Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

1. Advent, 28. November 2004
Predigt über
Jeremia 23, 5-8, verfaßt von Wolfgang Vögele
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Der Predigttext für diesen Gottesdienst steht beim Propheten Jeremia (Jer 23,5-8): „Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, daß ich dem David einen gerechten Sproß erwecken will. Der soll ein König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird. Zu seiner Zeit soll Juda geholfen werden und Israel sicher wohnen. Und dies wird sein Name sein, mit dem man ihn nennen wird: »Der HERR unsere Gerechtigkeit«. Darum siehe, es wird die Zeit kommen, spricht der HERR, daß man nicht mehr sagen wird: »So wahr der HERR lebt, der die Israeliten aus Ägyptenland geführt hat!«, sondern: »So wahr der HERR lebt, der die Nachkommen des Hauses Israel herausgeführt und hergebracht hat aus dem Lande des Nordens und aus allen Landen, wohin er sie verstoßen hatte.« Und sie sollen in ihrem Lande wohnen.“

Liebe Schwestern und Brüder, liebe Gemeinde,
„Ich glaube an Gott.“
„Ich glaube an Gott.“ Mit diesem Satz fängt das Glaubensbekenntnis an, das wir vorhin gesprochen haben. In einem Gottesdienst oder in einer Predigt ist ein solcher Satz ganz selbstverständlich. „Ich glaube an Gott.“ In einer Fernsehtalkshow oder in einem Restaurantgespräch würde dieser Satz Verwunderung auslösen.

Glaube, Religion sind in dieser Gesellschaft zu etwas sehr Privatem geworden. Lieber nicht darüber sprechen! Lieber die anderen nicht damit belästigen! Lieber für sich behalten! Glaube aber braucht Öffentlichkeit. Und er braucht nicht nur Propheten, sondern auch Komponisten.

I. Glaubensmusik

„Je crois en Dieu.“
„Ich glaube an Gott.“ Das sagte der Komponist Olivier Messiaen(*) im Juni 1971 in Rotterdam in seiner Dankesrede, als ihm der Erasmus Preis verliehen worden war. Er sagte es vor einem großen Publikum aus Intellektuellen, Journalisten und Wissenschaftlern.

In seiner Erasmuspreis-Rede stellte sich Messiaen drei Fragen: was er über Glaube, was er über Liebe, was er über Hoffnung denke. Und die erste Frage nach dem Glauben beantwortete er mit den folgenden Sätzen: „Das ist schnell gesagt und alles ist damit gesagt, mit einem Schlag: Ich glaube an Gott (Je crois en Dieu.). Und weil ich an Gott glaube, glaube ich ebenso auch an die Heilige Dreieinigkeit sowie an den Heiligen Geist (…) und an den Sohn, das fleischgewordene Wort, Jesus Christus (…).“

Die, die an der Festveranstaltung teilnahmen, berichteten später, wie ungewöhnlich diese Sätze vor einem Publikum aus säkularen, aufgeklärten Intellektuellen wirkten. Hier bekannte sich einer zu seinem Glauben und zu seiner vom Glauben inspirierten Musik, ohne Rücksicht zu nehmen auf Zeitgeist, Konvention und Moden. „Je crois en Dieu“.

Und Messiaen sagte weiter, dem Sinn nach: Das, was ich glaube, bestimmt auch das, was ich liebe. Ich liebe die Zeit. Ich liebe die Farben. Ich liebe die Vögel. Weil er die Zeit liebt, ist in seiner Musik der Rhythmus von besonderer Bedeutung. Weil er die Farben liebt, sind Messiaens Stücke zarte Gewebe aus Klangfarben und Atmosphären.

Und Messiaen liebte die Vögel. Darum hören wir in fast jedem seiner Stücke Vogelstimmen. Darum stand auf seiner Visitenkarte: Olivier Messiaen. Ornithologe und Komponist.

Er sagte von sich: „Mein Glaube ist das große Drama meines Lebens. Ich bin ein gläubiger Mensch, darum singe ich von Gottes Wort für diejenigen, die nicht glauben. Lieder über Vögel schenke ich denen, die in Städten wohnen und nie Vogelstimmen gehört haben. Ich komponiere Rhythmen für die, die nur Militärmärsche oder Jazz kennen, ich male Farben für die, die keine Farben sehen.“

Glauben, Rhythmus, Farben, Vögel – das sind die vielfach variierten Bausteine von Messiaens Musik. Und der Glaube ist dabei der Grundton.

II. König der Reformen

Man könnte jetzt fragen: Vom wem hat eigentlich Messiaen gesprochen? Er hat doch nicht Olivier Messiaen gemeint? Er zielte nicht auf einen Komponisten. Wen meinte Jeremia, als er von einem „gerechten Sproß“ sprach? Wen meinte er, wenn er einen kommenden Friedenskönig ankündigte?

Jeremia hoffte auf einen Politiker, einen König. Jeremia war ganz und gar ein politischer Prophet. Regierungswechsel lautete das Stichwort: Mit einem neuen König, mit einem neuen Präsidenten, mit einem neuen Bundeskanzler verbinden sich große Hoffnungen. Alles wird er neu machen, neue Minister einsetzen, Reformen in Gang bringen, alte Hemmnisse und Hindernisse beseitigen, Gesetze novellieren, Verträge und Bündnisse schließen, kurz: er wird die Politik in Bewegung bringen. Diese neue Bewegung, der frische Wind wird begleitet von Reformprogrammen und Regierungserklärungen, Prognosen und Visionen, von Wahlversprechen und Zukunftskommissionen. Zwischen den Zeilen all dieser Texte kann jeder das Wasserzeichen, das gemeinsame Motto erkennen: In Zukunft werden wir es besser machen. Darauf hoffen wir.

Wer gewählt werden, wer an die Macht kommen will, wer an der Macht bleiben will, der bedient sich gern der Sprache der Hoffnung. Das gilt vom Bürokraten über den Berufspolitiker bis zum Visionär. Darin unterscheiden sich Bush, Kerry, Schröder nicht voneinander. Politik ist ein Wechsel auf die Zukunft. Siehe, es kommt die Zeit. Siehe, es kommen die blühenden Landschaften.

Hoffnungen aber können enttäuscht werden, und das macht viele mißtrauisch gegenüber Wahlversprechen, Reformvisionen und politischer Prophetie. Zu oft sind diejenigen, die nicht die Macht haben, schon hereingelegt worden.

Gegenüber Zukunftsvisionen ist darum politisch Nüchternheit angebracht. John Maynard Keynes, der große englische Wirtschaftsreformer aus den vierziger und fünfziger Jahren, hat einmal gesagt: „Wenn sich die Fakten ändern, dann ändere ich meine Meinung. Und was tun Sie?“ Diese Frage stellt er dem Reformer, dem Neuerer, der lieber illusionär an einer Idee oder Hoffnung festhält anstatt seine Pläne zu ändern, wenn es die Wirklichkeit nicht mehr hergibt. Politik hat zu tun mit der Unterscheidung zwischen dem, was nicht zu ändern ist, und dem, was gestaltet, geplant, reformiert werden kann. Die bedingungslose Anerkennung des Gegebenen formt noch keinen guten Politiker, höchstens einen Opportunisten.

Ohne die Hoffnung, ohne die Bereitschaft etwas zu ändern, ohne eine Vision, ist alles nichts. Das gilt für den König, von dem Jeremia sagt, daß er Gerechtigkeit und Frieden bringt, das gilt in unterschiedlichem Maß für heutige Politiker. Es kommt darauf an, ob sie Frieden stiften zwischen den Menschen und für Gerechtigkeit sorgen. Und es kommt auf die Hoffnung an, die sie vermitteln können, darauf, daß sie auch andere zu gerechtem und friedensstiftendem Handeln motivieren können.

Jeremia hofft auf einen erwählten, außergewöhnlichen Menschen, auf einen politischen Reformer. Messiaen war Komponist, nicht Politiker. Er war einer, der glaubte, aber er war keiner, der Glauben an sich von anderen verlangte. Er war einer, der Menschen durch seine Musik verändern wollte. Musikalisch besaß er etwas Besonderes, nicht Selbstverständliches, das die Menschen um ihn herum faszinierte und erstaunte. Wie kann einer so glauben in einer Moderne und in einem Europa, in dem viele mit Gott und der Kirche nichts mehr zu tun haben wollen? Wie kann einer das auch noch in allen Klangfarben hinausposaunen in die Welt? Weiß er nicht, dass er sich bei vielen mit seinem Glauben lächerlich macht? Messiaen war in seinem Glauben unbeirrbar. Und obwohl dieser Glaube in solchen sanften Worten und in so wunderbarer Musik daher kommt, liegt darin etwas Sperriges, Ungewöhnliches, Auffallendes, eine Dissonanz mit allen banalen Selbstverständlichkeiten des Alltags.

Jeremia hoffte auf einen politischen Reformer, der Neuerung bringt. Er sah um sich herum eine politische Misere, und diese brachte ihn zu einer besonderen Hoffnung. Jeremia stieß in ein Horn und sprach zu einer Zeit, in der das kleine Volk Israel zwischen den ägyptischen und babylonischen Großmächten zerrieben wurde. Es war ein Spielball dieser Großmächte, ein unbedeutender Fleck auf der Landkarte. Trotzdem hoffte Jeremia auf eine neue Politik. Indem er auf den neuen König hoffte, hoffte er zugleich auf Gott.

Es wäre ein Leichtes, nun über unsere gegenwärtige politische Situation zu reden. Aber die Gerechtigkeit, von der Jeremia spricht, ist zugleich politisch und religiös. Zukunft verbindet sich mit Gerechtigkeit und Hoffnung in einer Gestalt, die nicht nur ein politischer Reformer, sondern auf der das besondere Vertrauen Gottes liegt.

III. König Lamm

Beide, der Prophet Jeremia und der Komponist Messiaen, haben eine gemeinsame Botschaft. Sie sagen beide nicht: Ich muß mich selbst verwirklichen, um hoffen, glauben, vertrauen zu können. Sondern umgekehrt: Damit das geschieht, muß ein anderer kommen.

Jeremia hoffte auf einen politischen König der Gerechtigkeit. Messiaen hofft auf den Jesus von Nazareth, der ihn zum Glauben an Gott gebracht hat.

Und die ersten Christen fanden bei Jeremia, gerade an der Stelle unseres Predigttextes, eine Weissagung auf Jesus von Nazareth. Er war für sie der König der Gerechtigkeit. Er war für sie der gnädige Richter. Der Gesalbte Gottes. Messiaen konnte das mitglauben, und er fand in seiner Musik die richtigen Töne dafür.

Jesus von Nazareth war allerdings kein Politiker, obwohl für die Politik relevant ist, was er sagte. Jesus war der Erwartete – und doch nicht. Er hat Erwartungen erfüllt und sie gleichzeitig enttäuscht. Er war nicht der starke Mann, der plötzlich und mit wenigen machtvollen Aktionen alles richten konnte. Er war derjenige, der alles auf sich nahm. Später sagten die Schriftsteller der Bibel: Er war das Lamm. Er war der, der für andere tragen konnte. Er war und ist die Hoffnung. Warum? Das Lamm ist ein Symbol für Unschuld. Der Unschuldige nimmt die Schuld anderer auf sich. Das ist nicht mehr die Politik von Leistung und Gegenleistung. Sondern das ist unverdiente Barmherzigkeit und Gnade. Daran erinnern wir uns im Advent: Der gerechte König kommt.

Ein Komponist wie Messiaen hatte etwas davon verstanden: Seine Musik kann man hören wie eine Predigt, wie eine Predigt der Hoffnung, des Glaubens und der Liebe. Es ist eine tröstende, sensible, unaufdringliche Musik. Was sie so faszinierend macht, ist ihre Selbstvergessenheit. Ihr fehlt es an aller eitlen Selbstdarstellung. An keiner Stelle verweist sie auf den, der sie komponiert. An jeder Stelle verweist sie auf den, dem Messiaen glaubt und vertraut. An jeder Stelle verweist auf den, den wir im Advent erwarten, auf den wir hoffen und an den wir glauben. Amen.

(Nachbemerkung: Man kann den Organisten bitten, eines von Messiaens Stücken (vielleicht einen Satz aus „Les Corps Glorieux“) zu spielen. Das macht vieles von dem, was in der Predigt gesagt wird, noch anschaulicher.)

(*) Informationen über Olivier Messiaen finden sich unter
http://www.johann-p-reuter.de/Malerei/Les_Corps_Glorieux/Les_Corps_Glorieux.pdf

Dr. Wolfgang Vögele
Ev. Akademie zu Berlin
Charlottenstr. 53-54
10117 Berlin
voegele@eaberlin.de


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