Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Predigtreihe zur christlichen Erziehung, Sommer 2004
„Wenn dein Kind dich morgen fragt ...“ (5.Mose 6,20) Welche Werte und Traditionen wollen wir weiter geben?
Sonja Domröse
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Liebe Schwestern und Brüder, liebe Gemeinde!

Große Ereignisse werfen bereits ihre Schatten voraus: Im nächsten Jahr wird in Hannover der 30. Deutsche Evangelische Kirchentag vom 25. bis 29. Mai gefeiert. Ein Großereignis eigener Güte und Klasse, wenn mehr als 100.000 Menschen aller Altersstufen zusammen kommen, um gemeinsam zu beten und zu singen, zu feiern und zu diskutieren, die biblischen Geschichten zu hören und danach zu fragen, was Gottes Wort mit unserem Leben heute zu tun hat.

Jeder Kirchentag hat ein Motto, eine Losung, unter der sich Alte und Junge, Kirchennahe und Kirchenferne treffen, um über die Probleme und Herausforderungen unserer Zeit nachzudenken und ins Gespräch zu kommen. Die Losung für den Kirchentag 2005 in Hannover lautet: „Wenn dein Kind dich morgen fragt ...“. Es ist der Anfangssatz einer Passage aus dem Alten Testament, genauer gesagt aus dem 5. Buch Mose. Und diese Losung: „Wenn dein Kind dich morgen fragt“ passt sehr schön in unsere diesjährige Sommer-Predigtreihe zu Fragen christlicher Erziehung. Denn es geht hier ja ganz offensichtlich um die Beziehung zwischen Eltern und Kindern, das Verhältnis zwischen den Generationen und damit um das, was wir unseren Nachfahren mitgeben wollen, welche Werte und Traditionen uns wichtig sind.

Und so möchte ich jetzt den Bibel-Text, aus dem die Kirchentagslosung stammt, in der Übersetzung der „Guten Nachricht“ vorlesen. Sie steht im 5. Buch Mose, 6. Kapitel, Verse 20 bis 25:

„Wenn dein Kind dich morgen fragt, wozu all die Weisungen, Gebote und Rechtsbestimmungen gut sind, die ihr vom Herrn, eurem Gott, bekommen habt, dann gib ihm zur Antwort:
„Als Sklaven mussten wir dem König von Ägypten dienen, doch der Herrbefreite uns mit seinem starken Arm. Wir haben mit eigenen Augen gesehen, wie er durch seine staunenswerten Wundertaten Verderben über den Pharao und seine Familie und über alle Ägypter brachte. Uns aber hat er aus Ägypten herausgeführt und in dieses Land gebracht, das er unseren Vorfahren versprochen hatte. Er hat uns befohlen, ihn, unseren Gott, ernst zu nehmen und alle diese Gebote zu befolgen, damit es uns gut geht und er uns auch am Leben erhalten kann, wie das heute tatsächlich der Fall ist. Wir antworten in der rechten Weise auf das, was der Herrfür uns getan hat, wenn wir alles genau befolgen, was er, unser Gott, uns befohlen hat.“ (5. Mose 6, 20-25, Übersetzung aus „Gute Nachricht“)

Liebe Gemeinde!

In drei Abschnitte möchte ich meine Gedanken zu diesen alttestamentlichen Worten gliedern: Fragen, Freiheit und Grenzen so heißen die drei Überschriften.

Fragen

Jede und jeder, der mit Kindern zu tun hat, kennt diese Erfahrung: Kinder können einem manchmal wirklich Löcher in den Bauch fragen. Warum ist der Himmel blau? Weshalb müssen wir nachts schlafen? Wo war ich, bevor ich geboren wurde?

Jedes Kind muss die Welt neu für sich entdecken und deshalb sind Fragen so ungemein wichtig für ein Kind. Denn indem ich Fragen stelle, versuche ich die Welt zu verstehen. Und vor dieser Aufgabe, die Welt zu verstehen, sich ein eigenes Bild zu machen, eine Weltanschauung zu entwickeln, steht jede Generation neu. Kinder müssen sich durch Fragen, Fragen und nochmals Fragen die Welt erschließen, sich unsere Kultur aneignen, sich all das eröffnen, was unsere Tradition an Erfahrungen bereit hält, um das Leben zu verstehen, erträglich und erlebbar zu machen.

Und deshalb sind Fragen so wichtig für Kinder. Deshalb müssen wir uns Zeit nehmen, ihre Fragen ernst zu nehmen und ihnen nach bestem Wissen und Gewissen Auskunft zu geben. Denn nur so ebnen wir ihnen als Erwachsene einen Weg in die Welt.

Fragen können anstrengend sein und oft kommen sie ungelegen, weil wir gerade den Kopf mit anderen Dingen voll haben. Vielleicht haben wir es uns auch schon abgewöhnt, Fragen zu stellen und nehmen alles so hin nach dem Motto: „So ist die Welt nun mal, wir können auch nichts dran ändern!“

Und da gibt es ja auch noch die Fragen, auf die wir einfach keine Antwort haben: Warum muss ein Kind bei einem Verkehrsunfall sterben? Wieso quälen Menschen sich gegenseitig? Weshalb gibt es Krieg, Hungersnöte oder Erdbeben?

Es gibt Fragen, auf die auch wir als Erwachsene keine Antwort haben oder unser Leben lang auf der Suche nach einer Antwort sind. Und ich glaube, es ist heilsam für unsere Beziehung zur nächsten Generation, wenn wir dies auch offen eingestehen. Wir sind nicht allwissend, unsere Erkenntnis hat ihre Grenzen, es gibt Fragen, die uns quälen und manchmal zum Verzweifeln bringen, weil wir keine Antwort finden können. Dieses Eingeständnis unserer Begrenztheit kann vielleicht die Chance zu einem fruchtbaren Gespräch mit unseren Kindern sein.

„Ich habe auch nicht auf alles eine Antwort“, könnte so ein Satz lauten, „ aber wir können gemeinsam versuchen, eine Lösung zu finden, du und ich. Und wenn wir sie nicht finden, dann können wir vielleicht lernen damit zu leben, dass manche unserer Fragen unbeantwortet bleiben oder wir erst später eine Antwort finden.“

„Wenn dein Kind dich morgen fragt, wozu all die Weisungen und Gebote Gottes gut sind, dann sollst du ihm eine Antwort geben.“ So beginnt unser Bibel-Text und damit ist klar: Es geht hier nicht nur allgemein ums Fragen, sondern es geht um religiöse Fragen. Um Fragen nach Gott und seinen Ordnungen für die Welt. Und da sind Eltern nach wie vor die entscheidenden Vermittler von Traditionen und Werten. Was ich meinem Kind vorlebe, im Guten wie im Schlechten, das wird es nachzuahmen versuchen. Martin Luther hatte vor dieser Erziehungsleistung der Eltern solch einen großen Respekt und hat ihr solch eine Wichtigkeit zugeschrieben, dass er sagen konnte: Väter und Mütter sind die „Bischöfe“ ihrer Kinder. Sogar den Müttern hat er dies ausdrücklich zugeschrieben, „Bischöfin“ zu sein, Jahrhunderte, bevor wir nun in unserer evangelischen Kirche Bischöfinnen als Leiterinnen der Kirche haben.

Als Mutter oder Vater habe ich also die entscheidende Rolle auch für die religiöse Entwicklung meiner Kinder. Die Patinnen und Paten sollen mir im Idealfall dabei zur Seite stehen, ebenso wie auch die Großeltern, gute Freunde und andere Erwachsene, die Kindern den Weg ins Leben ebnen.

Dabei leben wir in einer Zeit, in der gerade die jetzige Elterngeneration zunehmend verunsichert ist, weil sie selber gar keinen Fest Grund mehr im Glauben hat. Viele stricken sich so eine Art Privatglauben mit einem bunten Mix aus Christentum, Buddhismus, Esoterik und was sonst noch so gerade angesagt ist.

Da haben wir als Gemeinde wohl eine zunehmend wichtigere Aufgabe in Taufgesprächen, Familiengottesdiensten, Tauferinnerungsfeiern und auch Konfirmandenunterricht die Grundlagen und Grundüberzeugungen unserer christlichen Tradition weiterzugeben, weil viele Elternhäuser dies nicht mehr leisten können oder wollen.

In welchen Traditionen stehen wir aber?

Freiheit

Wir stehen in der Tradition der jüdisch-christlichen Überzeugung, dass Gott einer ist, der uns aus der Sklaverei in die Freiheit führt. Und so lautet denn auch die Antwort auf die Frage in unserem Bibeltext folgendermaßen: „Als Sklaven mussten wir dem König von Ägypten dienen, doch der Herrbefreite uns mit seinem starken Arm“.

Diese Worte sind das Bekenntnis der jüdischen Tradition: Gott hat uns befreit aus der Sklaverei. Er hat uns den Weg in ein neues Land gewiesen, er hat uns zu freien Menschen gemacht.

In dieser Tradition stehen auch wir als Christinnen und Christen, denn das Alte Testament - wie wir es nennen - ist neben dem zweiten Teil der Bibel, dem Neuen Testament, auch unser Glaubensbuch. Gott hat uns befreit aus der Sklaverei oder wie es später Paulus in seinem Galaterbrief sagen kann: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!“ (Gal 5, 1)

Mich frei entfalten und entwickeln, das kann ich, wenn ich Vertrauen habe. Vertrauen in mich selber und meine Fähigkeiten, Vertrauen in die Welt und Vertrauen in gute Mächte, die mich schützen und begleiten. Und so ist das Wichtigste, was Kinder für ihre Entwicklung brauchen, das, was in der Psychologie „Urvertrauen“ genannt wird. Kinder müssen von Anfang erfahren: Wenn ich weine, weil ich hungrig bin und mich alleine fühle, dann kommt meine Mutter, nimmt mich auf den Arm, stillt und tröstet mich. Wenn ich stolpere, dann ist mein Vater da, der mir wieder aufhilft und mir seine Hand reicht.

Diese Erfahrungen sind lebenswichtig für Kinder, damit sie Vertrauen in die Welt entwickeln und Vertrauen in sich selber. Fürchterlich ist es, wenn sie dies nicht erfahren.

Zum Vertrauen lernen gehören Rituale, die Halt und Orientierung geben. Eines der wichtigsten Rituale in einem Kinderleben ist wohl die Gute-Nacht-Situation. Der Tag ist vorbei mit allem was er an Spannendem und Faszinierendem, aber auch an Angstmachendem und Beschämendem mit sich gebracht hat. Die Nacht steht bevor mit ihren Träumen, ihrer Dunkelheit, dem Sich-fallen-lassen in den Schlaf. Wie gut, wenn ich als Kind dann noch einmal so richtig kuscheln kann, Zeit habe, das zu erzählen, was an diesem Tag passiert ist. Wenn ich eine Geschichte vorgelesen bekomme und jemand mit mir betet. Denn gerade im Gebet kann ich mich dem anvertrauen, der mich auch diese Nacht beschützen und behüten wird, weil er noch viel stärker und mächtiger ist als meine Eltern.

Zur Freiheit gehört genauso dazu, selbständig zu werden, sich von den Eltern zu lösen und eigene, neue Wege zu finden. Gerade in diesem Punkt, der Emanzipation von einer manchmal als übermächtig empfundenen Mutter oder einem autoritären Vater, hat der Glaube eine ganz wichtige Rolle. Denn wenn ich höre, dass Gott mir - so wie heute mit unserem Wochenspruch - zusagt: „Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein“ (Jes 43, 1) dann gibt mir das Zuversicht und Vertrauen. Wenn ich höre, dass Gott mich in der Taufe als sein geliebtes Kind angenommen hat, dann schenkt dies meinem Leben Würde und Wertschätzung. Ich bin dann nicht nur das Kind meiner Eltern, die auf mich Zugriff haben, sondern ich bin in erster Linie ein Geschöpf Gottes. Dies begrenzt den Zugriffsbereich meiner Eltern, schenkt mir Freiheit zur Entfaltung und eröffnet mir neue Möglichkeiten.

Grenzen

„Er hat uns befohlen, ihn, unseren Gott, ernst zu nehmen und alle seine Gebote zu befolgen, damit es uns gut geht und er uns auch am Leben erhalten kann“. So, liebe Gemeinde, endet unser Bibel-Text und mit diesen Worten ist etwas angesprochen, das gerade in unserer Zeit von großer Bedeutung ist: Zur Freiheit gehören auch die Grenzen. Gott hat uns seine Gebote gegeben, damit es uns gut geht und er uns am Leben erhalten kann. Denn eine grenzenlose Freiheit ist auf Dauer selbstzerstörerisch. Das merken wir nirgendwo so deutlich wie bei der Erziehung von Kindern. Denn Kinder, die keine Grenzen kennen, weder eigene noch die der anderen, sind orientierungslos, verhaltensauffällig und im schlimmsten Fall nicht in der Lage, mit anderen zusammen zu leben. Grenzen geben uns Orientierung und Halt. Sie stehen für Verlässlichkeit und Eindeutigkeit. Was kann ich? Was darf ich? Was soll ich? Auf diese Fragen geben sie Antworten, an denen ich mich abarbeiten kann.

Natürlich gibt es auch sinnlose Grenzen, aber ich glaube, die sind in unserer Gegenwart weniger das Problem. Vielmehr haben wir damit zu tun, dass ständig Grenzen überschritten werden, ohne dass wir die Folgen dieser Grenzüberschreitungen wirklich kennen.

Es hat ja etwas zu bedeuten, wenn es demnächst nun im Fernsehen eine Benimm-Sendung mit Thomas Gottschalk geben wird, denn anscheinend wissen viele nicht mehr, wie das geht. Und es hat schon eine seltsame Ironie, wenn gerade ein äthiopischer Prinz, also ein Afrikaner, uns Europäern wieder Manieren beibringt mit einem Buch, das z.Z. die Bestseller-Listen anführt.

Gott hat uns seine Gebote gegeben, damit sie uns helfen, unser Leben zu meistern. Die 10 Gebote sind seitdem so etwas wie Menschheitsgesetze geworden. Und Jesus hat dem noch hinzugefügt: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Mth 22,37ff)

Liebe Gemeinde!

Welche Werte und Traditionen wollen wir also an die nächste Generation weitergeben? Die Losung des nächsten Kirchentages gibt uns dazu drei Antworten: Das Gespräch zwischen den Generationen, der Dialog zwischen Kindern und Eltern, Jungen und Alten ist wichtig. In eine Tradition der Freiheit und des Vertrauens soll die nächste Generation hineinwachsen. Eine Tradition, zu der aber auch die Verantwortung gehört und deshalb gibt es sinnvolle und lebenswichtige Grenzen für unsere Freiheit.

Und so könnte es abschließend heißen:

„Wenn dein Kind dich morgen fragt, dann sollst du ihm antworten, dass Gott uns das Leben geschenkt hat, damit wir es in Freiheit und Ehrfurcht vor ihm leben, andere Menschen und uns selbst respektieren und akzeptieren.“ Amen.

Sonja Domröse
Öffentlichkeitsbeauftragte für den Sprengel Stade
Oeffentlichkeitsarbeit.Stade@evlka.de


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