Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Predigtreihe zur christlichen Erziehung, Sommer 2004
„Müssen Kinder wieder mehr gehorchen?“
Christian Berndt
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Liebe Schwestern und Brüder,

eine Szene aus dem Supermarkt: Die 5-jährige Julia will unbedingt ein Überraschungsei haben. Sie steht mit ihrer Mutter kurz vor der Kasse und schreit, was das Zeug hält. Die Mutter versucht sie zu beruhigen, aber Julia schreit nur noch mehr und wirft sich auf den Boden ...
Eine andere Szene: Der 17-jährige Michael kommt um vier Uhr morgens von der Disco nach Hause. Als er am Schlafzimmer der Eltern vorbeischleicht, hört er seinen Vater: „Was kommst du jetzt erst nach Hause? Hatten wir nicht gesagt: Höchstens bis Mitternacht! Was hast du dir eigentlich dabei gedacht ...“

Alles kein Problem. So kann man denken. Soll die Mutter Julia doch das Überraschungsei kaufen, dann ist wenigstens Ruhe. Was kostet schon so ein Ü-Ei. Wenn man ein Kind liebt, schenkt man auch. Und Michael? Was soll der Aufstand? Junge Menschen müssen ihre Erfahrungen selbst machen. Und vier Stunden über die Zeit muss doch bei aller Liebe mal drin sein. Das Kind ist wichtig, nicht die Sorgen der Eltern.
So oder ähnlich würden jetzt Anhänger einer antiautoritären Erziehung reagieren. Hier lassen die Eltern ihren Kindern alles durchgehen, bestehen nicht auf die Einhaltung von Regeln und Verabredungen. Doch das Leben holt diese Eltern und Kinder ein. Wenn Kinder alles bekommen, dann sind sie deswegen nicht zufrieden. Nein, dann wollen sie dennoch immer mehr – auch von anderen und nicht nur Überraschungseier oder längere Ausgehzeiten. Wenn Kindern keine Grenzen gesetzt und diese durchgehalten werden, dann haben die Kinder die Kontrolle über ihre Eltern, nicht andersherum.

Es gibt natürlich noch weitere Möglichkeiten, auf Julia und Michael zu reagieren. Eine heißt: „Kinder müssen wieder mehr gehorchen!“ So hörte ich es erst vorgestern wieder bei einem Geburtstagsbesuch. Früher, so war die einhellige Meinung, früher sei das ganz anders gewesen, da hätten die Kinder noch gespurt. Doch heute ...? Heute beklagen sich Unmengen von gestressten Eltern selbst über ihre Kinder, die partout nicht das tun wollen, was sie tun sollen. Und sie fragen: Wie kriegen wir das hin, dass unser Kind gehorcht, ohne dass wir wahnsinnig werden?
Bei dem Geburtstagsbesuch kam das Gespräch schnell auf eine altbekannte Lösung: „Ich wurde damals viermal in der Woche verdroschen“, so erzählte ein 60-Jähriger von der autoritären Erziehung seiner Eltern. Unterschiedliche Erfahrungen und Auffassungen zum Thema Gehorsam gab es in der Runde nur zur Wahl der Mittel: Stock, Seil, Riemen oder eine Art Peitsche.

Das weitere Gespräch zeigte aber: Mit den vielen Schlägen in der Kindheit und Jugend wurde zugleich auch die Beziehung zwischen Vater und Sohn zerschlagen. Der Vater wollte die absolute Kontrolle über seine Kinder. Er bekam den Gehorsam, den er einforderte, Gehorsam ohne Diskussion und ohne Widerworte. Aber er verlor dabei auch seine Kinder, den einen Sohn, der nie ein inniges Verhältnis zum Vater aufbauen konnte und der unter der Gefühlslosigkeit des Vaters litt, den anderen Sohn, der sich ohne ein Wort zur Seefahrt verabschiedete, sobald er alt genug war.

Eine Erziehung mit Schlägen oder anderen harten Strafen scheint für eine Zeit erfolgreich zu sein. Die Kinder gehorchen durchaus. Jedoch aus Angst, nicht aus Anerkennung oder weil sie etwas einsehen. Eine liebevolle Beziehung entsteht daraus kaum. Das Alte Testament ist voll mit solchen Geschichten. Überspitzt gesagt ist ein Großteil des Alten Testaments eine solche Geschichte, in der nämlich Gott, der Vater, seinen Kindern, dem Volk Israel, genau vorschreibt, was sie zu tun haben. Machen sie das nicht, dann folgen die Strafen auf dem Fuße, und für einige Könige und Propheten bleibt es nicht bei Schlägen. Doch auch hier führt der autoritäre Stil nicht zum Erfolg: Die Kinder, das Volk, rebellieren immer wieder und wollen vom Vater nichts mehr hören. Gott steht dann immer wieder ohne Kinder da.

Die Befürworter einer lockeren, alles erlaubenden antiautoritären Erziehung berufen sich gerne auf Jesus und seine Betonung der Liebe. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Also, so wird übersetzt: „Schenke deinen Kindern vor allem viel Liebe. Gib und fordere nicht.“ Vertreter des autoritären Stiles verweisen dagegen auf das 4. Gebot: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.“ Und das „ehren“ wird dann mit „gehorchen“ übersetzt.
Für mich sind beide Bibelstellen wichtige Anhaltspunkte für die Erziehung, aber ich möchte sie nicht gegeneinander ausspielen – so wie für mich Liebe und Gehorsam keine Gegenpole sind, sondern durchaus zusammen passen.
Zuerst zum 4. Gebot. Schon damals, zur Zeit des Volkes Israel vor mehreren 1000 Jahren gab es Generationsprobleme, Probleme zwischen Kindern, Eltern und Großeltern. Da war es für die Älteren überlebensnotwendig, dass sie abgesichert waren. Von den Jüngeren wurden 4 Dinge erwartet: Gehorsam, Unterhalt, Fürsorge und körperliche Dienstleistung. Das 4. gebot bezieht sich also nicht nur auf kleine Kinder, sondern auch auf die mittlere genaration, die sich um ihre alt gewordenen Kinder kümmern soll.
Wie die anderen Gebote auch, markiert das Gebot, die Eltern zu ehren, eine wesentliche Grenze, die nicht überschritten werden soll. Doch in dem Gebot selber ist nur die Rede davon, dass Kinder ihre Eltern ehren sollen, nicht davon, wie sie es lernen sollen, ihnen mit Respekt und Anerkennung zu begegnen - ob nun autoritär, antiautoritär oder noch einmal anders.
M.E. führt allerdings weder ein autoritärer noch ein antiautoritärer Stil zu wirklichem Respekt und ehrlicher Anerkennung. Wenn Julia ohne weitere Diskussion eine Ohrfeige oder eine Woche Stubenarrest bekommen hätte, würde sie beim nächsten Besuch des Supermarktes vielleicht parieren, aber nur aus Angst vor einer weiteren Strafe. Wäre das „ihre Mutter ehren“? Vielleicht würde sie aber auch wieder einen Aufstand machen, nur um zu sehen, was diesmal passieren wird. Kinder testen ständig ihre Grenzen.
Die 2. Möglichkeit: Würde Julia ohne weiteres ihr Überraschungsei bekommen, dann wäre sie sicherlich froh, ihr Ziel erreicht zu haben. Aber kein Widerstand erzeugt auch keinen Respekt. Die kleine Julia wird nur weitermachen, ihren kleinen Egoismus vergrößern und beim nächsten Mal nach noch mehr schreien. Sie weiß ja, wie sie ihre Mutter rumkriegt.

Eine alles bestimmende und eine alles erlaubende Erziehung sind die Extreme. Doch wie kann man da den richtigen Weg zwischendurch finden? Hilfe dazu habe ich in den Büchern eines christlichen Psychologen gefunden: Dr. Kevin Leman.

Leman befürwortet eine liebevolle Disziplinierung von Kindern und Jugendlichen. Er will durch seine Erziehung vor allem das Selbstwertgefühl und das Selbstbild der Kinder fördern und stärken. Und die Grundlage dafür hat er direkt bei Jesus abgeguckt: Liebe ohne jegliche Vorbedingungen. Wie Gott uns liebt – trotz aller Fehler und Marotten – , so sollen Eltern ihre Kinder lieben, ohne wenn und aber. Aber diese Liebe bedeutet für Leman nicht, dass Kinder nicht diszipliniert werden sollen, ganz im Gegenteil. Kinder brauchen das, um sich überhaupt richtig entwickeln und entfalten zu können. Um nicht grenzenlos zu werden. Das ist Lemans These.
Leman hätte der Mutter von Julia vermutlich geraten, Julia auf keine Fall das Überraschungsei zu kaufen, es sei denn, dies war vorher abgesprochen. Vielmehr solle die Mutter Julia kurz sagen, warum sie das Ü-Ei nicht bekommen würde, sie an bestimmte Regeln erinnern und ihr dann die Konsequenz ihres Verhaltens deutlich machen, zum Beispiel, dass sie, die Mutter, Julia nicht mehr mit zum Einkaufen nehmen würde, falls dies nicht ohne Schreien ablaufen könne. Nach Leman sollte man Kindern immer eine Wahl geben und dann - ganz wichtig – dann auch das Gesagte durchziehen und nicht wieder weich werden. Denn wenn man doch noch nachgibt, dann hat wieder das Kind die Kontrolle.
Entscheidend ist für Leman, dass die Kinder nicht plötzlich eine Strafe aufgedrückt bekommen, sondern dass ihnen die Folgen für ihr Verhalten deutlich werden. Dazu gehört auch, dass es sich um Folgen handelt, die im Zusammenhang mit der Tat stehen. Julia wird z.B. gesagt, sie könne nicht mehr mit zum Einkaufen kommen, falls sie beim Einkaufen gegen die Regel „Es gibt keine Extras beim Einkaufen“ verstößt und einen Aufstand macht.
Der jugendliche Michael könnte in dem Beispiel von vorhin nach seinem Discoausflug gesagt bekommen: „Du hast dich nicht an unsere Abmachung gehalten. Mitternacht sollte es sein. Jetzt ist es 4 Stunden drüber. Unsere Abmachung besagte auch: Kein Discobesuch mehr für 2 Monate, wenn du nicht rechtzeitig zu Hause bist. So wird’s jetzt sein. Gute Nacht.“ Das geht so natürlich nur, wenn es vorher tatsächlich so abgesprochen wurde, aber davon geht Leman aus. Weitere Diskussionen und Vorhaltungen gibt es nicht. Michael wird auch nicht gesagt, dass die Eltern ihn nicht mehr mögen, sie waren nur mit seinem Verhalten in dieser Nacht unzufrieden und er muss jetzt mit der Konsequenz seines Verhaltens leben.

Für Leman ist ganz klar, dass die Eltern die Autorität über ihre Kinder haben sollten und Kinder für ihre Handlungen verantwortlich gemacht werden können, ja müssen.

Müssen Kinder also gehorchen? Ja. ... Aber Gehorsam ist nicht alles. Betrachten wir es einmal aus der Sicht der Eltern: Unsere Aufgabe ist es, unsere Kinder angemessen zu disziplinieren und dabei immer wieder und wieder die richtige Balance von Liebe und Grenzen hinzubekommen. Gehorsam und Eltern ehren, das können Kinder nur von ihren eigenen Eltern lernen. Das Gelernte hält dann bis ins Alter an. Wie wir es selber in der Kindheit gelernt haben, so gehen wir dann auch mit unseren Eltern um, wenn diese alt sind – und so geben wir es selber an unsere Kinder weiter. Schule und andere Institutionen können eine solche Erziehung nur unterstützen, nicht ersetzen. Das klingt wie eine riesige Aufgabe – und das ist es auch. Aber hinter dem allem steht nicht nur die große Verantwortung oder sogar das Gebot Gottes. Vielmehr steht dahinter auch eine Verheißung. Das 4. Gebot geht nämlich noch weiter: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebest und dir’s wohlgehe in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird.“
Auf das wir alle lange leben und es uns wohlgehe, indem wir unsere Eltern ehren und unsere Kinder und Kindeskinder auch dazu erziehen.
Amen

Christian Berndt
Pastor der Markusgemeinde
Schwinger Ackerweg 6 B
21684 Stade
Christian.Berndt@evlka.de


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