Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

März 2004
Predigt zu Luthers 7. Invokavit-Predigt / kurz nach dem Attentat in Madrid
verfaßt von Christoph Dinkel

(zum Überblick)


„Gott ist ein glühender Backofen voller Liebe“
Predigt zu Luthers 7. Invokavitpredigt vom 15. März 1522
gehalten am 14.3.2004 in Stuttgart

Liebe Gemeinde!

(1) Der Weg von einer zivilisierten Ordnung zu Chaos und Inferno ist kurz. Einige Sekunden haben genügt, um die morgendliche Geschäftigkeit in Spaniens Hauptstadt Madrid in eine Hölle aus Feuer, Blut und Entsetzen zu verwandeln. Wir sind geschockt wie damals am 11. September. Wieder sehen wir die Bilder der Opfer in ihrer schrecklichen Verstümmelung, in ihrem Schmerz und ihrem Leiden. Wir trauern mit allen, die einen Menschen verloren haben, mit all den Familien, die ihre Kinder, ihre Mütter und Väter morgens noch fröhlich verabschiedet haben und die nun in abgrundtiefes Leid gestürzt sind. „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ – haben wir gerade gesungen. Wahrlich: Abgründe der Tiefe haben sich aufgetan! Halten wir ein und denken wir an die Opfer der Attentate vom Donnerstag. Halten wir ein und beten in der Stille für alle, die ihr Leben oder ihre Gesundheit verloren haben. Beten wir für die Angehörigen und Freunde der Opfer und alle, die ihnen nahe stehen und helfen.

Stille

Liebe Gemeinde!

(2) Der Weg von zivilisierter Ordnung zu Chaos und Inferno ist kurz. Umgekehrt ist der Weg aus dem Chaos hin zu einer zivilisierten Ordnung, hin zu einem friedlichen Miteinander, hin zu einer Gesellschaft, in der Recht und Gesetz gelten und in der die Schwachen unter den Starken nicht zu leiden haben lang, sehr lang. Der Aufbau einer gerechten Gesellschaft erfordert unendliche Mühe, er benötigt Jahrzehnte und den Einsatz vieler gutwilliger Menschen. Wenn man sich klar macht, welch hehren ethischen Grundsätze schon im Alten Testament niedergelegt sind – nicht töten, nicht ehebrechen, nicht stehlen – und wie sehr gegen diese Grundsätze bis heute täglich verstoßen wird, dann merkt man, wie lange der Weg zur Zivilisation ist.

Oder schauen wir, welch großen Impulse hin zu mehr Gerechtigkeit im Neuen Testament stehen, wie sehr Jesus darauf abgehoben hat, dass die Armen und Elenden zu schützen sind, dass sie mit an den Tisch eingeladen werden und nicht ausgegrenzt werden. Denken wir daran – der Weltgebetstag hat uns daran erinnert –, wie im Urchristentum die Gleichberechtigung von Frauen propagiert und über einige Jahrzehnte auch gelebt wurde und nehmen wir dann wahr, dass die rechtliche Gleichstellung von Frauen noch zwei Jahrtausende benötigte und dass erst seit 35 Jahren Frauen in der Evangelischen Kirche Pfarrerinnen werden dürfen – dann wird unmittelbar sichtbar, dass es ein unendlich langer, anstrengender Weg zu einer gerechten, zivilisierten Gesellschaft ist und dass dieser Weg von schrecklichen Rückschlägen, von Stagnation und Borniertheit gesäumt wird, die viele zum Aufgeben und zur Verzweiflung bringen.

(3) Der Weg zu einer gerechten Gesellschaft ist unendlich weit. Der Weg zu Chaos und Willkür hingegen ist kurz. Auch die evangelische Bewegung musste in ihren Anfängen in bitterer Weise diese Erfahrung machen. Mit viel Begeisterung hatte man in Wittenberg die Lehren Martin Luthers aufgenommen. Auf einer Welle der Sympathie war Luther zum Reichstag nach Worms gereist. Er war ein Hoffnungsträger für breite Schichten und für das unter der päpstlichen Geldgier und geistlicher Knechtschaft leidende Deutschland. Allein dieser breiten Zustimmung war es zu verdanken, dass Luther den Reichstag in Worms im Jahr 1521 wieder lebend verlassen konnte. Er wurde zwar in Acht und Bann geschlagen, aber durchsetzen ließ sich das gegen so eine breite Unterstützerfront nicht.

Immerhin: aus Sorge um Luthers Leben ließ ihn sein Landesfürst Friedrich der Weise auf die Wartburg verschleppen. Als Junker Jörg war Luther dazu verurteilt zuzusehen, wie es mit der Reformation weitergeht. Fleißig wie er war, hat Luther seine Zeit genutzt, das Neue Testament ins Deutsche zu übersetzen. Doch lange hielt es Luther nicht auf der Wartburg. Aus Wittenberg erreichten ihn beunruhigende Nachrichten. Sein Fakultätskollege Karlstadt hatte sich zusammen mit einigen Zugereisten an die Spitze des Reformprozesses in Wittenberg gestellt. Und Karlstadt und seine Mitstreiter setzten auf radikale Reformen. Mit Gewalt wurde der alte Gottesdienst aufgehoben. Unter Zwang wurden die Menschen zur neuen Form der Messe getrieben. Die Ordnung der Stadt wurde umgekrempelt. Geistlicher Hochmut, Unduldsamkeit und Lieblosigkeit regierten. In wenigen Wochen drohte die reformatorische Bewegung im Chaos zu versinken. Es kam zu Bilderstürmen und Gewalttaten, alles im Namen der guten Sache. „Wittenberger Wirren“ werden die Ereignisse des Herbstes und Winters 1521/22 im Allgemeinen genannt. Im Film „Luther“, der im letzten Herbst in den Kinos lief, sind diese Wittenberger Wirren die dramatischsten Szenen des Films. Historisch ungenau aber filmisch gekonnt und sachlich begründbar sind die Wittenberger Wirren im Film dabei mit den Ereignissen des Bauernkriegs vermischt, der erst drei Jahre später ausbrach.

Im März 1522 hielt Luther es nicht länger auf der Wartburg. Allen zur Vorsicht mahnenden Ratschlägen zum Trotz ging er nach Wittenberg zurück und sorgte dafür, dass der Spuk ein Ende nahm. Vom Sonntag Invocavit an, dem ersten Sonntag der Passionszeit, hielt Luther jeden Tag eine Predigt, insgesamt acht. Diese acht Predigten gingen als „Invocavit-Predigten“ in die Geschichte ein. Sie sind Luthers berühmteste Predigten geworden. In wenigen Monaten waren sie über Flugschriften in ganz Deutschland verbreitet. Auch im Luther-Film nehmen die Invocavit-Predigten eine prominente Stellung ein. Luther schreitet dabei durch die Wittenberger Kirche und redet den Menschen eindringlich ins Gewissen. Einen Abschnitt aus der siebten der acht Invocavit-Predigten will ich Ihnen nun an Stelle des Predigttextes vorlesen. (Textfassung: Insel-Ausgabe, Bd. 1, 301-303)

„Nun haben wir von Gott lauter Liebe und Wohltat empfangen, denn Christus hat für uns seine Gerechtigkeit und alles, was er hatte eingesetzt und hingegeben, hat alle seine Güter über uns ausgeschüttet, welche niemand ermessen kann; kein Engel kann sie begreifen oder ergründen: denn Gott ist ein glühender Backofen voller Liebe, der da von der Erde bis an den Himmel reicht.

Die Liebe […] spüre ich allhier zu Wittenberg noch nicht unter euch, obwohl sie euch viel gepredigt ist, in der solltet ihr euch doch weiterhin üben. […]. Wollt ihr euch nicht in der Liebe erzeigen, dann unterlasst die anderen Dinge auch, denn St. Paulus sagt in 1. Korinther 13: Wenn ich mit Engels- und Menschenzungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich eine Glocke oder Schelle. […]

Ihr wollt von Gott all sein Gut im Sakrament nehmen, aber wollt es nicht in der Liebe wieder ausgießen. Keiner nimmt sich des anderen ernstlich an, keiner will dem andern die Hände reichen, sondern ein jeder hat auf sich selber Acht, was ihm förderlich sei, und sucht das Seine […]. Das ist zum Erbarmen. Das ist euch sehr lange gepredigt; es sind auch alle meine Bücher darauf gerichtet und davon voll, den Glauben und die Liebe zu treiben. […] Ihr versucht Gott allzu hart, meine Freunde.“

(4) Die Liebe Gottes – das ist das große Thema Martin Luthers und der Reformation: Gott ist ein liebender Gott, Gott will die Menschen nicht strafen, er will sie für sich gewinnen. Gottes Liebe müssen wir uns nicht verdienen, so wie wir uns die Anerkennung unserer Mitmenschen verdienen müssen. Gottes Liebe gilt uns vorbehaltlos. Gott ist, so sagt es Luther in seiner Predigt mit einem überwältigenden Bild: Gott ist ein glühender Backofen voller Liebe, der von der Erde bis an den Himmel reicht.

Aus der großen Fülle seiner Liebe schenkt Gott uns mehr als wir verdienen. Er schenkt uns unser Leben, er sorgt für unser Essen, indem er die Erde Nahrung hervorbringen lässt. Gott schenkt uns Menschen die Sprache und das Bewusstsein, er macht uns zu Mitgestaltern seiner Erde. Gott gibt uns den Verstand und die Fähigkeit zur Verantwortung, er hebt das menschliche Geschlecht damit aus allen Kreaturen heraus. Gott schenkt uns die Gnade, ihn zu erkennen, die Fähigkeit, sich an ihn wenden zu können und zu ihm zu beten. All das schenkt uns Gott und noch viel mehr, ganz ohne unser Zutun, völlig umsonst, einfach aus Liebe, weil Gott eben jener glühende Backofen voller Liebe ist.

(5) Die Frage Luthers an seine Zuhörer und die Frage an uns heute lautet: Was machen wir aus dieser Gabe Gottes? Erweisen wir uns dem Geschenk der Liebe Gottes als würdig oder nicht? Sind wir bereit zur Vergebung, sind wir in der Lage einander die Hand zu reichen, auch wenn es Streit gab? Denken wir an jene, denen es nicht so gut geht wie uns selbst? Sind wir bereit, den Armen zu helfen, ganz direkt oder mit einer Spende für die Vesperkirche hier in Stuttgart oder mit einer Spende für Brot für die Welt?

Wir Menschen neigen dazu, all das, was uns von Gott geschenkt ist, als selbstverständlich hinzunehmen, so als hätten wir einen Anspruch darauf. Gerade hier auf der Gänsheide, wo viele begüterte und einflussreiche Menschen wohnen, begegnet einem diese Haltung immer wieder: Ich habe einen Anspruch auf all das, was mir gehört. Ich habe einen Anspruch auf mein Vermögen, auf meine Familie, auf mein Lebensglück, auf meine Karriere, auf die Berücksichtigung meiner Interessen und auf den Einfluss, den ich habe. Aber nicht nur auf der Gänsheide begegnet einem diese Haltung. Sie ist ein Kennzeichen des modernen, individualisierten Menschen überhaupt. Kaum einer – und ich selbst natürlich auch nicht – kann sich davon freihalten. Individualität, so lehrt uns die Soziologie, äußert sich heute vor allem durch die Formulierung von Ansprüchen. „Ich fordere, also bin ich!“ – so lautet das heimliche Credo des modernen Menschen.

Glücklich wird man im Übrigen durch die Formulierung von Ansprüchen nicht. Weil alle zu viele Ansprüche stellen, nimmt die Zahl der Enttäuschungen drastisch zu. Und die Folge enttäuschter Ansprüche sind oft genug eine tiefe Traurigkeit und Depression. Individualität heißt heute: Ansprüche formulieren. Und deshalb heißt Individualität oft genug auch: Unglücklich Sein.

(6) Manchmal allerdings ist die Folge enttäuschter Ansprüche auch exzessive Gewalt. Das Schulmassaker von Erfurt wurde – nach allem was man weiß – von einem angerichtet, der seine Ansprüche an Geltung und Liebe nicht mehr mit seinen Erfahrungen in Einklang bringen konnte. Enttäuschung kann in Zerstörung und Gewalt münden. Der moderne Terrorismus ist aus Sicht der Täter ein Versuch, die Erfahrungen echter oder vermeintlicher Demütigung zu verarbeiten. Enttäuschung im Blick auf Einfluss, Macht und Liebe finden ihren explosiven Ausweg im Massenmord an anderen, deren Glück die Täter nicht länger ertragen können.

Die Bibel ist im Blick auf unsere Ansprüche von einer gnadenlosen Härte: „Was hast du, das du nicht empfangen hast?“ fragt der Apostel Paulus und er fährt fort: „Wenn du es aber empfangen hast, was rühmst du dich dann, als hättest du es nicht empfangen?“ (1. Kor. 4,7) Die biblische Tradition versucht uns immer wieder Bescheidenheit im Blick auf unsere Ansprüche zu lehren. Und Martin Luther steht in dieser Tradition, wenn er zwar auf Gottes große Liebe verweist, aber zugleich auch darauf hinweist, dass Gottes Liebe zu uns die Verpflichtung enthält, diese Liebe nicht für uns zu behalten, sondern weiterzugeben an unseren Nächsten.

Die Bibel und in gleicher Weise Martin Luther verweisen uns darauf, dass wir selbst dafür Verantwortung haben, in welcher Welt, in welchem sozialen Klima wir leben. Es liegt an uns, die von Gott empfangenen Gaben einzusetzen und weiterzugeben an unsere Nächsten. Ganz langsam, das ist die Hoffnung, wird die Liebe Gottes durch unser Tun hindurch die Welt verwandeln. Es wird dabei zu Rückschlägen kommen. Das Chaos und die Gewalt werden trotz des guten Willens und des Bemühens Vieler die Zivilisation immer wieder zu zerstören suchen.

Aber die Mächte des Chaos und der Zerstörung haben nicht das letzte Wort. Das letzte Wort ist das Wort, das auch am Anfang steht: die Liebe Gottes. Gott ist ein glühender Backofen voller Liebe, der von der Erde bis an den Himmel reicht. Gottes glühender Liebe verdanken wir unser Leben und alles, was wir können und vermögen. Lasst uns diese Liebe weitergeben, lasst uns arbeiten an einer friedlichen, zivilisierten Welt. Lasst uns nicht irrewerden an dieser Liebe durch Enttäuschung, durch Terror und Gewalt. Lasst uns viel mehr darauf vertrauen, dass Gottes Liebe das erste Wort ist und auch das letzte. Denn: Gott ist ein glühender Backofen voller Liebe, der von der Erde bis an den Himmel reicht. – Amen.

Lieder:

EG 299, 1-3, Aus tiefer Not schrei ich zu dir (vor der Predigt)

EG 325, 1+4-7, Sollt ich meinem Gott nicht singen (nach der Predigt)

PD Dr. Christoph Dinkel
Pfarrer, Privatdozent
Gänsheidestraße 29
70184 Stuttgart
christoph.dinkel@arcor.de

 

 


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