Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Karfreitag, 9. April 2004
Predigt zu Luthers 8. Invokavit-Predigt
verfaßt von Ekkehard Heise

(zum Überblick)


Liebe Gemeinde,

„die Beichte – ein tröstlich Ding“ unter diesem Leitgedanken soll die heutige Karfreitagpredigt stehen. Wir greifen dabei auf die achte von Luthers Invokavit-Predigten zurück. Immer noch hat das Wort „Beichte“ in unseren protestantischen Kirchen einen negativen Beiklang, etwa nach katholischem Beichtstuhl oder calvinistischer Kirchenzucht. Aber nicht um überholte und offensichtlich falschgelaufene Formen der Beichte soll es uns gehen, sondern um die Sache selbst. Beichte hat es mit dem Aussprechen von Wahrheit zu tun, von menschlichen Wahrheiten und Gottes Wahrheit. Dies ist am Karfreitag besonders brisant.

Heute vor 59 Jahren wurde Dietrich Bonhoeffer von den Nazis hingerichtet. Vielleicht stimmen Sie mir zu, dass sein Tod nicht umsonst war. Wie wichtig ist es für unser Volk, auch auf den Widerstand gegen das Unrechtsregime verweisen zu können.

Wie wichtig ist es für die Kirche auf jene bekennenden Christen verweisen zu können, die, zumal wenn sie ein Amt in der Kirche inne hatten, in Predigt, Lehre und Seelsorge am Evangelium festhielten und sich nicht von der braunen Ideologie verblenden ließen. Menschen, die hinschauten und aussprachen, was verschwiegen werden sollte. Wie wichtig ist es, dass Menschen an der Wahrheit festhalten gegenüber der Lüge, der Ideologie und den faulen Kompromissen.

An der Wahrheit hält man fest, indem man sie ausspricht, aus ihr lebt und sie so zu Wort kommen lässt. Schweigende Menschen, auch schweigende Mehrheiten, stellen der Unwahrheit Terrain zur Verfügung. Die Wahrheit muss ausgesprochen werden, drängt zum Wort, drängt danach in Worten Gestalt an zu nehmen, denn nur so kann sie der Lüge, der Unwahrheit, der Verzweiflung begegnen.

Ja auch der Verzweiflung. Der größte Schmerz ist wohl der, der noch keine Worte gefunden hat. Ein grausiges Wissen kann genauso peinigen wie das Entsetzen und die Trauer, die keine Worte finden.

Seit einiger Zeit begleitet mich ein Foto. Es entstand vor Jahren in Aserbaidschan. Seit dem hat es viele solche Fotos gegeben in New York und Bagdad, in Jerusalem, Palästina, in Istanbul und in Madrid. Dieses eine steht für viele.

Das Foto zeigt einen Mann. Er hockt auf der Erde. Seine zusammengelegten Hände zittern wie in einem Gebet, das noch keinen Ausdruck hat. Wortfetzen rasen durch seine Seele. Silben voller Schmerz, die das Geschehene nicht begreifen, die sein Schmerz herausbrüllte, als er noch neu war, mit der Zeit bildet sich eine Wunde, die nicht verheilt, sondern immer wieder aufbricht. Das Gesicht des Mannes ist ruhig, versteinert, wie tot. Nur in den Mundwinkeln, am Ende der zusammengepressten Lippen liest man Resignation. Die Augen hält er niedergeschlagen, so als zollten sie immer noch einen höheren Wesen Respekt, das zu verstehen ihm seit Monaten unmöglich ist. Geblieben ist Verachtung und Ekel vor jeder Art von himmlischer Herrlichkeit. Fast zärtlich blick er auf die Papierblumen in seiner Hand, billig aber ehrlich, hässlich und vergänglich, aber gerade deshalb wirklich und real.

Ich sehe diesen Mann auf jenem Zeitungsfoto, zusammen mit dem Bild eines Mädchens von vielleicht fünf Jahren. Unter den Fotos heißt es: „Aserbaidschan. Ein Bewohner von Nagorny-Karabach besucht das Grab seiner Tochter. Das Mädchen starb während armenischen Bombenangriffen auf diese aserbaidschanische Stadt. (Radiofoto AFP)."

Wie wichtig ist dieses Foto. Wie wichtig sind alle Fotos und Berichte von den Unrechtsschauplätzen dieser Welt. Damit zunächst einmal zur Sprache kommt und ausgesprochen wird was geschieht. Damit Opfer nicht als Kolalateralschäden unter Siegerstatistiken verscharrt werden. Wo über Leid, Schuld und Unrecht nicht gesprochen wird frohlockt der Teufel „überwindet und erwürgt“ er Menschen, wie Martin Luther es in seiner Predigt über die Buße ausdrückt.

Ich denke, als christliche Gemeinde sind wir in besonderer Weise dazu aufgerufen und geeignet zur Sprache zu bringen, was sonst verschwiegen würde. Es sind uns nämlich Worte, Sätze und Berichte von besonderer Macht gegeben. Wir können weiter sprechen, wo sonst nur Schweigen wäre. Mit der Passionsgeschichte, mit den Berichten von der Kreuzigung Jesu hören wir Gottes Stimme auch angesichts der fürchterlichsten Schicksale oder Gräueltaten.

In dieser Hinsicht zumindest hat Mel Gibson mit seinem Passionsfilm Recht. Es hilft nichts wegzuschauen, Jesu Leiden wiederholen sich in allen blutigen Szenen der Nachrichten im Fernsehen. Und wir brauchen und sollen die Augen nicht verschließen, weil Gott es auch nicht tut.

Der Gott der Passion und Tod erlebt, kann zuhören, fährt mit seiner Herrlichkeit niemanden über den Mund, sondern erträgt auch die fürchterlichste menschliche Verzweiflung. Auch er ein unschuldig Leidender.

Menschliches Leiden ist unvergleichbar. Man kann es nicht gegeneinander stellen auch wenn Unterschiede nah liegen: Der Vater, dem der Krieg seine Tochter genommen hat hier, dort der Häftling im Todestrakt des Gefängnisses des doppelten Mordes schuldig befunden. Leiden kann auch die Folge einer Krankheit sein, oder einer körperliche Behinderung – auch einer Behinderung der Möglichkeiten zur Selbstentfaltung durch Mobbing am Arbeitsplatz oder materieller Armut. Leiden entsteht durch Unrecht, durch falsche Anklage, durch schlecht arbeitende Gerichte. Menschen werden verleugnet oder allein gelassen, verzweifeln. Schuldig geworden oder als Opfer geraten Menschen in Verstrickungen und Gefangenschaft. Das alles muss zur Sprache kommen. Verzweiflung und Schuld, Leiden und Gewissensqualen müssen in Worte gefasst werden, damit Heilung erbeten und erfahren werden kann.

Die Möglichkeit, dass dies alles zur Sprache kommt ist die Beichte. Damit ist nicht an eine bestimmte Form gedacht sondern an die heilsame Möglichkeit der Aussprache allen Belastenden vor Gott und den Menschen. Luther sagt dazu:

Denn es gibt viel zweifelhafte und irrige Sachen, in denen sich der Mensch allein nicht gut zurechtfinden und die er nicht begreifen kann,“ und er fügt in seiner Predigt zur Beichte aus eigenem Erleben hinzu:

Niemand weiß, was die geheime Beichte vermag, als wer mit dem Teufel oft fechten und kämpfen muss. Ich wäre längst vom Teufel überwunden und erwürgt worden, wenn mich diese Beichte nicht aufrecht erhalten hätte.“

Das Besondere an Luthers Verständnis von der Beichte ist für mich, dass er sie aus der Engführung auf eine unangenehme Zwangsveranstaltung hin, - der Papst hat einen „Nötigungsfall“ daraus gemacht, wie er sagt, - befreit und in ihrer ganzes Bedeutung, als befreiendes Sprachgeschehen, wieder zur Geltung bringt. Beichte heißt bei Luther, die Wahrheit kommt zur Sprache, und dies in mehrfacher Hinsicht:

Menschen sollen auf ihr Versagen angesprochen werden. Zunächst unter vier Augen, dann aber wenn dies nicht weiterführt in Gegenwart von Zeugen und anderen geeigneten Personen. Wobei schon hier Gott mit dabei ist. Wo Schuld festgestellt wird und wo Vergebung möglich wird, da geschieht dies im Namen Gottes. Auch allein vor Gott kann ausgesprochen werden, was das Leben belastet, „alle unsere Gebrechen“. Fehler und Lasten können in der Intimität des Gebetes zur Sprache kommen. Auch hier ist Gott in der Gewissheit gehört zu werden dabei. Der Zuspruch der Vergebung erfolgt dann ausdrücklich, wenn über das persönliche Gebet hinaus die Form der Beichte bei einem Mitchristen gewählt wird. Wichtig ist nun auch hierbei wieder, dass es nicht um das Aufzählen von sündigen Vergehen geht, sondern Beichte wird auch zur Klage vor Gott. Klage über andere, über die Welt und meine Lebenssituation und auch Klage über mich selbst. Luther predigt: „Denn es gibt viele zweifelhafte und irrige Sachen, in denen sich der Mensch allein nicht gut zurechtfinden und die er nicht begreifen kann.

Der suchende Mensch spricht sich also in der Beichte aus, der Mensch auf der Suchen nach Gewissheit, Trost, Vergebung und Sinn. Und er bekommt Antwort.

Sie wird ihm gegeben in jenen Worten, Sätzen und Berichten von besonderer Macht, die sich im Evangelium finden. Die Wahrheit Gottes wird in ihnen zur Sprache gebracht und dem Suchenden zugesprochen. „Dir sind deine Sünden vergeben, denn Christus ist auch für dich gestorben.“ Das kann auch heißen: „Verzweifele nicht, Gott geht mit dir,“ oder „die Antworten, die du suchst, kannst nur du mit deinem Glauben geben“.

Vielleicht wird uns dies in diesen drei Tagen von heute bis Sonntag besonders deutlich.

Am Karfreitag wird Gottes Leiden und sein Tod erzählt. In mit und unter den bekannten Worten und Geschehnissen, im Kreuz Jesu begegnen wir unseren menschlichen Kreuzen. Im Kreuz Jesu und in den Kreuzen der Menschen, in beidem treffen wir auf Gott. Es ist dies das Evangelium der Passionszeit, die frohe Botschaft, dass Gott in seiner Passion Stellung nimmt zu Gunsten der Leidenden. Das heißt nicht dass wir uns um jeden Preis leiden müssten um Gott nah zu sein, sondern, es heißt, dass wir in unseren tatsächlichen Leiden, nicht von Gott verlassen sind.

Auch morgen nicht, im Schweigen des Karrsonnabends. Dieses Schweigen gehört mit in die Beichte. Der Ernst des Gesagten wird deutlich. Nicht zu schnell wird die Lösung gefunden – da gibt es keinen Automatismus der Absolution. Die Wahrheit Gottes kann nur hören, wer wirklich ausgesprochen hat. Erst wenn alles gesagt wurde, ist die Zeit fürs Hören gekommen. Die Geschichte der Kreuzigung Jesu kennen wir, die vier Evangelisten haben sie uns aufgezeichnet. Die Geschichten der menschlichen Kreuze scheinen unzählig. Wir lesen sie in Zeitungen, sehen sie im Fernsehen, hören sie aus der Nachbarschaft oder in der eigenen Familie. Wir erleben sie selbst. Es sind hässliche Geschichten, leidvolle, die zu hören uns weh tut. Zu dem Leid kommt die Ohnmacht. Menschen stehen dabei und können nichts tun. Oder doch. Wenn wir die Wahrheit Gottes recht hören, dann führt sie unsere Blicke vom Kreuz auf Golgatha zu den Kreuzen der Menschen. Dann werden wir zu Zeugen aufgerufen. Das können wir tun zumindest Zeuge sein, uns informieren und weitersagen, dokumentieren und veröffentlichen was geschieht. Deshalb war der Tod Dietrich Bonhoeffers, dem wir eingangs gedachten nicht umsonst, bis heute ist er im Stande, Menschen zu trösten, die an den Unrechtssystemen ihrer Länder verzweifeln. Bei meinen Studenten in Lateinamerika habe ich unerwatet großes Interesse für die Spiritualität Dietrich Bonhoeffers gefunden.

Die letzte Wahrheit Gottes und der tiefste Trost bleibt dem Ostersonntag vorbehalten. Dem Tod ist die Macht genommen. Und damit auch jedem, der damit droht, das Leben zu vernichten. Sei es die eigenen Schuld, sei es die böse Gewalt eines Anderen. Gott hat dem ein Ende gesetzt und darauf hin dürfen wir neue Schritte wagen. Wer stark genug ist, mag sich dies aus seinem Glauben heraus selber sagen. „Aber wie viele sind ihrer, die solchen festen, starken Glauben und Zuversicht zu Gott haben? Hier sehe ein jeglicher auf sich selbst, dass er sich nicht verführe“, predigt Luther.

Sicherlich ist es kein Zufall, dass die Evangelien nicht das Wunder der Auferstehung erklären sondern Zeugenberichte, erst ängstliche dann aber auch zunehmend begeisterte zur Sprache kommen lassen. Das muss man sich sagen lassen: dass der Tod nicht mehr herrscht, das Sünde vergeben wird, das man frei ist zu leben.

Luther ermutigt in seiner Predigt dazu: „Unser Gott ist nicht so karg, dass er uns nur eine Absolution und nur einen Trostspruch zur Stärkung und Tröstung unseres Gewissens gelassen hätte. Sondern wir haben viele Absolution im Evangelium und sind mit reichlich viel Tröstungen überschüttet. Diese Tröstungen von unseren Brüdern zu fordern und zu hören sollen wir nicht verachten

Die Aufgabe von uns Christen ist es dann also, dem Leid, der Schuld, den unbeantworteten Fragen mit Auferstehungsgeschichten zu begegnen, damit Gottes Wahrheit zur Sprache kommt, wenn es sein muss gegen die Ideologien und Lügen weltlicher Todesmächte.

Amen.

Dr. Ekkehard Heise
Ekkehard.Heise@t-online.de

http://www.Ekkehard-Heise.de

 


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