Möglichkeit für überraschende Wendungen und neues Leben da, wo man es nicht vermutet. Gerade in der Wüste, so lautet die Botschaft unseres Adventssonntags, kann einen Gott mit seinem Kommen überraschen. Denn der Weg Gottes zu den Menschen führt durch die Wüste:

„Es ist eine Stimme eines Predigers in der Wüste:
Bereitet den Weg des Herrn
und macht seine Steige eben!
Alle Täler sollen erhöht werden,
und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden;
und was krumm ist, soll gerade werden,
und was uneben ist, soll ebener Weg werden.
Und alle Menschen werden den Heiland Gottes sehen.“

Durch die Wüste gelangt Gott zu den Menschen. Die Wüste setzt die vertrauten Abläufe und Gewohnheiten außer Kraft. Die Erfahrung der Wüste kann uns offen machen für neue Worte und ungewohnte Begegnungen. Wo in der Wüste zunächst alles nur leblos und öde erscheint, da kann neues Leben keimen. Die Wüste lebt. Sie ist die Chance zu Umkehr und Erneuerung. Durch die Wüste kommt Gott uns nahe mit seiner Hilfe und seinem Trost. – Amen.

Prof. Dr. Christoph Dinkel
Gänsheidestraße 29
D – 70184 Stuttgart
E-Mail: christoph.dinkel@arcor.de

 


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