Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Gründonnerstag, 8. April 2004
Predigt zu Luthers 7. Invokavit-Predigt
verfaßt von Paul Kluge

(zum Überblick)


Nach dem Gottesdienst hatte Rupert noch mit einigen guten Bekannten über die Predigt gesprochen, dann war er nach Hause gegangen, um sich gleich an den Schreibtisch zu setzen. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, das Gehörte in ein paar Notizen festzuhalten und um ein paar eigene Gedanken zu ergänzen. Durch die neue Sicht, die Luther predigte, war aus ihm, dem kirchlich distanzierten Ratsherrn, ein eifriger Kirchgänger und Verfechter der neuen Lehre geworden.

Über die „Frucht der Sakramente“ hatte Luther heute gepredigt und einsichtig gemacht, dass diese Frucht in Liebe besteht, Liebe zu den Mitmenschen. Mit dem Satz war eigentlich schon alles gesagt, aber was bedeutete er für den Alltag, für das Miteinander in Familie und Beruf, für das Leben in der Stadt? Dazu wollte ihm nichts einfallen, darüber hatte er auch in der Predigt kaum etwas gehört. Er saß und dachte.

Als er merkte, dass seine Gedanken hakten, brach er zu einem Spaziergang auf. Seine Frau war mit den Kindern beschäftigt, wie er hörte, und so ging er auf die Straße, bog dann in eine kleine Nebengasse ein und von dieser in eine noch engere. Er wollte nachdenken, und deshalb mied er die Geschäftsstraße, wo er häufig angesprochen und noch häufiger gegrüßt wurde.

Eine laut klagende Frau kam ihm entgegen, die ihren betrunkenen Ehemann nach Hause schleppte, von weinenden Kindern umgeben. Er kannte den Mann flüchtig; saß der nicht des öfteren unter Luthers Kanzel? An der nächsten Ecke wehrte ein Invalide mit seinem Krückstock die Angriffe eines Hundes ab; der Hundehalter stand in der Tür und hetzte den Hund immer wieder gegen den Bettler. Rupert grüßte den Hundehalter mit Namen, sofort pfiff der seinen Hund zurück. „Ich wollte doch nur ein Stück Brot," knurrte der Bettler, und Rupert gab ihm eine Münze.

Es war nicht mehr weit bis zum Marktplatz. Rupert war froh, als er ihn erreicht hatte. Die Enge der Gassen, ihr Schmutz stießen ihn ab, und zum Nachdenken war er auch nicht gekommen. Er überquerte den Marktplatz, ging zum Fluß hinunter und setzte sich ans Ufer. Das Wasser stand recht hoch, die Strömung war recht stark, er blickte ins Wasser und dachte gar nichts. Bis ihm kühl wurde. Dann stand er auf und schlug den Weg zur Werkstatt seines Freundes Lukas ein. Der gab gerade einem Lehrling ein paar saftige Ohrfeigen, als Rupert eintrat. „Einen Pinsel hat dieser Tolpatsch zerbrochen,“ erklärte Lukas der Maler, „den wird er mir ersetzen!“ Der Lehrling weinte, ein Geselle machte höhnische Bemerkungen über ihn. „So ein Pinsel ruiniert den reichsten Mann der Stadt?“ fragte Rupert; es hätte ironisch klingen sollen, klang aber nur wütend. Lukas sah ihn überrascht an, gab dann seinen Gesellen ein paar Anweisungen und ging mit Rupert über den Hof in die Wohnung. Die beiden Freunde setzten sich, Lukas ließ einen guten Rotwein servieren und entschuldigte sich, dass er wegen wichtiger Auftragsverhandlungen leider dem Gottesdienst habe fernbleiben müssen. Worum es denn gegangen sei, wollte er wissen. Rupert erzählte es ihm, erzählte auch, was er auf seinem Spaziergang erlebt hatte. „Die Leute kennen die Gebote und halten sie nicht,“ schloß Rupert.

Das, entgegnete Lukas der Maler, sei doch nicht neu, davon wisse doch schon die Bibel. Deshalb müsse es zu allen Zeiten Prediger und Propheten geben, um die Menschen auf Linie zu halten. „Und Maler, die den Leuten vor Augen führen, was gut und schön, was schlecht und häßlich ist,“ ergänzte Rupert, worauf Lukas meinte, dummer Weise sei gerade das Schlechte oft besonders schön.

Ruperts Blick fiel auf eine Skizze am Boden. Sie stellte den barmherzigen Samariter dar, wie der sich zu dem Überfallenen beugte. Die Haltung das Samariters war eine einzige Zuwendung. „Das ist, was den Menschen fehlt,“ rief Rupert und nahm das Blatt in die Hand: „Hinwendung zum Mitmenschen. Liebe. Denn auch korrektes Verhalten kann lieblos sein und Glaube egoistisch.“ Er ging zu einer Kreuzigungsszene und fuhr fort: „Diese Liebe hat Gott uns geschenkt, mehr, als wir verdienen und mehr, als wir brauchen. Doch ‚Für mich‘ ist nicht genug. Wir können, wir müssen von dieser Liebe weitergeben. Aus Dankbarkeit für das, was Gott uns gegeben hat. Nicht nur in großen Taten wie der Samariter, sondern in den vielen kleinen Dingen des Alltags.“ – „Zum Beispiel keine Hunde auf Bettler hetzen oder das ganze Geld vertrinken,“ warf Lukas ein, und Rupert ergänzte: „Auch keinen verhöhnen wie dein Geselle oder jemanden wegen eines zerbrochenen Pinsels schlagen.“ Lukas der Maler reagierte etwas betreten, fragte schnell nach dem werten Befinden der Frau Anna und der Kinder. Rupert schmunzelte, denn erst vor wenigen Tagen hatte Lukas bei ihnen am Tisch gesessen. Dann stand Rupert abrupt auf: „Meine Frau weiß gar nicht, dass ich ausgegangen bin,“ erklärte er seinen eiligen Aufbruch.

Mit schnellem Schritt ging er auf kürzestem Weg nach Hause, so schnell, dass keiner ihn aufhielt. Schon im Flur traf er Anna, sie wirkte verärgert. „Wo warst du,“ fragte sie vorwurfsvoll, „du hattest versprochen, den Kindern vorzulesen, und dann warst du nicht da!“ Rupert erschrak, denn das hatte er völlig vergessen. Anna schimpfte weiter: „Ich brauche dringend mal Zeit, um das Haushaltsbuch in Ordnung zu bringen. Aber so etwas interessiert dich ja nicht. Statt mir mal die Kinder vom Hals zu halten, bist du einfach nicht da.“

Sie ließ ihren Mann stehen, warf die Zimmertür hörbar hinter sich ins Schloss. Rupert trottete in sein Arbeitszimmer. „Es ist gar nicht so einfach, Gottes Liebe in den Alltag umzusetzen,“ dachte er, „wir sind und bleiben Sünder, wie der Luther immer sagt.“ Die Erlebnisse in der Stadt hatten es ihm gezeigt, ebenso Lukas der Maler, und Anna hätte ihn auch etwas freundlicher empfangen können. Er notierte dies als Beispiele alltäglicher Lieblosigkeit. Wo er sie demnächst antraf, wollte er die Leute darauf ansprechen.

Als er seine Notizen dann noch einmal durchlas, lachte er plötzlich auf: Er hatte bemerkt, dass er mit Daumen und Zeigefinger seine Nase hielt. „Das ist gut,“ sagte er vor sich hin, „jeder soll sich zuerst an die eigene Nase fassen, bevor er anderen predigt.“ Dann ging er zu seiner Frau und fragte, ob er ihr helfen könne. Er durfte, und damit war der Streit von vorhin begraben. Amen

Paul Kluge, Pastor em.
Großer Werder 17
39114 Magdeburg
Paul.Kluge@t-online.de


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