Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Predigtreihe zur christlichen Erziehung, Sommer 2004
Welche Erziehung brauchen unsere Kinder? (Markus 10,13-16)
Volker Dieterich-Domröse
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Liebe Schwestern und Brüder,

das Thema unseres Gottesdienstes heißt: Welche Erziehung brauchen Kinder? Wir sind auf die Idee mit der sommerlichen Predigtreihe zur christlichen Erziehung gekommen, weil Erziehung in der heutigen Zeit schwierig geworden ist. Es gibt Ratgeber zuhauf. Bücher und Zeitschriften. Aber die Unsicherheit hat sich trotz oder vielleicht sogar wegen dieser vielen Ratgebern noch vergrößert. Es fehlen mittlerweile die anerkannten Vorbilder dafür, wie man als Vater oder Mutter seine Kinder erziehen kann. Vieles von dem, wie das die Vorgängergeneration gemacht, wird heute sehr kritisch gesehen.

Einer der Haupttrends unserer Gesellschaft ist der Trend zur Individualisierung. In der Erziehung heißt das, Eigenverantwortlichkeit von Menschen und auch Kindern ist ein wichtiges Erziehungsziel. Und diese Eigenverantwortlichkeit kann man nicht mehr mit den alten Erziehungsmustern der vorigen Generationen bewältigen.

Manchmal hat man das Gefühl, viele Eltern seien mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert. So etwas wie ein Elternführerschein würde eigentlich gebraucht. Aber die Eltern, die so einen Führerschein besonders brauchen würden, die kommen gar nicht erst zu solchen Angeboten.

Das Thema Erziehung wird ja auch auf dem nächsten Kirchentag in Hannover im Mittelpunkt stehen. Unter dem Motto: „Wenn dein Kind dich morgen fragt ....“ werden Fragen nach unseren Grundüberzeugungen und unseren Werten behandelt, die wir an die nächste Generation weiter geben wollen. Das Thema: Erziehung und Bildung ist also dran.

Welche Erziehung brauchen unsere Kinder? Diese Frage ist eine längere Zeit lang ganz vernachlässigt worden. Man hat gesagt: Erziehung ist antiquiert, wir brauchen Bildung und Angebote für Kinder und Jugendliche. Die antiautoritäre Erziehung wurde manchmal dahin gehend verstanden, als ob Erziehung gar nicht sein sollte.

Viele haben es sich sehr bequem gemacht und antiautoritäre Erziehung mit Nichtstun und bloßem Zuschauen verwechselt. „Woll’n mal sehen, wohin die Kinder sich entwickeln.....“ Ich finde manches aus der antiautoritären Erziehung nicht so verdammenswert, wie das heutzutage oft dargestellt wird. Aber der Gedanke des Laissez-faire, des Einfach-Laufen-Lassens, zusammen mit einem bequemen Nichtstun und Sich-selbst-Überlassen vieler Kinder, hat die Fundamente unseres Zusammenlebens doch arg zerbröselt. „Mein Kind soll selber entscheiden“, - das wird ganz oft in Gesprächen über Erziehung gesagt. Auf den Besuch des Konfirmandenunterrichts z.B. werden Kinder von ihren Eltern heute nicht mehr verpflichtet. Der Unterricht muss den Kindern eben Spaß machen, und die Entscheidung über eine Teilnahme liegt (fast) alleine bei den Kindern.

Aber „Erziehen“ hängt mit "Ziehen" zusammen, und das hat eine Richtung. "Laufen lassen" ist eine Schwäche der Elterngeneration, die sich bitter rächt.

Die Eltern verschleiern ihre Schwäche geschickt und sagen: "Mein Kind soll sich selbst entscheiden" und "wir machen unserem Kind keine Vorschriften".

Aber Kinder brauchen Vorschriften, Hinweise und Entscheidungshilfen. "Laufen lassen" und "sie sollen selber entscheiden" sind Ausdruck der Angst vor der Aufgabe der Erziehung.

Welche Erziehung brauchen unsere Kinder? Ich denke, sie brauchen als allerwichtigstes eine ermutigende und wertschätzende Erziehung. Das Lob und die helfende Begleitung stehen in dieser Erziehung an oberster Stelle. Dafür muss man Zeit haben für seine Kinder. Das müssen ja gar nicht immer und ausschließlich die Eltern sein, oder die Mutter allein, - es können auch zusätzlich verlässliche andere Personen sein. Aber Kinder brauchen Zeit, die man mit ihnen teilt.

Jesus war jemand, der nicht oft ärgerlich wurde. Aber wenn es um Kinder ging, die vernachlässigt oder beiseite geschoben wurden, dann wird ausdrücklich sein Ärger erwähnt. Davon haben wir schon in der Bibellesung vorhin gehört und im Markusevangelium heißt es Kaptitel 10: „Und sie brachten Kinder zu ihm, damit er sie anrühre. Die Jünger aber fuhren sie an. Als es aber Jesus sah, wurde er unwillig und sprach zu ihnen: Lasst die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht; denn solchen gehört das Reich Gottes. Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hinein kommen. Und er herzte sie und legte die Hände auf sie und segnete sie.“

Martin Luther hat diesen Ernst und die Wichtigkeit des guten Umgangs mit Kindern so ausgedrückt: „Vater und Mutter können an den Kindern den Himmel und die Hölle verdienen, je nachdem, ob sie ihnen gut oder übel vorstehen.“ (WA 16,490,12-13) In kleinerer, innerweltlicher Münze das Gleiche: „Es gibt keinen größeren Schaden in der Christenheit, als Kinder zu vernachlässigen. Denn will man der Christenheit wieder helfen, so muß man fürwahr bei den Kindern anfangen, wie vorzeiten geschah.“ (WA 2,170,14-16)

Eltern haben die Verantwortung, mit ihrer Art wie sie Vater oder Mutter sind, ihren Kindern ein erstes und prägendes Beispiel zu sein, was die Väterlichkeit und Mütterlichkeit Gottes für einen Menschen bedeuten kann. Das ist die Ehre aller Erziehenden.

Jesus nahm sich ausdrücklich Zeit für die Kinder und Jugendlichen. Er ging unter die Leute. Er schüttelte Hände, sprach mit den Kleinen und schäkerte mit einigen vorwitzigen Mädchen, boxte sich freundschaftlich mit ein paar Junges, umarmte auch etliche und begrüßte sie. Plötzlich ertönte vielleicht ein Ruf über den Platz. „Hey Jesus, gib mir die Fünf!“ Jesus war erst ratlos. Was soll das bedeuten? Aber schon kam jemand aus der Runder Jungen auf Jesus zu und erklärte es ihm . „Klatsch ein!“ Und Jesus gab ihm die „Fünf“ und umarmt ihn. Dann kam der Ruf aus mehreren Ecken. „Hey Jesus. Gib mir die Fünf!“. Ein neues Spiel entstand und Jesus gab allen die „Fünf“ und seinen Segen und ging hin und her zwischen den Kindern und Jugendlichen, die jetzt immer näher zusammen kamen.

Wenn ich manchmal in meiner Familie das Gefühl habe, z. Zt. keinen guten Zugang zu meinen Kindern zu haben, wenn mich vieles an ihnen nervt und enttäuscht, dann sagt meine Frau manchmal: „Überleg mal, was du alleine mit ihnen unternehmen könntest.“ Ich glaube, das ist ein Schlüssel zur Lösung für viele Erziehungskonflikte mit Kindern und Jugendlichen. Es gibt zu wenig gemeinsame Zeit und Aktionen. Dabei könnte man vielleicht viele gemeinsame Interessen entdecken. Es ist doch sehr deutlich, wie viele Konfirmanden aufgeschrieben haben (in der Einleitung zum Kyrie vorgetragen), dass sie sich mehr Zeit von ihren Eltern wünschen.

Bei Jesus sehen wir, wie er den Kindern mit Wertschätzung begegnet ist. „Ihnen gehört das Reich Gottes“, sagte er. Das heißt, Gottes neue Welt ist für Kinder schon da. Wenn sie sich geborgen fühlen und Vertrauen haben können. Jesus verkündigt keinen Richtergott, sondern einen barmherzigen Gott, der Kinder ohne jede Vorleistung in seine neue Welt aufnimmt. Und Jesus stellt die Kinder als Vorbilder hin. Ist das nicht naiv? Sollen wir in allem reif und erwachsen sein, nur in Fragen der Religion kleine und unmündige Kinder? Nein! Kinder sind deshalb Vorbilder, weil sie ein Gespür dafür haben können, dass sie ohne Vorleistung dazu gehören. Kinder können Geschenke annehmen ohne Hintergedanken. Ohne immer zu überlegen, ob sie die verdient haben oder was sie als Gegenleistung geben müssen. Wenn Kinder von Jesus für uns zum Vorbild gemacht werden, dann darf in der Erziehung jedenfalls nicht die Kindlichkeit der Kinder wegtrainiert werden. Viel eher, sollten die Erzieherinnen und Erzieher ihre eigene Kindlichkeit wieder entdecken, um den Kindern nahe zu sein. Luther sagte dazu in seiner unnachahmlichen Sprache: „Dieweil wir Kindern predigen, müssen wir auch mit ihnen lallen.“ (WA 30 I,143,9-10) und: „da Christus Menschen erziehen wollte, musste er Mensch werden. Sollen wir Kinder erziehen, so müssen wir auch Kinder mit ihnen werden.“ (WA 19,78,13-15). Omas und ganz besonders Opas können das ja wieder, auch wenn sie als Eltern zu ihren Kindern manchmal ganz schön schroff gewesen waren.

Zwei weitere Beobachtungen sind mir aus der biblischen Geschichte für die Erziehung wichtig, die damit zu tun haben, dass in der Geschichte die Kinder zu Jesus gebracht werden. Jesus geht nicht zu ihnen hin. Sondern die Eltern bringen sie. Zunächst einmal bedeutet das, wie wichtig es in der Erziehung von Kindern ist, dass die Eltern andere Autoritäten unterstützen. Es gibt ja Eltern, nicht selten, sondern öfter, die blocken z.B. gegenüber Lehrern total ab. Mir erzählte eine Lehrerin, die einem Kind, das dauernd den Unterricht gestört hat, besondere Aufgaben oder Strafen aufgegeben hatte, dass die Mutter des Kindes zu ihr gesagt hatten: „das muss mein Kind nicht machen! Sie haben nicht die Aufgabe, meinem Kind Strafarbeiten aufzugeben, sondern ihm etwas beizubringen.“ So unterstützt und stärkt man nicht die Autorität anderer.

Wenn ich darüber nachdenke, dass die Eltern ihre Kinder zu Jesus brachten, dann fallen mir unsere Taufen hier in der Kirche ein. Wir folgen der alten Überlieferung, die besagt, dass wir durch die Taufe unsere Kinder Gott übergeben. Ihm sollen sie gehören, nicht uns. Auch die Taufe ist also ein Akt der Hingabe: Wir verzichten auf unsere Besitzansprüche dem Kind gegenüber. Wir lassen unsere elterliche Autorität, unser Macht begrenzen, die kleine Kinder meistens als eine Art Allmacht erleben. Also: wir sparen gerade diese Stelle, diese Allmachtsposition aus, und besetzen sie nicht durch uns selber. Wir lassen sie frei für Gott: die einseitige Abhängigkeit des Kindes von den Eltern wird in eine gemeinsame Abhängigkeit von beiden Gott gegenüber verwandelt.

In manchen Momenten der Überforderung durch unsere Kinder, wenn der Ärger oder Zorn in uns hochsteigt, dann kann es helfen, durch zu atmen und an die Taufe der Kinder zu denken. Wir lernen, unser hilfsbedürftiges Kind mit neuen Augen zu sehen. Es ist, was wir sind: ein Mensch, Gottes Geschöpf, unser kleinster Partner und Lebensgefährte. Durch die Taufe übergeben wir unser Kind Gott. Und wir erhalten es zurück als Geschenk, für das wir Gott verantwortlich bleiben

Gucken wir mal zu den Jüngern in der biblischen Geschichte. Sie wollten nicht, dass Jesus durch die Anwesenheit der Kinder belastet wird. Sie wollten im guten Sinne Grenzen ziehen. Jesus ist doch nichts für Kinder und unruhige Jugendliche, dachten sie wohl. Aber sie wollten damit Grenzen ziehen, die die Kinder und Jugendlichen von der Wertschätzung und von der Würde, wie sie vollwertigen Menschen zustehen, ausschließen sollten. Diese Grenzen darf es auch heute nicht geben. Das ist klar. Aber unser Problem heute besteht ja auch darin, dass viele Kinder und Jugendliche die Grenzen ihres Tuns nicht mehr kennen.

Das Grenzen für die Entwicklung einer reifen Persönlichkeit total wichtig sind, dass muß uns ja erst ein Herr Rogge wieder sagen mit seinen Büchern. „Kinder brauchen Grenzen“ schreibt er.

Manchmal denke ich: mit dem Ärger, den ein junger Mensch veranstaltet, testet er solange seine Grenzen, bis er mit dem Kopf vor der Wand steht. Weil ihm keiner beigebracht hat, wo die heilsamen Grenzen sind. Weil er sich selber immer noch nicht gefunden hat. Erst wenn Menschen ihre Grenzen kennen, wissen sie wer sie sind. Das gilt übrigens für Erwachsene genau so. Dass wir alles dürfen, was wir können, - das machen ja wir Erwachsenen den Kindern und Jugendlichen vor.

Jesus ist in der Begegnung mit den Kindern und Jugendlichen, wie wir es bei Markus lesen können, sehr herzlich gewesen. Die Eltern wollten, dass er die Kinder segnet, und er hat sie nicht nur gesegnet, sondern auch umarmt. Umarmen, das heißt ja: zeigen, dass jemand dazu gehört. Zu dieser Herzlichkeit passt einfach keine Gewalt. Körperliche Gewalt hat in der Erziehung von Kindern und Jugendlichen nichts mehr zu suchen. Da gilt es, sich auch gegen die eigenen biblischen Traditionen zu stellen, die ja leider das Schlagen als wichtiges Mittel der Erziehung weiter verbreitet haben.

Am Schluß entlässt Jesus die Kinder und Jugendlichen mit dem Segen. Ich stelle mir vor, dass er sie damit gestärkt hat, damit sie ihren eigenen Weg gehen konnten. Mit dem Segen entlassen werden entspricht dem „Gehet hin im Frieden des Herrn!“. So heißt es am Ende unserer Gottesdienste. Der Gottesdienst soll uns Kraft geben für die kommende Woche. Wer so ausgerüstet wird, kann sich auf den eigenen Weg machen und ist frei von Bevormundung und Kadaver-gehorsam. Zur Erziehung wird es immer gehören, dass man Fehler macht. Aber auf unserer Erziehung liegt doch die Verheißung, dass wir mit ihr den Segen unseren Kindern weiter geben können. Amen.

Volker Dieterich-Domröse
Markusgemeinde Stade
Volker.Dieterich@evlka.de


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