Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Predigtreihe zur christlichen Erziehung, Sommer 2004
„Wenn Kinder nach dem Tod fragen“
Christian Berndt
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Liebe Schwestern und Brüder!

Was ist eigentlich tot sein?
Wann stirbt man?
Wie viel Asche ist in der Urne?
Wo ist die tote Tante jetzt?
Und warum kommt man dann eigentlich in die Erde?

So fragt mich meine Tochter Allison seit letztem Mittwoch, als wir uns auf dem Horstfriedhof von meiner Großtante verabschiedet haben.

Alle Kinder fragen so. Wenn ein Vogel gegen die Scheibe fliegt. Wenn die Oma stirbt. Wenn sie Bilder von Toten oder einer Beerdigung in der Zeitung sehen. Dann fragen Kinder immer wieder nach Sterben und Tod und was danach kommt.

Solche Fragen sind die Nagelprobe für unsere christliche Erziehung und sie sind die Nagelprobe für unseren Glauben. Was können wir unseren Kindern und Patenkindern, unseren Enkeln, Nichten und Neffen sagen über den Tod? Wie können wir sie auf Kummer und Schmerz vorbereiten? Was bleibt für uns an Hoffnung über den Tod hinaus?

Oder sollten wir die Kinder nicht eher schonen? Warum musste ich überhaupt meine 5-jährige Tochter mit zu einer Urnenbeisetzung nehmen? Hätte ich ihr das nicht besser ersparen sollen? Viele Erwachsene meinen, es sei das beste für Kinder, dass sie so lange wie möglich nichts von Sterben und Tod mitbekommen. Da zieht die Mutter ihr Kind lieber auf die andere Straßenseite, um nicht bei dem wolligen Ding vorbei zu gehen, das da am Straßenrand liegt. Da sagt der Vater: Oma ist für lange Zeit „verreist“. Drei Tage später „darf“ dann das Kind zu Nachbarn, während die Eltern einen „Ausflug“ mitten in der Woche machen.

Ich bin mir aber sicher: Kinder spüren, dass da etwas nicht stimmt. Sie spüren die Unsicherheit und Verlegenheit der Erwachsenen. Und sie spüren, wenn sie nicht verschont, sondern angeschwindelt und ausgeschlossen werden. Wenn wir trauern, dann bekommen Kinder das mit. Vielleicht nicht durch unsere Worte, aber durch unser Verhalten, unsere Stimmung. Wenn wir dann nicht auf sie eingehen, nicht ihre Fragen beantworten, dann fühlen sie sich allein gelassen – und sie malen sich vielleicht sogar in ihrer Fantasie schreckliche Sachen aus. Kinder können z.B. das Schweigen der Erwachsenen auf sich beziehen und denken: „Was habe ich bloß gemacht, dass meine Eltern nicht mit mir reden, dass sie mich nicht dabei haben wollen?“ Oder sie versuchen nun ihrerseits ihre Eltern zu schonen, weil sie merken, wie die Eltern auf Zehenspitzen gehen und alles Schwere und Traurige vermeiden. Auch vermeintlich „schonende“ Antworten können für ein Kind zum Problem werden. So wird immer wieder mal gesagt: „Opa ist eingeschlafen.“ Das soll die Angst vor dem Tod verringern. Aber eine solche Antwort kann genau das Gegenteil verursachen: Das Kind kann nämlich panische Angst vor dem nächtlichen Einschlafen haben, denn das könnte dann ja so sein wie beim Opa.
Wenn Kinder „geschont“ werden, dann lernen sie nicht, tragfähige Vorstellungen von Sterben und Tod zu entwickeln und mitzuteilen. Und sie lernen nicht, andere Menschen an der eigenen Trauer teilnehmen zu lassen und damit Trauer zu teilen. Doch wie wir Erwachsene brauchen Kinder andere Menschen, um mit der oft harten Wahrheit von Schmerz, Sterben und Tod umgehen zu können. Auf lange Sicht sind sie besser dran, wenn sie nicht vor den Stürmen des Lebens „geschützt“, sondern in ihnen gestärkt und begleitet worden sind – und das natürlich behutsam, aber eben nicht alles Schwere vermeidend.

Doch wie gehen wir nun auf Kinder ein, wenn sie die schweren Fragen stellen nach dem Sterben, dem Tod und dem, was danach kommt? Ich habe kein Patentrezept, das für alle Fälle gleich anzuwenden wäre. Jedes Kind, jede Mutter, jeder Opa, jede Familiensituation ist anders. Was wir brauchen, ist unser je eigenes Konzept. Dieses richtet sich im Wesentlichen nach einer doppelten Frage: 1. Was braucht mein Kind? Und 2. Wie kann und will ich auf die Fragen reagieren?

Zur ersten Frage: Was braucht mein Kind?
Kinder wollen zunächst in ihrem Fragen ernst genommen werden. Sterben und Tod – auch das wollen sie be-greifen. Und da gehen sie ganz naiv ran, fragen z.B. was ein Toter im Sarg anhat und ob ihn dort nicht die Würmer fressen werden. Kinder werden durch die Begegnung mit dem Tod in ihrer Welt verunsichert – wie wir Erwachsene auch. Aber Erwachsene schweigen dann oft lieber, bleiben in ihren eigenen Gedanken. Kinder können jedoch viele Fragen stellen, um diese Verunsicherung zu mildern. Ja, vor allem, wenn sie jünger sind, stellen sie immer wieder dieselben Fragen, um sich zu vergewissern, dass es wirklich so ist, wie ihnen gesagt wird.
Bei solchen Fragen spielen das Alter und die Entwicklung eines Kindes eine große Rolle. Meist wird gesagt: Kinder bis zu 3 Jahren haben noch keine Vorstellung vom Tod, sie leben in der Gegenwart. Das ändert sich mit zunehmendem Alter. Der Tod wird immer reeller empfunden. In der Jugendzeit, ab ungefähr 13 Jahren, da wird der Tod dann als unausweichliche und unwiderrufliche Wahrheit verstanden. Je älter ein Kind ist, desto stärker wird das sachliche Interesse am Tod und desto stärker werden sie sich auch ihrer eigenen Gefühle bewusst. Dementsprechend werden sich auch die Fragen verändern – und die Antworten, die sie brauchen.

Und noch etwas ist wichtig: Wenn Kinder jemand Nahestehendes verlieren, dann trauern sie, aber sie trauern anders als wir Ältere. Sie verarbeiten vieles spielerisch und tröpfchenweise. So kann ein Kind, das gerade seinen Vater verloren hat, plötzlich unbedingt mit den Freunden Fußball spielen wollen. Uns kann solch ein Verhalten völlig pietätlos und unangemessen vorkommen (Was sollen denn da die Nachbarn denken?) Aber, so behaupte ich, das ist o.k. Kinder wissen sich in ihrer Trauer zu schützen. Und sie wissen meistens ganz gut, was sie selber brauchen. Deswegen gehen sie zwischendurch auch spielen und ... deswegen fragen sie ja auch uns Ältere immer wieder schwere Fragen.

Es gibt noch viele weitere Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie der Kinder und viele Tipps und Ratschläge für die jeweiligen Altersstufen. Entscheidend ist jedoch für mich die Erfahrung, dass Kinder in der Regel sehr gut spüren, was ihnen gut tut. Wir können ihnen das Tempo überlassen und uns ganz nach ihnen, ihren Fragen, ihrem Wunsch nach Nähe oder Distanz richten. Nur „schonen“ sollten wir sie nicht und damit der Wirklichkeit des Todes ausweichen. Kinder brauchen, wenn jemand im Sterben liegt, so bald wie möglich Informationen, sie sollten so weit wie möglich in wichtige Rituale wie die Beerdigung einbezogen werden und sie sollten körperliche Nähe und Zeit bekommen.

Nun zur 2. Frage: Wie kann und will ich auf die Fragen eines Kindes reagieren?
Viele Fragen führen uns an die Grenzen unserer Möglichkeiten. „Wo ist Oma jetzt?“ „Wie ist das eigentlich, tot sein?“ Bei solchen Fragen müssen wir Farbe bekennen: Was glauben wir eigentlich, wo die Oma jetzt ist? Was glauben wir, wie das ist, wenn man tot ist. ... Und was machen wir, wenn wir selber keine Antwort wissen?

Ich möchte dazu ein kurzes Kapitel aus einem Kinderbuch vorlesen. Das Buch heißt: „Abschied von Tante Sofia“, das Kapitel: „Wo sind die Toten?“.
Wo sind die Toten?
"Mein Vater sagt, mit dem Tod ist alles zu Ende."
Fabian sieht Tante Sofia fragend an.
"Das glaube ich nicht, Fabian. Ich glaube, dass die Verstorbenen bei Gott sind." Tante Sofia schweigt einen Augenblick, dann fügt sie hinzu. "Und dass Gott ihnen ein neues Leben gibt."
Fabian schüttelt den Kopf. "Ein neues Leben? Wie soll das gehen?"
Tante Sofia lächelt. "Das weiß ich nicht", antwortet sie. "Ich brauche es auch nicht zu wissen. Für mich darf es ruhig ein Geheimnis bleiben."
Dann blickt sie zu dem Blumenstrauß neben Simons Foto. "Vielleicht ist es wie bei der kleinen grünen Raupe. Sie weiß auch nicht, dass sie in ihrem späteren Leben ein Schmetterling wird. Und doch ist es wahr."

"Manche Menschen glauben, Tote kommen in den Himmel." Franziska blickt zweifelnd durch das Fens­ter hinauf zu den Wolken.
Tante Sofia steht vom Tisch auf und geht zu Franzis­ka. "Sie meinen nicht diesen Himmel, nicht den Wol­kenhimmel, Franziska. Sie meinen Gottes Himmel.
Der Ort, an dem Gott ist."
"Und wo ist dieser Gottes-Himmel?" Fabian und Franziska fragen es gleichzeitig.
Tante Sofia denkt lange nach. "Gottes Himmel ist da, wo Gott ist. Und Gott ist überall. Besonders dort, wo die Menschen sich lieben. In ihren Herzen ist Gott."
"So wie dein Nachbar Simon in deinem Herzen ist?", fragt Fabian.
Tante Sofia lächelt. "Ja ", sagt sie. "Das weiß ich ge­wiss. Die Erinnerung an Nachbar Simon lebt in mei­nem Herzen, so wie auch Gott in meinem Herzen lebt."

Tante Sofia ist ein Beispiel, wie auf die Fragen von Kindern eingegangen werden kann. Vermutlich würdet ihr und würde auch ich anders reagieren und antworten. Mich hat allerdings an der Tante Sofia beeindruckt, dass sie zugibt, „Das weiß ich nicht.“. Und sie stützt sich bei ihren Aussagen auf Vorstellungen aus der Bibel. Solche Vorstellungen können wir unseren Kindern und Kindeskindern mit ins Leben geben. Wir brauchen nicht sprachlos zu bleiben – selbst wenn wir nicht alles wissen.

In der Bibel gibt es zahlreiche Vorstellungen davon, wie man mit dem Tod umgehen kann. So können z.B. die Psalmen helfen, Gefühle wie Wut, Ärger, Hilflosigkeit und Trauer auszudrücken.
Und in der Bibel gibt es zahlreiche Vorstellungen davon, was nach dem Tod kommt. Viele dieser Vorstellungen sind in die Lieder aus unserem Gesangbuch eingeflossen. Als ich für unseren Gottesdienst die Lieder ausgesucht habe, merkte ich erst, wie viele dieser Lieder gegen den Tod ansingen und Bilder vom Leben nach dem Tod malen, ungefähr jedes 5. oder gar 4. Ich möchte hier nur fünf ausgeprägte Vorstellungen aus der Bibel und unserem Liedschatz nennen. Das Leben nach dem Tod wird so beschrieben, dass wir dann sein werden: im Himmel, bei Gott, in Gottes Händen, im Hause Gottes mit den vielen Wohnungen oder auferstanden mit neuem Körper. Details werden nicht genannt. Fragen bleiben offen. Aber immer wird betont: Der Tod hat nicht alle Macht, sondern Gott. Auf Gott können wir uns verlassen. Bei ihm sind wir gut aufgehoben.
So können wir unseren Kindern noch mehr mitgeben in ihrem Fragen: Die Hoffnung auf ein Leben, auf eine Zukunft über den Tod hinaus. So wie Jesus seinen Freunden und Jüngern die Hoffnung gab: In meines Vaters Haus, da sind viele Wohnungen – und die sind für euch bestimmt.
Der Himmel, die vielen Wohnungen bei Gott - das sind Bilder vom Leben nach dem Tod, die von der Angst des Todes befreien können und die auch mitwachsen können. Ein kleines Kind mag den Himmel, von dem die Bibel spricht, noch mit dem blauen Himmel über uns gleichsetzen. Wenn es älter wird, wird es das hinterfragen – aber dann kann bei demselben Bild die Bedeutung erweitert werden, so wie es die Tante Sofia tat: „Gottes Himmel ist überall. Und Gott ist überall. Besonders dort, wo die Menschen sich lieben.“
Kinder brauchen wie wir Bilder und Vorstellungen von einem Leben nach dem Tod, von einem Ort für die Toten, wo diese weiterleben können. Wenn wir selber solche Vorstellungen haben, können wir sie auch weitergeben.
Und weitergeben können wir auch unsere Rituale: Die Aussegnung eines Verstorbenen, die Abschiednahme am Sarg, die Beerdigung mit dem Einlassen von Sarg oder Urne, das Essen nach der Trauerfeier, der Gottesdienst nach der Beerdigung, der Gottesdienst am Ewigkeitssonntag. Solche Rituale bieten so etwas wie ein Geländer über die Schlucht der Trauer. Für Kinder genauso wie für Erwachsene. So wollen auch Kinder wissen, wo der Tote nun geblieben ist – selbst wenn er zugleich für sie im Himmel oder bei Gott ist.
Auch weitere, eigene Rituale können entwickelt werden, damit Kinder ihre Trauer ganz individuell und auch ohne Worte ausdrücken können: der Gang zum Grab mit Blumen, das Anzünden einer Kerze, die Lieblingsgeschichten von Oma oder Opa lesen.
Es gibt viele Möglichkeiten, auf die Fragen und Bedürfnisse von Kindern einzugehen. Dazu zählen natürlich auch die vielen Kinderbücher, die es mittlerweile zum Thema Sterben und Tod gibt. Außerdem kann sich jeder Rat holen in Büchern und bei den Menschen, die sich durch ihre private oder berufliche Erfahrung besonders gut auskennen.
Wenn Kinder nach dem Tod fragen, dann kommen wir oft an unsere Grenzen. Aber auch Kinder wollen und müssen diese Grenzen für sich entdecken und abstecken. Wenn wir den Tod totschweigen, geben wir ihm eine unheimliche Macht über uns und unsere Kinder. Wenn wir jedoch vom Tod und vom Leben nach dem Tod offen sprechen, dann nehmen wir dem Tod seine Macht, stärken unsere Kinder und leben unseren Glauben.

Amen

Christian Berndt
Pastor der Markusgemeinde
Schwinger Ackerweg 6 B, 21684 Stade
Christian.Berndt@evlka.de


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