Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Gründonnerstag, 8. April 2004
Predigt zu Luthers 7. Invokavit-Predigt
verfaßt von Walter Meyer-Roscher

(zum Überblick)


„… und hätte die Liebe nicht…“

„Ein jeder hat auf sich selber acht, was ihm förderlich sei, und sucht das Seine“, klagt Martin Luther in der siebten seiner Invokavit-Predigten über die Wittenberger.

Ist das wirklich ein Grund zum Klagen? Der Wille zur Selbstbehauptung und der Drang, sich auf die eigenen Bedürfnisse und Wünsche, die eigenen Kräfte und Fähigkeiten zu konzentrieren, sind doch der Schlüssel zum Erfolg im Leben. Immer noch, und heute vielleicht mehr denn je!

Schließlich steigen auch die Anforderungen an Lebenspläne und Lebensleistung. In einer von Konkurrenzkämpfen geschüttelten Gesellschaft gelten Durchsetzungsvermögen, Härte gegen sich selbst und andere als die vordringlichen Kriterien, nach denen ein Leben beurteilt wird.

Darum wird lebenslanges Lernen proklamiert. Lebenslange Prüfungen werden vorgeschrieben. Die aber erzeugen lebenslange Angst, den Anforderungen irgendwann nicht mehr gerecht zu werden, mit seinen Lebensplänen und Lebensentwürfen zu scheitern. Das kennen wir doch auch. Wer kann damit eigentlich noch sinnvoll leben? Diese Angst ist wirklich ein Grund zum Klagen.

„Ich warte auf Hilfe“, sagt der Schriftsteller Peter Handke. „Ich schaue dazu aus, nach irgendwem, zum Himmel, um die Ecke, und bin dann doch wieder der, der sagt: Seht her, da ist einer, der niemanden braucht“.

Ja, nach außen hin die eindrucksvolle Pose: Ich achte auf mich selbst. Ich weiß auch, was ich will und was für mich wichtig und richtig ist. Es bleibt also dabei: „Ein jeder hat auf sich selbst acht, was ihm förderlich sei, und sucht das Seine“. Dann kann er auch sagen: „Hier ist einer, der niemanden braucht“.

Aber wie sieht es denn wirklich in der eigenen Seele aus? Da hat sich doch längst die Angst eingenistet. Und dann kommt die bittere Erkenntnis: Ich warte auf Hilfe. Käme sie doch vom Himmel oder käme sie um die Ecke. Wenn sie nur kommt, denn ich habe Angst, dass es heißen könnte: Wieder einer gescheitert. Wieder ein Versager mehr.

Ich schaue zum Himmel, sagt Handke. Wer dort Hilfe sucht, fragt im Grunde seines Herzens nach Gott. So eindeutig jedoch kommt es bei vielen nicht über die Lippen. Die Frage nach Gott wird eher verschwiegen. Nur in der Sehnsucht nach Leben und in der heimlichen Bitte um Hilfe lässt sie sich erahnen.

Für Martin Luther – und auch für die Wittenberger, denen er predigt – sind Gottes Existanz und Gottes Wirken an und mit den Menschen noch eine Selbstverständlichkeit. Die Frage nach Gott muss nicht erst gestellt, sie kann mit einem Bild aus dem Alltagsleben anschaulich beantwortet werden. „Gott“, sagt Luther, „ist ein glühender Backofen voller Liebe, der da von der Erde bis an den Himmel reicht“.

Eine unerwartet eindeutige Antwort auf unsere Sehnsucht, auf unsere heimliche Bitte um Hilfe. Eine Antwort, die uns gut tut: So viel Wärme! Da kann doch kein Herz kalt bleiben! Da muss doch der Panzer der Angst schmelzen, hinter dem sich ein Mensch versteckt, der so laut bekennt: Hier ist einer, der niemanden braucht.

Ja, wir brauchen sie – Wärme, die unsere Erfahrungen von Kälte im Konkurrenzkampf schmelzen und die Angst vor Versagen und Scheitern verglühen lässt. Wir brauchen sie – Liebe, die von der Erde bis zum Himmel reicht und uns auffängt, wenn wir am Wert unseres Lebens zweifeln und auf Hilfe warten.

Luther sagt: Ihr braucht die Liebe Gottes, Ihr könnt sie auch erfahren. In der vorangegangenen Predigt verweist er auf das Abendmahl und nennt dieses Sakrament „eine Versicherung oder ein Siegel und Wahrzeichen“ für Gottes Nähe und für die Zusage seiner Liebe.

Am Gründonnerstag erinnern sich Christen an die Einsetzunge dieses Sakraments, an die letzte Mahlgemeinschaft Jesu mit seinen Jüngern. Aus der Erinnerung wird Erfahrung, wird für Luther die Vergewisserung „der göttlichen Versprechung und Zusage“.

Dabei kann ein Mensch lernen, dass nicht der Erfolg wichtig ist im Leben. Ausschlaggebend sind auch nicht die kleinen Siege in den alltäglichen Konkurrenzkämpfen. Wichtiger ist, sich der Liebe Gottes zu vergewissern und auf seine Zusage zu vertrauen, dass, wie Luther es ausdrückt, „Christus für uns seine Gerechtigkeit und alles, was er hatte, eingesetzt hat“. Darum hat unser Leben in Gottes Augen einen unverlierbaren Wert. Diese Erfahrung macht Mut, die ständige Angst vor Versagen zu überwinden. Sie gibt die notwendige Gelassenheit für alle lebenslangen Prüfungen.

Aber dabei kann niemand stehen bleiben. Die Vergewisserung der Liebe Gottes drängt zu neuen Erfahrungen „dass wir uns ebenso gegenüber unserem Nächsten finden lassen, wie es uns von Gott geschehen ist“. Dazu aber kommt es oft nicht. Deshalb klagt Luther: „Ihr wollt von Gott all sein Gut im Sakrament nehmen, aber wollt es nicht in der Liebe wieder ausgießen“.

Ein harter Vorwurf! Albert Camus hat ihn auf seine Weise erhoben. Der Himmel, den die Gauner wollten, sei das Reich der Verantwortungslosigkeit, hat er gesagt. Auf Hilfe vom Himmel hoffen, Gottes Liebe als Wärme, in der man sich geborgen fühlen kann, gern annehmen, dabei die Angst vor Versagen und eigenem Fehlverhalten vergessen dürfen, aber die Konsequenzen aus erfahrener Hilfe verweigern – das ist verantwortungslos. So handeln Gauner, die immer nur an sich denken und auf sich selbst Acht haben – auch wenn es um den Himmel geht. Religiöse Selbstgenügsamkeit erweist sich als Gaunerstück.

Gott als glühenden Backofen voller Liebe aller Welt anpreisen, aber sich in der Wärme dieses Backofens behaglich einrichten und gegen alle Anfragen abschirmen – diese pseudochristliche Haltung kann sich auf Luther jedenfalls nicht berufen. Für ihn bleibt die Nagelprobe, dass Gottes Liebe in der Nächstenliebe greifbar und Gottes Nähe in der Hinwendung zu denen, die auf Hilfe warten, erfahrbar wird.

Wir streiten um Reformen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens. Wir wissen, dass sie notwendig sind, und ahnen, dass sie schmerzhaft sein werden. Alle betonen ihre Verpflichtung für das Gemeinwohl. Was können wir in diese Diskussion von unserem Glauben her einbringen? Weniger die großen Programme und die weit reichenden Gesetze, aber vielleicht die Erinnerung an Luthers Mahnung: Wo niemand auf die Armen sieht, wo keiner dem anderen die Hand reichen will, wo die Liebe fehlt, da ist es zum Erbarmen.

Das muss tatsächlich die Grundlage einer menschenwürdigen Ordnung jeden gesellschaftlichen Zusammenlebens sein: Nächstenliebe, die die schwächsten Glieder der Gesellschaft nicht aus dem Blick verliert, und der gemeinsame Wille, sich der Menschen zu erbarmen, die aus eigener Kraft ihre hilflose Ohnmacht nicht überwinden können.

Eine Kultur der Barmherzigkeit müssen wir in allen Reformdiskussionen anmahnen. Das macht aber nur Sinn, wenn wir selbst bereit sind, in unserem persönlichen Denken und Handeln der Nächstenliebe Raum zu geben, auf die zu achten, die uns brauchen, und zu fragen, was ihnen förderlich sei.

So redet Martin Luther uns über die Zeiten hinweg direkt an, wenn er drängt: Die Nagelprobe im Leben ist die Liebe, „dass wir uns ebenso gegenüber unserm Nächsten finden lassen, wie es uns von Gott geschehen ist“. Da gilt uns dann auch sein Wunsch: „Seid Gott befohlen“.
Amen

Landessuperintendent i.R. Walter Meyer-Roscher
Adelogstr. 1, 31141 Hildesheim
Tel.: 05064/930444
meyro-hi@t-online.de

 


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