Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Predigtreihe: Nachtgespräche, Herbst 2004
Gen 32, 23-33
Bernd Kappes
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Einige inhaltliche und sprachliche Anregungen verdanke ich Jürgen Ebach: Der Kampf am Jabboq, in: ders. (Hg.), Leget Anmut in das Geben, Gütersloh 2001, 13-43.

Liebe Gemeinde!
Eine schmerzhafte Geschichte
Eine Geschichte des Ringens um den Segen
Eine Geschichte voller
Verdrehungen
Verrenkungen
Verknotungen
wird uns erzählt.

Eine herausfordernde Erzählung
von einem Menschen,
der Spaltungen überwinden und einen Fluss überqueren will
Einen Spalt-Fluss
Einen Fluss der Spaltungen

Eine dunkle Erzählung
Vom Ringen in der Nacht
Vom verzweifelten Ringen in der Nacht
Vom einsamen Ringen in der Nacht
Das diesen Menschen innerlich und äußerlich verändert
Und ihm einen neuen Anfang möglich macht:
Ein neuer Name
Das Licht am Morgen
Die Morgenröte

Der Name des Menschen, des ringenden Menschen: Jakob
Der Name des Flusses, des Flusses der Spaltungen: Jabboq
Der Name, der neue Name für den verwandelten Jakob: Israel

1. Vor dem Jabboq
Es ist nicht das erste Mal, das Jakob den Jabboq überqueren muss:
Jakob der Lügner, der Betrüger
Der seinen Bruder um den väterlichen Segen betrogen hat
Und dann fliehen muss
Vor dem Zorn des Bruders
Vor dem Zorn des betrogenen Bruders
Jakob, der sich selbst vertreibt.

Und auf der Flucht zu seinem Onkel
Auf der Flucht in die Fremde
Auf der langen, einsamen Flucht in ein fremdes Land
Überquert Jakob zum ersten Mal den Jabboq
Den Spalt-Fluss
Den Fluss, der das Gebirge trennt und spaltet
Der zwei Länder trennt und spaltet
Der auch die Familie, die Brüder trennt und spaltet.

20 Jahre gibt es kein Zurück über den Jabboq.
20 Jahre können Trennungen nicht überwunden, Verletzungen nicht geheilt werden.
20 Jahre bleibt der Jabboq ein Spalt-Fluss, ein Fluss der Spaltungen.

Jahre in der Fremde
in denen Jakob seinem Onkel Laban dient
für ihn arbeitet:
sieben Jahre vermeintlich um Rahel
im Ergebnis aber um Lea
dann
nach dem Betrug
weitere sieben Jahre
nun wirklich um Rahel
und dann
weitere Jahre, in denen er
betrogen und betrügend
reich wird an Herden.

Schließlich fasst Jakob einen Entschluss:
Er will zurück kehren
Den Fluss der tiefen Spaltungen überwinden
Esau, seinem Bruder, begegnen
Sich mit ihm versöhnen.
Endlich.
Sich endlich mit ihm versöhnen.

Jakob hat Angst.
Angst vor seinem Bruder
Vor dem Zorn seines Bruders Esau.
Jakob betet zu Gott:
„Rette mich doch aus der Hand meines Bruders,
aus der Hand Esaus,
denn ich fürchte mich vor ihm.“

2. Am Jabboq
Jakob betet zu Gott.
Wird sein Gebet erhört?
Wir werden sehen -
Und hören, was uns im 1. Buch Mose im 32. Kapitel erzählt wird:

Lesung: Gen 32, 23-32 (33)

Jakob bleibt allein am Jabboq zurück.
Einsam in der Mitte der Nacht.
Einsam in der Mitte der Spaltungen
Im Zentrum der Spaltungen – am Jabboq.

2.1. Um den Segen ringen
Doch plötzlich ist er nicht mehr allein:
„Ein Mann“ taucht auf
Aus dem Nichts
Beziehungsweise: aus dem Dunkel der Nacht
und ringt mit ihm.

Mitten in der Nacht
Ein langer Kampf des Ringens und Umschlingens
Ein Atem und Kräfte raubender Kampf des Verknotens und Verdrehens
Und schließlich: ein leidvoller Kampf des Verrenkens:
Jakob verrenkt sich das Hüftgelenk
Das Gelenk wird ausgekugelt
Ein stechender Schmerz
Eine schmerzhafte Lähmung.

Doch Jakob hält das aus, er gibt nicht auf
Kämpft weiter mit dem Mann
Kämpft jetzt mit diesem Mann – um den Segen:
Jakob ringt um den Segen:
Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.
Ich lasse dich erst los, wenn du mich gesegnet hast – vorher nicht!
Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.

Kann man um den Segen ringen?
Frage ich mich
Und frage ich Sie, liebe Gemeinde:
Kann man um den Segen ringen?

Ist der Segen nicht etwas Unverfügbares?
Ist es nicht Gottes Sache,
ob überhaupt und wann und wen und wie er segnet?
Um den Segen Gottes beten und bitten, ja das schon,
aber um den Segen ringen,
den Segen fordern und einfordern
einklagen
den Segen herbeizwingen wollen?
Ist das nicht zu vermessen
Ein Versuch, das Unverfügbare verfügbar zu machen?

Kann man um den Segen ringen?
Kein Zweifel: Jakob tut es!
„Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“
Kein Zweifel: Wir tun es auch! Immer wieder.
Auch wir mühen uns um den Segen
um das Leben,
um die Fülle des Lebens
um das Leben in Fülle
oft wie Jakob einsam und allein,
oft auch in der Mitte der Nacht
oft auch am Jabboq,
an den Übergängen und Umbrüchen
in der Mitte von Spaltungen und Trennungen

Wir suchen den Segen
gelingendes Leben
Heil und Heilung,
wir ringen darum
dass jemand unsere Verletzungen heilt
dass wir fähig werden, gestörte und zerstörte Beziehungen wieder aufzubauen
dass wir in unseren Traurigkeiten getröstet werden.

Wir ringen um den Segen
Wenn die Enttäuschungen und Demütigungen mächtig und bestimmend erscheinen
Wenn das Leben uns als Fluch begegnet.

Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.

Menschen mühen sich um den Segen
Und viele mühen sich
und müssen sich mühen und abmühen
um den Segen in den grundlegendsten, elementarsten Formen:
Ein Dach über dem Kopf
Sauberes Wasser
Ausreichende und gute Ernährung
Zugang zu grundlegender Bildung und Ausbildung
Einen Arbeitsplatz
Gut leben statt viel haben
Ein Leben in Freiheit und Würde.

„Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“

Können wir um den Segen ringen?
Ja, wir können um den Segen ringen,
wir müssen es tun,
und wir tun es ständig.
Bzw. anders und zugespitzter gesagt und gefragt:
Was anderes ist Leben - als ein Ringen um den Segen?
Was anderes - als der Wunsch und das Bemühen, dass das Leben gelingen möge
Unser Leben,
das Leben, derer die uns nahe sind
das Leben aller Menschen und Geschöpfe?

Was anderes ist Leben – als Suche und Sehnsucht nach Segen?
Und so ringen wir - Wie Jakob -
mit „dem Mann“:
Mit Gott, von dem Leben und Segen ausgehen
Mit anderen Menschen, die uns Segen verweigern und entziehen - oder uns zum Segen werden
Und oft kämpfen wir auch mit uns selbst, wenn wir uns selbst oder anderen beim Fließen der Segenskräfte im Wege stehen.
„Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“
2.2. Segen – aber nicht zu unseren Bedingungen
Jakob kämpft um den Segen
Mit „dem Mann“
Mit Gott,
mit anderen,
mit sich selbst.

Jakob kämpft mit Gott um den Segen –
Und – das ist eigentlich überraschend – er gewinnt den Kampf!

Jakob gewinnt den Kampf um den Segen -
Aber ist es ein Kampf und ein Sieg
Der ihn als Krüppel zurück lässt!
Der Jakob, der schließlich und endlich als ein Gesegneter
Den Fluss der Spaltungen hinter sich lässt,
ist ein geschlagener und hinkender Jakob!

Wir können und müssen um den Segen ringen.
Aber – und das ist die zweite tiefe Wahrheit dieser Geschichte -
wenn der Segen kommt
Kommt er mit Sicherheit nicht zu unseren eigenen Bedingungen!

Der Segen für Jakob
Ist kein Friede-Freude-Eierkuchen Segen.
Es ist ein unter Schmerzen errungener Segen
Es ist ein Segen
Nach einem einsamen und verzweifelten Kampf in der Dunkelheit des Lebens,
nach einem verschlungenen Ringen.
Ein Segen, der an Verdrehungen und schmerzhaften Verrenkungen nicht einfach vorbei geht.
Ein Segen, der
- anders als wir uns das denken und wünschen -
nicht glatt und einfach daher kommt.
Der gesegnete Jakob ist der humpelnde und hinkende Jakob.

Es wird uns einiges zugemutet, liebe Gemeinde,
und es ist nicht leicht, die Spannung auszuhalten:
Ich verstehe in dieser Geschichte,
dass der Segen, wenn er kommt, nicht einfach unseren Erwartungen gemäß kommt,
dass unser beschädigtes, unser immer unvollkommenes und unvollendetes Leben gesegnetes Leben ist.
Aber ich möchte auch festhalten
an meiner Hoffnung darauf, dass das Hinken, die Lebensminderung, die Verletzung nicht das letzte Wort behält,
an meiner Hoffnung auf ein Leben ohne Beschädigung, ohne Tränen und Geschrei.
Die Spannung bleibt.
Hinkender, gesegneter Jakob.

3. Nach dem Jabboq
Am nächsten Morgen
Nach der durchkämpften Nacht
Und nach der Überquerung des Spalt-Flusses
Ist Jakob ein anderer.
Er hat sogar einen neuen Namen bekommen: Israel/Gottesstreiter.

Jakob ist ein anderer:
„Ihm geht die Sonne auf,“
heißt es in der Erzählung.
Die Rabbinen, die jüdischen Lehrer, ergänzen in ihrer Deutung:
„nach 20 Jahren Dunkelheit“.
Nach 20 Jahren des Gespalten- und Getrennt-Seins
Geht ihm die Sonne auf
Und auch die tiefsten Spaltungen können nun überwunden werden:
Hinkend und humpelnd tritt er vor seinen Bruder Esau.
Hinkend und humpelnd und sich siebenmal niederwerfend.
Demut ist an die Stelle des Hochmuts getreten.
Sehnsucht nach Versöhnung an die Stelle von List und Betrug.
Fast möchte man sagen: Jakob hat sich eine andere Gangart zugelegt:
Bzw.: Es war offenbar nötig, etwas auszurenken,
um etwas anderes einzurenken.
Zögernd, Hinkend und humpelnd, sich niederwerfend –
Zugleich aber paradoxerweise aufrecht,
vielleicht zum ersten Mal aufrecht
Begegnet er seinem Bruder
Und teilt Geschenke und Segen mit ihm:
Und es heißt:
„Esau aber lief ihm entgegen
und herzte ihn und fiel ihm um den Hals und küsste ihn,
und sie weinten.“
Kein Hass
Und auch kein Spott über den hinkenden Menschen-Bruder,
sondern entspannende, Spannung und Spaltung lösende Tränen
und geteilter Segen.

Um Leben und Segen ringend,
Beschädigt und verletzt
Hinkend und humpelnd,
aber gesegnet
und Segen weiter gebend.

Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.

Amen.

Und der Friede Gottes,
der weiter reicht und tiefer geht
als all unser menschliches Verstehen
bewahre unsere Herzen und unsere Sinne
- er bewahre uns ganz -
auf dem Weg Jesu. Amen.

Pfr. Bernd Kappes
Graf-von-Stauffenberg-Str. 63
35037 Marburg
d: 06421/167255
p: 06421/167256
Kappes@ekmr.de


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