Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

3. Advent, 12. Dezember 2004
Predigt über
Lukas 3, 1-14, verfasst von Hans Joachim Schliep
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" Im fünfzehnten Jahr der Herrschaft des Kaisers Tiberius, als Pontius Pilatus Statthalter in Judäa war und Herodes Landesfürst von Galiläa und sein Bruder Philippus Landesfürst von Ituräa und der Landschaft Trachonitis und Lysanias Landesfürst von Abilene, als Hannas und Kaiphas Hohepriester waren, da geschah das Wort zu Johannes, dem Sohn des Zacharias, in der Wüste.

Und Johannes kam in die ganze Gegend um den Jordan und predigte die Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden, wie geschrieben steht im Buch der Reden des Propheten Jesaja (Jes 40,3-5): „Es ist eine Stimme eines Predigers in der Wüste: ‚Bereitet den Weg des Herrn und macht seine Steige eben! Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden; und was krumm ist, soll gerade werden, und was uneben ist, soll ebener Weg werden. Und alle Menschen werden den Heiland Gottes sehen.‘“

Da sprach Johannes zu der Menge, die hinausging, um sich von ihm taufen zu lassen: „Ihr Schlangenbrut, wer hat denn euch gewiß gemacht, dass ihr dem künftigen Zorn entrinnen werdet? Seht zu, bringt rechtschaffene Früchte der Buße; und nehmt euch nicht vor zu sagen: ‚Wir haben Abraham zum Vater.‘ Denn ich sage euch: Gott kann dem Abraham aus diesen Steinen Kinder erwecken. Es ist schon die Axt an die Wurzel gelegt; jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.“

Und die Menge fragte ihn und sprach: „Was sollen wir denn tun?“ Er antwortete und sprach zu ihnen: „Wer zwei Hemden hat, der gebe dem, der keines hat; und wer zu essen hat, tue ebenso.“ Es kamen auch die Zöllner, um sich taufen zu lassen, und sprachen zu ihm: „Meister, was sollen denn wir tun?“ Er sprach zu ihnen: „Fordert nicht mehr als euch vorgeschrieben ist!“ Da fragten ihn auch die Soldaten und sprachen: „Was sollen denn wir tun?“ Und er sprach zu ihnen: „Tut niemandem Gewalt oder Unrecht und laßt euch genügen an eurem Sold!“"

Liebe Gemeinde!

„In dem Jahr, in dem George W. Bush zum Präsidenten der USA wiedergewählt wurde, als im Irak noch Bomben auf Städte fielen, obwohl das Kriegsende längst ausgerufen worden war, als man bin Laden noch immer nicht gefunden hatte, als Yassir Arafat, Präsident der Palästinenser, einen öffentlichen Tod starb, als Horst Köhler vom Internationalen Währungsfonds weg zum deutschen Bundespräsidenten gewählt wurde und Gerhard Schröder seine Kanzlerschaft gegen Angela Merkel und Edmund Stoiber zugleich verteidigte, als Christian Wulff Ministerpräsident in Niedersachsen war und drastische Einsparungen durchsetzte, als Hartz IV bevorstand und als alle Welt zusah, wie Papst Johannes Paul II. durch die Parkinson’sche Krankheit immer mehr die Kontrolle über seinen Körper verlor, da geschah das Wort zu einem Mann, der hieß...“.

Würde Lukas, schriebe er sein Evangelium heute, es mit solchen Zeitangaben beginnen, in solche Zeitumstände einbetten? Würde er von jemandem von uns sprechen, der unser Nachbar hier in der St. Johanniskirche oder auf dem Kronsberg sein könnte? Warum fügt Lukas überhaupt die Jesus-Geschichte ein in das Weltgeschehen?

Lukas stellt das Evangelium von Jesus Christus und dessen Vorspiel als Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung dar. Für ihn hat das Evangelium eine politische Dimension. Was sind die Ziele und Maßstäbe von Politik? Wer hat die Macht? Wer regiert die Welt?

Lukas gibt dem Evangelium revolutionäre Züge. Erinnern wir uns, wie er schon Maria im ‚Magnificat‘ ankündigen läßt (Lk 1,52-54): „ Er stößt die Gewaltigen vom Thron / und erhebt die Niedrigen. / Die Hungrigen füllt er mit Gütern / und läßt die Reichen leer ausgehen. / Er gedenkt der Barmherzigkeit / und hilft seinem Diener Israel auf.“ Das beginnt mit Johannes dem Täufer. Sein Weg in die Wüste und seine „Taufe zur Buße“: Fanal zur Umkehr, letzte Chance zu einem Mentalitäts- und Politikwechsel für die Regierenden und für die Regierten.

Doch welche Politik hat Lukas hier vor Augen? Die Namen jener Männer, die er aufzählt, waren damals in aller Munde. Bei ihnen lag die Macht. Doch das Entscheidende, was die Welt wirklich wendet, geschieht förmlich an ihnen vorbei. Die Männer, die da auf der weltpolitischen Bühne stehen, sind lediglich Statisten. Die Regie führt ein anderer. Dessen Aufführung findet ganz woanders statt als in den Weltmetropolen oder den umkämpften Gebieten und Städten. Was am Rand geschieht, was entweder übersehen oder kurzerhand niedergemacht wird, das steht im Zentrum.

Lukas „schreibt“ Großes klein und Kleines groß. So lehrt er uns etwas sehr Menschliches, das über alles Politische hinausgeht: Auf uns, die wir alles in der Hand haben wollen, kommt es im Letzten gar nicht an. Ganz andere Kräfte, Kräfte eines ganz Anderen bestimmen unsere persönliche und unsere politische Geschichte. Mit Johannes dem Täufer kündigt sich eine Zukunft an, die alle gegenwärtigen Verhältnisse des Unrechts, der Gewalt und der Ausbeutung beendet. Diese Zukunft kommt einzig aus der Kraft Gottes. Auf sie allein gilt es zu achten, ihr sich anzuvertrauen, wenn es um Rettung und Heil geht. „Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.“ (Lk 2,12) Wahrlich kein Idyll. Gleichwohl, weil so menschlich, einfach, unmittelbar, eine Gegenkraft gegen alles Machtgehabe. Ein Gegenbild gegen alles Verwirrende, Uferlose und Heillose.

Ein Gegenbild, mehr noch: ein Anderland - das ist auch die „Wüste“: Sinnbild für das, was von einem ganz Anderen kommt und ganz ändern kann, für ein Jenseits des Lebens, ein Jenseits der Gesellschaft, ein Jenseits unseres Selbst. Es erreicht uns am Ort erhöhten Lebensrisikos, wo besondere Wachsamkeit und Aufmerksamkeit gefordert sind, wo es nichts Überflüssiges, Ablenkendes und keinen Schutz gibt, einzig und allein den Schutz Gottes. In der "Wüste" ist alles unmittelbar und elementar: Sand, Sonne und Wind - und die Suche nach Wasser. Nur ein Lebenswille, der sich aus anderen Quellen speist als aus eigener Willenskraft, läßt dich nicht verloren gehen in der grenzenlosen Weite von Erde und Himmel. Kein Haftpunkt für dein Auge, kein Zielort für deinen nächsten Schritt. Aber nachts! Wenn der Sternenhimmel sich wölbt über das weite Land, bietet selbst Unendlichkeit deinem Auge Fixpunkte. Dann erfaßt wohl auch die ausgebildetsten Großhirne und die wortmächtigsten Spottmäuler das Gefühl schlechthinnigen Angewiesenseins und unerreichbarer Erhabenheit.

Hier, in der „Wüste“, begegnet pure Unverfügbarkeit und Unverstelltheit. Worüber wäre in dieser Leere denn schon zu verfügen? Wessen könnte man sich hier denn bemächtigen? Unverstellt trifft dort auch der Mensch auf sich selbst und die Lebensmacht, aus der er kommt. So haben die Propheten aller Religionen, Gottschauer und Menschenkenner, dieses Anderland aufgesucht. Menschen in Wüsteneinsamkeit wurden zu Wegweisern der Menschheit.

Ebenso Johannes der Täufer, auch wenn er nur ein Vorläufer war. Um Menschen für das Unverfügbare und Unverstellte zu öffnen, hat er sich dorthin begeben und sie dorthin gerufen, wo nichts den Blick verstellt. Nur wo nichts mehr das Herz verführen, den Verstand umnebeln kann, wird man zurückfinden zu Grund, Mitte und Ziel des Lebens, zum Erhabenen, Heiligen. Darum geht es Johannes. Er ruft mit Worten des Propheten Jesaja: "'Bereitet den Weg des Herrn und macht seine Steige eben! Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden; und was krumm ist, soll gerade werden, und was uneben ist, soll ebener Weg werden. Und alle Menschen werden den Heiland Gottes sehen.‘"

„Bereitet den Weg des Herrn“ statt „ dem Herrn“. Lukas läßt Johannes das Prophetenwort neu sprechen: Gottes Weg ist schon bereitet, von dem, der unverfügbar bleibt, dessen Kommen nur erhofft, dann erbeten und daraufhin erwartet werden kann. Auf dem „Weg des Herrn“ kann der Mensch nur dafür sorgen, die Hindernisse zu beseitigen, mit denen er sich gegen Gottes Einzug in sein eigenes Herz meint wehren zu müssen. „Was krumm ist, soll gerade werden...“. Zu Recht hat Kant den Menschen ein „krummes Holz“ genannt. Also geht es beim Ebnen des Weges Gottes um etwas ganz anderes, als überall die Erde zu planieren und der Geometrie zum Sieg zu verhelfen, der gemäß die Gerade die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist. Wo ich aber „geradeaus“ lebe, „herzensgerade“, unverstellt durch Lüge und innere Abschottung, da räume ich auch Gott den Weg in mein Leben frei. Um Geradheit zwischen Menschen und zwischen Mensch und Gott - darum geht es Johannes.

Was bedeutet aber solche Geradheit, wenn Johannes‘ Rede in unseren Ohren wie die eines „Fundamentalisten“ klingt? Offenkundig gibt es für ihn nur einen Weg und nur die Geraden und die Krummen, woraus schnell wird: die Guten und die Bösen. Wäre das so, brauchten jedenfalls die, die sich im Sinne ihres Fundamentalismus auf der richtigen Seite wähnen, keine Umkehr, keine Buße. Johannes aber ruft zur Lebensbegradigung, damit die Barrikaden und Blockaden des eigenen Herzens erkannt und beseitigt werden. Dazu gehört die Anerkenntnis der Lebensrechte aller, wie wir unüberbietbar durch Jesus Christus wissen. Er sieht die Sonne über Gute und Böse aufgehen und den Regen über Gerechte und Ungerechte niedergehen und darin Gottes Himmel über alle sich wölben (Mt 5,45). Also besteht die neue Geradheit darin, statt alles plattzumachen, Unebenheiten hin- und die Vorläufigkeit des Lebens anzunehmen. Von daher ist keine Politik zu billigen, die auf dem Freund-Feind- oder dem Gerechte-Ungerechte-Schema aufbaut. Mit anderen Worten: Wer sich von jemandem wie Johannes dem Täufer zu Gott als seinem Lebensfundament gerufen weiß, wird seinen eigenen Fundamentalismus aufgeben. Erst recht wird er den Unterschied ernstnehmen: Johannes selbst war kein Gewalttäter, sondern ein Gewaltopfer.

An dieser Stelle füge ich einen Gedanken ein, der mehr das Persönliche betrifft. Manchen kommen Menschen wie Johannes der Täufer allzu selbstsicher, allzu fordernd vor. Ihnen fehlt das Fragende, Suchende. Aber auch das ist - bei aller Kompromißlosigkeit, mit der er auftritt - bei Johannes zu finden. Er begibt sich ja selbst in eine völlig ungesicherte, offene Position hinein. Und er lockt Menschen deshalb in die „Wüste“, um sie von dem abzubringen, was ihnen bisher als unhinterfragbar, unbezweifelbar und hundertprozentig sicher erschien. Er will sie aus dem Gefängnis einer Selbstzufriedenheit befreien, in dem sie nur sich selbst kennen - mehr nicht und nichts Größeres. Deshalb wäre es schon ein Gewinn, eine Öffnung für das kommende Heil, gelangte jemand zu einer Lebenshaltung, wie Günter Kunert sie in seinem Gedicht „Für mehr als mich“ ausdrückt:

"Ich bin ein Sucher / eines Weges. / Zu allem, was mehr ist / als / Stoffwechsel, / Blutkreislauf, / Nahrungsaufnahme, / Zellenzerfall. --- Ich bin ein Sucher / eines Weges, / der breiter ist / als ich. / Nicht zu schmal. / Kein Ein-Mann-Weg. / Aber auch keine / staubige, tausendmal / überlaufene Bahn. --- Ich bin ein Sucher / eines Weges. / Sucher eines Weges / für mehr / als mich."

Umso deutlicher stellt sich die Frage: Wie sind dann die radikalen Worte des Johannes zu verstehen, der die Menschen als „Schlangenbrut“ bezeichnet, „Früchte der Buße“ fordert und „die Axt“ denen „an die Wurzel gelegt“ und sie „ins Feuer geworfen“ sieht, die „nicht gute Frucht“ bringen? Das ist doch der scharfe, fordernde Ton von Revolutionären, von Menschen, die auf Eindeutigkeit und Veränderung drängen! Johannes denkt aber eben nicht an eine Zukunft, die der Mensch herbeiführt, sondern an eine Zukunft, die ganz von Gott kommt, ja, in der Gott selbst kommt. „Buße“ ist dann etwas anderes als Selbstkasteiung oder Leistung guter Werke. „Buße“ ist dann Umkehr in die Zukunft Gottes hinein, hoffnungsvolle Hinkehr zum verheißenen, unverbrüchlichen Heil. Dadurch wird das Leben im Hier und Jetzt zu einem bewußten Leben im Vorläufigen. Wer so lebt, wird sich weder mit der Welt abfinden, wie sie ist, noch sie auf einen Idealzustand hin umkrempeln, gleichsam neu erfinden wollen. „Früchte der Buße“, wie Johannes sie einfordert: Ja. Aber nicht als Bedingung und Leistung, um das Heil zu erwerben, sondern als Wirkung der Hoffnung auf Gottes Kommen, als Frucht des Heils, das vorab hineinscheint in die noch unerlöste Welt.

Damit ist nun wieder die Politik stark berührt. „Was sollen wir denn tun?“ Es ist bemerkenswert, wie alle Fragen an Johannes - die der Menge, die der Zöllner und die der Soldaten - sich auf den Umgang mit Besitz und Geld, also auf wirtschaftliche Verhältnisse beziehen. Geld und Gut gehören ja auch zum Heikelsten und Prekärsten im menschlichen Leben. Johannes‘ Antworten klingen überaus einfach, völlig selbstverständlich und naheliegend: "Wer zwei Hemden hat, der gebe dem, der keines hat; und wer zu essen hat, tue ebenso." Also: teilen und alle teilhaben lassen an den Lebensgaben. Und - im Blick auf die Zolleintreiber - niemanden wie eine Zitrone auspressen und in Armut stoßen. Und - im Blick auf die damalige Praxis von Soldaten - niemanden zu Wegen und zum Lastentragen zwingen oder, um den Sold aufzubessern, ausrauben und Beute machen. Das Wohl des Anderen ist niemals nur eine materielle, es ist zuerst eine spirituelle Frage: Denn es geht um meine Einstellung zu ihm, um meine Wertschätzung, um meine Bereitschaft, seine Lebensrechte zu fördern, seine Menschenwürde zu verteidigen. Das ist vor allem im Bereich der Wirtschaft nötig. Man denke nur an die wachsenden Gegensätze von Armen und Reichen, von Wohlhabenden und Hungernden, von denen, die Wasser im Überfluß haben, und denen, die bitter an Wassermangel leiden. Deshalb ist - neben der Familie - die „Wirtschaft“ der vorrangige Ort christlicher Verantwortung. Gerade hier geht es um den weiten Horizont des „Für mehr als mich“.

Und das soll "revolutionär" sein?! Es ist doch eigentlich naheliegend! Ja, Johannes setzt auf eine 'Politik des Naheliegenden'. Wo das Naheliegende weit weggeschoben wird, wo wenige immer mehr im Licht sind und viele immer mehr ins Dunkel geraten, ist die Heillosigkeit mit Händen zu greifen. Die Welt wird nicht heiler, wenn die 'Politik des Naheliegenden' in Gang kommt. Aber alle Welt wird doch erkennen können, wie das kommende Heil schon jetzt die Erde grüßt.

Jedes Adventslicht, jeder Blick, jedes Wort und jede Tat, die von diesem Licht erleuchtet sind, auch jedes Suchen nach dem Weg "für mehr als mich", ist solch ein Gruß. Amen.

Hans Joachim Schliep
Pastor am Ev. Kirchenzentrum Kronsberg
Sticksfeld 6, 30539 Hannover
Tel. + Fax: 0511 / 52 75 99
E-Mail: Hans-Joachim.Schliep@evlka.de

 


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